Samstag, 22. September 2018

«Ein Tag im Leben»

Seite 31 des Magazins vom 22. September 2018

Dieser Text wurde von David Karasek für das Magazin verfasst.  
«NIKOLAUS WYSS (69) wurde 1991 von Tamedia entlassen. Das hat ihm aber nicht geschadet.
Ich halte es für eine Ironie des Schicksals, 27 Jahre nach meinem fristlosen Rauswurf aus dem "Magazin" hier meinen Namen wieder abgedruckt zu finden. Damals verantwortete  ich in diesem Blatt ein paar Jahre lang eine Kulturseite namens "Affiche". Dann wurde das "Magazin" neu auch der "Berner Zeitung" beigelegt, und dem Chefredaktor schienen meine Beiträge für sein anvisiertes Massenzielpublikum zu abgehoben, und er stellte die Kulturseite ein. Ich überlegte mir darauf, was denn noch die Essenz dieses "Magazins" sein mochte, und stellte ein kritisches Buch zusammen mit dem Titel "23 Jahre Tages-Anzeiger Magazin - Vom Nährwert einer Beilage". Darin liess ich Redaktoren der ersten Stunde zu Worte kommen, darunter in einem längeren Interview auch meine Mutter, Laure Wyss, die das "Magazin" mitbegründete. Sie äusserte sich im Buch zum Kurswechsel und meinte, sie habe immer ein Blatt für den mündigen Leser gemacht, aber nun seien die Texte zur einfachen Kost verkommen. Das Resultat meiner Aktivitäten fand in der Chefetage keinen Gefallen. Kaum lag das Buch in den Buchhandlungen, wurde ich an einem milden Frühlingsmorgen 1991 vor die Tür gestellt. Als ich das Redaktionsgebäude an der Morgartenstrasse verliess, fühlte ich neben Zorn auch einen wohligen Schauder der Erleichterung. Für mich war klar: Hiermit war meine journalistische Karriere zu Ende. Ich bekam unfreiwillig Gelegenheit, mich beruflich neu zu orientieren. Das angehäufte Pensionskassengeld, das ich mitnahm, übergab ich einem befreundeten Devisenhändler, der mir mit seinen regelmässigen Ausschüttungen Gelegenheit bot, kulturell tätig zu werden. Ich produzierte in den folgenden Jahren leichte Theaterstücke und führte den legendären Schwamendinger Opernchor. Sieben Jahre später stellte sich heraus, dass dieser sogenannte Devisenhändler nach dem Schneeballsystem arbeitete. Sein ganzes Geldvermehrungsgebilde krachte zusammen, und er musste in den Knast. Aber da war ich bereits Rektor der Luzerner Hochschule für Kunst und Design und nicht mehr angewiesen auf "Ergänzungsleistungen". 
Nach meiner Pensionierung zog ich nach Schlieren und wurde schweizweit bekannt, als ich mich für einen Flug zum Mars bewarb. Als feststand, dass ich nicht von der Partie bin, ging ich in die Lokalpolitik und liess mich als Vertreter der GLP ins dortige Parlament wählen. Die Parlamentskollegen dachten wohl, ich sei von einem anderen Planeten. Ich galt jedenfalls als Aussenseiter und verspielte jede Möglichkeit, dort je richtig Fuss zu fassen. Nach gut zwei Jahren beschloss ich, meinem Leben noch mal eine neue Richtung zu geben.
Seit Ende 2016 lebe ich jetzt in Kolumbien. Obwohl Bogotá nicht gerade ein Rentnerparadies ist - es ist dreckig, hässlich und von Armut gezeichnet -, merke ich, wie mich genau diese Existenz hier belebt. Vor kurzem erstand ich mir ein Haus, das ich zu einem Bed & Breakfast-Gasthaus ausbauen möchte. Ich bin jetzt in einer Lebensphase. in der ich gern auf mein Leben zurückblicke und es etwas ordnen möchte. Ich betreibe dafür einen Blog, wo ich Erinnerungen mit aktuellen Beobachtungen mische. Es gibt hier in Kolumbien sogar ein paar Leute, die meine auf Deutsch geschriebenen Texte auch lesen möchten und sich mit dem Google-Translator behelfen. Lustig, was dabei herauskommt. Ich erkenne jedenfalls die Geschichten, die ich aufgeschrieben habe, an den Fragen, die sie mir nach der Lektüre stellen, nicht mehr.
Die Welt ist doch noch etwas komplexer und mit mehr Missverständnissen gespickt, als wir es wahrhaben möchten. So weit eine der Erkenntnisse, die ich in meinem Leben gewonnen habe.»

Weitere Beiträge auf einen Click