Montag, 12. Juni 2017

Der Reise-Füfzger

Mlle Blanche Coppex mit Chläusli Wyss am 1. August 1958 auf dem Zürichsee. Ein seltenes Ereignis

Fräulein Coppex war an der Winkelwiese unsere Nachbarin. Sie bewohnte auf dem gleichen Stockwerk eine kleine Zweizimmerwohnung. Wir teilten die Toilette miteinander. Später wurden ihr dort eine kleine Küche und ein Mini-Badezimmer mit WC eingebaut. Das hatte zur Folge, dass unser Badezimmer mit einer Toilettenschüssel ergänzt werden musste.
Unsere Kontakte erfolgten grösstenteils durchs geöffnete Küchenfenster beim Hauseingang. Es war die Drehscheibe der Hauskommunikation. Auf dem Fenstersims deponierte jeweils morgens um sechs Milchmann Wettstein für alle Hausparteien die mit Milch gefüllten Kessi, die Joghurts im Glas und die Butter, nachdem er die Lieferungen mit klammen Fingern in Halbhandschuhen ins Bestellbuch eingetragen hatte. Später am Morgen nahm dort unsere Katze Mutzi ihren Wachtposten ein und beobachtete Amseln, Hunde, andere Katzen und die Hausbewohner. Letztere lud sie gnädig schnurrend zum Katzengespräch ein und liess sich kraulen. Fräulein Coppex war ihre Spezialfreundin. Ich glaube, um die Katze bestand eine gewisse Rivalität zwischen uns Nachbarn. Mutzi jedenfalls liess sich, zu unserem Ärger, von Fräulein Coppex auch gerne verköstigen. Schmeckten ihr etwa unser köstliches Hirn, unser blutiges Herz und unsere nahrhaften Schweinsleberli weniger als das, was sie ihr auftischte?
So innig ihr Verhältnis zur Katze war, so demonstrativ übte sich Fräulein Coppex uns gegenüber in Diskretion. Vielleicht lag es an ihren vielen Migräneattacken, dass sie sich so wenig auf uns einlassen mochte. Vielleicht war das etwas angespannte Verhältnis aber auch ihrer Beziehung zum Hausbesitzer geschuldet, der zwei Stockwerke weiter oben residierte. Er war früher ihr Chef und sie seine Sekretärin. Meine Mutter ging jedenfalls davon aus, dass alles, was sich bei uns unten zutrug, automatisch den Weg nach oben fand. Also hielten auch wir uns mit familiären Einzelheiten etwas zurück, was mir Dreikäsehoch aber wohl nicht ganz so richtig gelingen wollte. Ich sagte ihr Fönel Coppex, daran kann ich mich noch gut erinnern, und sie hörte es gern.
Im Sommer begegneten wir uns oft auch im Garten. Dort war das Verhältnis etwas entspannter. Zuweilen ergab es sich, dass mir das Fönel Süssigkeiten zusteckte und sich nach meinem Wohlergehen in Kindergarten und Primarschule erkundigte. Und etwas vergesse ich ihr nie: Immer, wenn ich ins Kinderheim musste, weil meine Mutter beruflich auf Reisen ging, steckte sie mir zum Abschied einen Reisefüfzger zu. Dieses kleine Geldstück vermochte mein Heimweh magisch zu mildern und vermittelte mir ein gewisses Gefühl von Unabhängigkeit und Sicherheit. Schliesslich konnte ich mir damit auf der Reise ungefragt einen Schleckstengel oder ein Brötchen leisten.
Als ich mit zwanzig auszog, verlor ich den Kontakt zu Fräulein Coppex. Von da an war sie einzig noch in den Erzählungen meiner Mutter präsent, die sich zuweilen über deren Einsiedlerleben wunderte: Sie verschanze sich förmlich in ihren vier Wänden und reagiere auch nicht, wenn man sie zum Tee einlade. Es schien, als ob sie sich auf eine innere Reise begeben hätte. Vielleicht hätte ich ihr zuvor noch einen Reisefüfzger zustecken sollen.

 

© Nikolaus Wyss

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1 Kommentar:

Roger Levy, Luzern hat gesagt…

Und wer hat dir einen Reisefüfzger mitgegeben? Schliesslich hat dein KolumbienMut sogar 2 verdient.