Freitag, 5. Februar 2021

Der Silberlöffelspezialist


Dr. Bernhard Heitmann, 6. 2. 1942 - 25.9.2020

Eben wollte ich zu einem wohlformulierten, geistreichen Geburtstagsbrief ansetzen, denn das war das mindeste, was ich ihm jährlich schuldete. Er war ein Sprachkünstler, ein witziger Formulierkönig. Sein hohes Niveau stachelte mich an, mir mit meinen eigenen Sätzen Mühe zu geben. Ich stellte mir immer vor, er würde meine guten Wünsche nur dann anerkennend zur Kenntnis nehmen, wenn sie zumindest im Ansatz originell klängen, auch wenn mein eigenes Sprachvermögen natürlich nie an das seine herankam. Die Frage, die ich vorgängig zum geplanten Brief klären musste, war lediglich: wird er jetzt an diesem 6. Februar schon 80? Dann hätte ich auf seinen runden Geburtstag Bezug genommen. Oder begeht er erst seinen 79.? Dann hätte ich mir irgendetwas Gescheites zur Galgenfrist einfallen lassen. - So weit sollte es aber gar nicht mehr kommen. Beim Nachschauen im Netz stellte sich heraus, dass er am 25. September vergangenen Jahres im Alter von 78 Jahren verstorben ist: Dr. Bernhard Heitmann, ein deutscher Kunsthistoriker und Museumskurator.

               Ich lernte ihn auf einer kunsthistorischen Fahrt zu Bayerns Barockkirchen kennen. Das dürfte Ende der 1960er Jahre gewesen sein, als er in München noch Jurisprudenz studierte, sich die Kunst aber schon zur Herzensangelegenheit machte. Mir fiel damals auf, wie charmant und mit einer milden Anzüglichkeit er die älteren Damen in der Reisegruppe um den Finger wickeln konnte, und wie er mit einer Beredtheit sondergleichen jeden noch so kleinen, unscheinbaren, holzgeschnitzten Heiligen zu benennen, zu würdigen und mit Hintergrundwissen zu beleben wusste. So setzte sich bei mir das Bild eines brillanten jungen Mannes fest, dem nachzueifern gar keinen Sinn ergab, weil er einem unerreichbar voraus war.

            Später studierte er Kunstgeschichte und promovierte 1977 über die deutschen sogenannten Reise-Services und die Toiletten-Garnituren von 1680 bis zum Ende des Rokokos und ihre kulturgeschichtliche Bedeutung. Was Laien etwas schräg vorkommt, geriet bei seinem unerschöpflichen Wissen zu einer Lebenswelt, zu einem Kosmos, dem eine eigene Faszination inne lag. Bernhard wurde nach Studienabschluss Kurator am Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg. An jedem Silberlöffel aus dem hundertjährigen Krieg, an jeder Gabel mit eingravierten Insignien, an jedem Früchtemesser mit Porzellangriff, an jedem Meissen-Teller des Hofalchimisten Johann Böttger hafteten für ihn unerschöpfliche Geschichten, die sich um böhmische Manufakturen, russische Adelige und deutsche Handelsleute drehten, um Liebe und Intrigen, um Eheschliessungen und Mésalliancen. Ihm zuzuhören war eine Wonne, weil er seinen Erzählungen immer ein paar Sottisen beizumengen wusste, die sich entweder auf die damals herrschende Gesellschaft bezogen, sich aber zuweilen auch gegen seine aktuellen Vorgesetzten im Museum richteten, die ihm die gebührende Wertschätzung nicht entgegenzubringen vermochten. Ich glaube, alle hatten etwas Angst vor seiner spitzen Zunge.

            Damals wohnte er im Pförtnerhaus einer älteren, alleinstehenden, stinkreichen Reederstochter, die über ein sehr grosses Anwesen in Blankenese verfügte mit altem Baumbestand und im Krieg unversehrt gebliebener Bausubstanz. Diese Frau hatte an Bernhard wohl den Narren gefressen, und er liess sie insoweit gewähren, wie sie seinen Neigungen zu jungen Männern nicht in die Quere kam. Er half ihr dafür beim Ordnen des Familienschatzes, der, unter anderem, aus prächtigem Tafelsilber bestand und als Schenkung an sein Museum gedacht war. Dann verstarb sie aber und erklärte in ihrem Testament Bernhard zu ihrem Alleinerben. Somit bekamen seine seit je bürgerlich-konservativen Ansichten und sein Etepetete-Gehabe durch Vermögen einen realen Unterbau. Er jammerte, für die Erbschaftssteuer Teile des Besitztums veräussern zu müssen, zum Beispiel das Ferienanwesen in Garmisch-Partenkirchen. Er leistete sich aber von jetzt an Opernbesuche auf den teuersten Plätzen und lud dazu ältere Damen ein. Wenn er für Bankgeschäfte in Zürich abstieg, so wählte er die ersten Hotels am Ort: Baur au Lac oder Widder, was ihm bei seinem lebenslänglich bescheidenen Kuratorengehalt wohl sonst nicht möglich gewesen wäre.

            Als es Mode wurde, Schweizer Bankkonten deutschen Steuerbehörden zu melden, beging ich die Unvorsichtigkeit, ihm in einer E-Mail von meinen Erfahrungen mit der Liechtensteinischen Landesbank zu berichten. Da war er knapp daran, den Kontakt zu mir abzubrechen. Er hatte wohl zu Recht Angst, unsere Korrespondenz könnte in falsche Hände gelangen und für ihn die Eröffnung eines Verfahrens in Sachen Steuerhinterziehung nach sich ziehen. Er hauste jetzt in dieser grossen Reedersvilla, wo die Küche noch über einen Vorraum für das Anrichten der Speisen verfügte. Eine Frage, die ihn damals umtrieb, war, ob man gekochtes Wasser für einen neuerlichen Teeaufguss noch einmal aufkochen dürfe. Für ihn stand fest: nein, es brauche dazu

 frisches Wasser. Bernhard tat sich einen Hund zu und beschäftigte Olek und Elisabetta aus Polen für Garten- und Hauspflege und für die Zubereitung von Speisen wie Pierogi, Bigos und anderen Spezialitäten aus dem Osten. Mir schmeckte der Salatka Jarzynowa am besten, eine Art russischen Salats. Seine frühere Bleibe im Pförtnerhaus vermietete er jetzt an progressive Freaks und machte dabei die leidvolle Erfahrung, dass er die eingezogenen Mieter nicht mehr loswurde, was seinen Argwohn auf soziale, wenn nicht gar – in seinen Augen – sozialistische Gesetzgebungen schürte.  

            Ich fragte mich in späteren Jahren oft, was mich antrieb, ihm in bescheidener Weise die Treue zu halten, obwohl mir weder seine Ansichten noch sein Lebensstil behagten. Auch war mir sein zuweilen doch sehr ruppiger Umgang mit Menschen, die ihm nicht passten, zuwider. War es vielleicht mein Ehrgeiz, meine Empathiefähigkeit unter Beweis zu stellen? Oder war es die Spekulation, bei ihm Gehör zu finden, sollte es mir finanziell einmal schlecht gehen? – Vielleicht befand ich mich mit ihm auch in einem unausgesprochenen Wettbewerb, wer von uns beiden wohl das erfülltere, glücklichere Leben führe. Ich befand mich, wie mir schien, insofern in der Pole-Position, als ich ihn, im Gegensatz zu mir, kaum je nachhaltig glücklich erlebte, ausser in den Momenten, wo er von seinen Kunstreisen und Begegnungen mit herausragenden Gemälden berichten konnte. So kannte er die Alte Pinakothek in München auswendig, und bei Museumsbesuchen, wie dem Madrider Prado, der Wiener Albertina oder der Londoner Tate, schöpfte er Hoffnung, dass noch nicht aller Tage Abend sei. Die dort ausgestellte Kunst bestärkte ihn in der Gewissheit, dass Schönheit und Vollkommenheit immer noch ihre Bedeutung haben und dem Gesindel und Abschaum auf der Strasse etwas Erhabenes entgegensetzen. Auch Istanbul hatte es ihm angetan. Zum Glück musste er nicht mehr erleben, wie die Hagia Sofia wieder zur Moschee umfunktioniert wurde.

Sonst aber war er von rührenden Verpflichtungen getrieben, wie sie sich meiner Ansicht nach diejenigen aufbürden, die gegen ihre eigene Einsamkeit anzukämpfen haben. Er schrieb mir einmal zu Weihnachten: «Übermorgen ist eine große Beerdigung, wo ich hinmuss. Abends kommt Besuch. An beiden Weihnachtstagen besuche ich eine alte kranke Freundin im Altersheim. Sie kann nicht mehr sprechen und nicht mehr schreiben. Eine unselige Situation. Ich werde ihr vorlesen, erzählen und ihr vielleicht beim Essen helfen. Abends gehe ich dann zu einer befreundeten Familie mit Kindern. Zwischen den Jahren habe ich meinen Bruder nebst Frau und zwei meiner Freunde in die Oper eingeladen. Silvester hoffe ich allein sein zu dürfen…»

Irgendwann wuchs ihm die Villa über den Kopf, und er kaufte sich eine Wohnung mit Blick auf die Elbe. Vom anderen Ufer hörte man unentwegt Hafengeräusche, die vom Löschen und Beladen grosser Frachter herrührten. Sein Wohnzimmer war überstellt mit Stühlen aus der Biedermeierzeit. Sie stimmten mich traurig, weil niemand darauf Platz nahm. Sie standen herum wie bestellt und nicht abgeholt. Doch mein Gastzimmer war vom Feinsten, und im dazugehörigen Badezimmer hatte er für mich ein speziell teures Parfüm hingestellt.  

Eine grosse Befriedigung dürfte für ihn gewesen sein, 2016 als Cofrater in den Deutschen Orden aufgenommen worden zu sein. Dort erlebte er endlich das Umfeld, das ihn vor weiteren zivilisatorischen Anfechtungen und Zweifeln bewahrte. Die Geschichte dieser Kongregation, die bis auf die Kreuzzüge zurückgeht, verschaffte ihm endlich den Rahmen, um sich angekommen zu fühlen. Sein Wirken bestand dort unter anderem in der Förderung junger Priester. Indem er stolz auch afrikanische Novizen zu seinen Schützlingen zählte, vermochte er seinen latenten Rassismus ein bisschen zu zähmen.  

            Jetzt also kommt es nicht mehr zu meinen Geburtstagswünschen für Bernhard Heitmann. Diese Zeilen hier bieten mir immerhin Gelegenheit, mich von ihm zu verabschieden, wobei ich noch jetzt nicht weiss, ob ich mit ihm wirklich befreundet war. Doch durch die Jahrzehnte begann uns doch etwas zu verbinden, etwas, das mich jetzt reuen lässt, ihm nicht mehr zum Geburtstag gratulieren zu können. 

© Nikolaus Wyss

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Donnerstag, 4. Februar 2021

Sandras fundne mor eller noget til Röbi Kollers Happy Day

 

Sandra mit ihrem Senad (links) und Diego in unserer gefühlsschwangeren Küche

Der Titel ist Dänisch und heisst Sandras wiedergefundene Mutter oder etwas für Röbi Kollers Happy Day. Die dazugehörige Geschichte geht so. Vor gut einem Jahr suchte eine junge Frau, die vom Aussehen her als waschechte Kolumbianerin durchgegangen wäre, ein Zimmer bei uns. Sie sprach kein Wort Spanisch, wir unterhielten uns auf Englisch, und sie sagte, sie komme aus Dänemark, sei Kosmetikerin und suche jetzt ihre Mutter hier in Kolumbien. Als Bébé wurden sie und ihre Schwester von ihrer Mutter zur Adoption freigegeben. Offenbar fühlte sich diese Frau überfordert, für die beiden zu sorgen. So kam es, dass Sandra und ihre Schwester in Kopenhagen aufwuchsen bei grosszügigen Adoptiveltern, welche ihnen das Gefühl gaben, akzeptiert und willkommen zu sein. Und doch kamen mit der Zeit die Fragen, woher sie denn kommen und wer ihre leibliche Mutter ist. Sandra kündigte ihren Job und machte sich, auch im Namen ihrer Schwester, auf den Weg hierher.

            Nun ist es so, dass sich hier in diesem Kolumbien ältere Frauen gerne als Mütter ausgeben, die vor langer Zeit angeblich Kinder zur Adoption freigegeben hätten, in der Hoffnung, dadurch zu einem erwachsenen Kind zu gelangen, das sie in Zukunft unterstützen würde. Sandra boten sich im Verlaufe ihrer umfangreichen Recherche, die sie mit Hilfe ihres Übersetzers Diego vorantrieb, drei Frauen an, die, ohne mit den Wimpern zu zucken, behaupteten, Sandras Mutter zu sein. Wir im Haus fieberten alle mit und hörten uns jeden Abend an, was ihr auf ihrer Suche alles widerfahren ist. Wie konnte Sandra ohne kostspieligen DNA-Test sicherstellen, bei der richtigen Mutter zu landen? Da hatte sie eine Idee. In ihrer Geburtsurkunde sind nämlich zwei Vornamen vermerkt: Sandra Elena. Doch Elena hatte sie in ihrem Leben nie benutzt. Nur ihre wirkliche Mutter dürfte also wissen, dass Sandras zweiter Name auf Elena lautet.

            In unserer Küche versammelte sich das ganze Haus, als an diesem fraglichen Abend der Anruf einer dieser Frauen, die sich als Sandras Mutter ausgaben, erwartet wurde. Diego nahm den Anruf entgegen, und nach dem Austausch von belanglosen Freundlichkeiten fragte er die Frau, ob sie wisse, wie Sandra zum zweiten Vornamen heisse. Die Spannung stieg ins schier Unerträgliche. Diego schaltete auf Raumton, und die Frau sagte wie aus der Kanone geschossen: Elena. - In meinem kurzen Leben an der Calle 68 No. 12-07 erlebte ich noch nie einen so emotionalen Moment. Allen schoss das Augenwasser ins Gesicht, wir weinten hemmungslos und lagen uns in den Armen.

            Ein paar Tage später war bei uns eine Familienreunion angesagt. Es gab Nüsschen und Süssgetränke. Aus der Ferne beobachtete ich das Treffen, zu welchem sich eine aufgeblondete, sehr bürgerlich-mondän wirkende Frau einfand, welche sich als Sandras Mutter erwies. Weitere kolumbianische Angehörige gesellten sich dazu, doch eine von familiärer Herzlichkeit geprägte Atmosphäre wollte sich nicht einstellen. Vielmehr herrschte Spannung in der Luft. Plötzlich hörte ich die Haustür knallen. Als ich nachschaute, sass die Gesellschaft wie begossene Pudel bei Tisch, während offenbar die Mutter das Haus fluchtartig verlassen hatte. Später berichtete mir Diego, dass die Mutter offenbar die Frage, wieso sie ihre Töchter weggegeben habe, nicht ertrug.

            So, wie man bei intensiven Sonnenuntergängen unwillkürlich an Postkartenbilder denkt, so kam mir die ganze Geschichte mit Sandra wie ein Beitrag aus Röbi Kollers Fernsehsendung Happy Day vor. Dort gibt es Familienzusammenführungen zuhauf, Versöhnungen, Überraschungen, Helikopterflüge als Ausdruck der Dankbarkeit und Glückslose. Auch bei uns stellte sich im weiteren Verlauf von Sandras Aufenthalt ein Happy End ein. Offenbar konnte die Verwandtschaft die aufgebrachte Mutter besänftigen, und es kam zu neuerlichen Treffen, jetzt noch mit Sandras rasch eingeflogener Schwester, mit deren stark tätowiertem Partner und dem Stiefvater. In den folgenden Tagen wurde die ganze Verwandtschaft abgeklappert, die weit verstreut im Umkreis von Bogotá wohnt. Laut Diego wurden ausgiebig Tränen vergossen.

            Und jetzt, ein Jahr später, kam Sandra Elena zusammen mit ihrem Gatten Senad wieder vorbei. Die beiden haben vor kurzem geheiratet, und sie ist im 4. Monat schwanger. Sie wollte ihrem Mann ihre Herkunft zeigen, und ihm widerfuhr wohl, was wir alle vor einem Jahr erleben durften: Emotionen pur. 

© Nikolaus Wyss

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