Montag, 14. Dezember 2020

LESUNG: "ALEX, DIE TÜRSCHWELLE" AUS DEM BUCH "AUF DEM AMAKONG"

 

In der Serie "Bevor mir die Zähne ausfallen" ist diesmal eine weitere Lesung an der Reihe. Das Buch "Auf dem Amakong" fasst 47 Blog-Einträge zusammen, die ich in den letzten vier Jahren in Bogotá verfasst habe. Diesmal geht es um den Hund Alex, der in einem Kulturhaus in Juchitán, Oaxaca, Mexiko, die Türe zur Küche so zu versprerren pflegt, dass man über ihn hinwegsteigen muss. Den Originaltext findet übrigens man hier!

Sonntag, 6. Dezember 2020

LESUNG DER TITELGESCHICHTE DES GLEICHNAMIGEN BUCHES "AUF DEM AMAKONG"

Die beiden Ströme Amazonas und Mekong, woraus das Wort AMAKONG gebildet wurde, stellen eine Art Klammer dar um mein Erwachsenenleben. Der lebensphilosophische Text erschien zuerst als Blog und ist jetzt einer von 47 Beiträgen des Buches, dessen Reinerlös Suppenküchen in Kolumbien zugute kommen soll.
 

LESUNG: PLÖTZLICH MEINE ICH, SEPP ESTERMANN BESSER ZU VERSTEHEN

 

Da covidbedingt im Oktober 2020 auf meiner Lesetournee durch die Schweiz nicht so viele Zuhörerinnen und Zuhörer vorbeikommen wollten/konnten, lese ich hier aus meinem trauten Heim in Bogotá, Kolumbien, im Rahmen der Serie "Bevor mir die Zähne ausfallen" einen Text aus meinen Buch "Auf dem Amakong" vor. Dieses Buch besteht bekanntlich aus einer Sammlung von Blog-Einträgen, die ich zwischen 2017 und 2020 online publizierte und die jetzt als Textbuch vorliegen. 

Mehr über das Buch hinter diesem Link.

 Die Zeichnung mit den Wilden Engeln im Hintergrund übrigens stammt von Eugen Bollin, Kunstmaler, Schriftsteller und Benediktinermönch im Klostern Einsiedeln. 

Donnerstag, 3. Dezember 2020

MEIN AUFTRITT IN SCHWAMENDINGEN

 

Es war ein berührendes Erlebnis, am 28. Oktober 2020 inmitten der Corona-Krise in Schwamendingen aufzutreten und vielen Mitstreitern von früher wiederzubegegnen. Tele-Schwamendingen war auch dabei, dies hier ist der Bericht. 

Montag, 30. November 2020

Der Romanshorn-Test

Der Romanshorntest in der Pilotphase. Beobachter halten sich versteckt und verteilen Punkte. Hier Testperson Nr. 27 (Romi Wintsch) vor einer Skulpur im Romanshorner Stadtpark. (Foto: Dorothee Hess)

Dazu muss man wissen, dass ich in den späten 1980er Jahren eine Zeitschrift herausgegeben habe, die sich Dr. Bockler’s Kulturmagazin nannte. Mit durchaus gewolltem, falsch gesetztem Genitiv-s. Ein total erfolgloses Unterfangen, das es lediglich auf sieben oder acht Ausgaben brachte, ich weiss es nicht mehr so genau. In der ersten Ausgabe zum Beispiel berichtete der bekannte Zürcher Psychiater Mario Gmür von einer abenteuerlichen Flussreise auf dem Amazonas, bei welcher sein Boot zu lecken anfing. Nur mit grösster Mühe und in allerletzter Minute erreichten er und seine Schicksalsgenossen schwimmend das rettende Ufer.

Auch eine Idee fürs Heft war, über den ganzen Erdball verteilt ein Korrespondentennetz aufzuziehen, von wo Leute über ihren persönlichen Alltag berichten konnten, über ihre Hobbies, Nöte, Leidenschaften und Essgewohnheiten. Damals gab es noch kein Internet. Wir rekrutierten Berichterstatter über Goethe-Institute oder British Councils in Pakistan, Indien, in Tansania und Buenos Aires. Noch existiert irgendwo in einem Keller in Zürich ein Ordner mit dieser Korrespondenz aus aller Welt. Doch ich weiss nicht mehr, wie viele von den Kontaktierten dann auch wirklich Beiträge schrieben, die wir publizieren konnten. Das Projekt lebte wohl mehr von guten Absichten als von wirklich Realisiertem. 

Der Name Dr. Bockler’s übrigens war auch so eine Sache. Ich wohnte zu jener Zeit an der Bocklerstrasse in Zürich-Schwamendingen, und ich hielt es irgendwie für reizvoll, dieser Strasse eine fiktive Persönlichkeit zuzuordnen, nach welcher diese Strasse benannt sein soll. Ich erfand deshalb eine Figur dieses Namens, einen etwas verschrobenen, älteren Arzt, der aber zu seiner Zeit durchaus seine Verdienste hatte. Er galt nämlich als Entdecker des Alltags. Ich übertrug ihm auf seine alten Tage gleich noch die Präsidentschaft des Vereins für Hobbypsychologie. Ich selber fungierte dort als Aktuar und druckte in jeder Ausgabe von Dr. Bockler's die mir aus den Fingern gezogenen Protokolle der Vereinsversammlungen ab. – Wichtigstes Kriterium für die Mitgliedschaft war, keinen psychologischen Abschluss vorweisen zu können. So fanden abstruse Gedanken und krude Behauptungen Eingang in diese Protokolle. Die Zusammenkünfte selber hielten sich ans Muster eines Rotary-Clubs. Im Rahmen der monatlich stattfindenden Mittagessen referierte jeweils ein Mitglied über einen Casus. So kam es, dass eines Tages die Alternative zum Rorschach-Test zum Thema wurde.

Der Vorteil des Romanshorn-Tests besteht in seiner Wirtschaftlichkeit. Statt wie beim Rorschachtest im Einzelgespräch Klackstafeln zu präsentieren und zu interpretieren, fällt beim Romanshorntest diese Art von Anamnese im Sprechzimmer weg. Stattdessen gibt es Massentests. Diese verlaufen so, dass alle zu untersuchenden Personen an einem bestimmten Tag mit dem Zug nach Romanshorn reisen, ein Nummernschild ausgehändigt bekommen und versuchen, am Ort die Zeit totzuschlagen. Heutzutage könnte man die Bewegungen der einzelnen mit Handysignalen aufzeichnen, damals aber, als der Test lanciert wurde, mussten einheimische Beobachterinnen und Beobachter rekrutiert werden, welche sich die einzelnen Handlungen und Bewegungen der Testpersonen notierten.

Jeder Ort besitzt ein bestimmtes Profil, das sich in grünen Punkten ausdrücken lässt. Auch die Aufenthaltsdauer der Getesteten generiert Punkte, allerdings in einer anderen Farbe, gelb zum Beispiel. Des weiteren wird beobachtet, ob sich die Person alleine auf den Rundgang begibt oder in Begleitung anderer. Auch das gibt Punkte, diesmal rote. Es treten auch Provokateure auf, Besoffene zum Beispiel, oder eine alte Frau, die sich nicht über eine stark befahrene Strasse traut. So bekommt Romanshorn ein buntscheckiges Profil von Punkten, das sich gleichsam automatisch auf die Testpersonen abfärbt, je nachdem, wie sich diese verhält. Zum Schluss hätte man dann die neurotische Disposition eines Menschen, seine Stärken und Schwächen auch, feststellen können. Das Farbsystem birgt zudem den Vorteil, dass es bereits der Erkenntnis Rechnung trägt, dass es verschiedene Arten von Neurosen gibt: rote, blaue, violette, grüne... Wenn Dr. Bockler’s weiter existiert hätte, hätte man die Pilotphase wohl ordentlich zu einem Ende bringen und darüber in einer nächsten Sitzung des Vereins für Hobbypsychologie detailliert berichterstatten und eine Patentierung des Systems in Aussicht stellen können. Leider ist es nicht mehr dazu gekommen.  

© Nikolaus Wyss

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Sonntag, 29. November 2020

Bockler-Blues

Bild: Christian Altorfer

 

Am Samstag, 4. Juni 1994, beging unsere Genossenschaftsbuchhandlung Bücher-Treff Schwamendingen (1984-2005) an der Winterthurerstrasse 495 ihr zehnjähriges Bestehen mit einem Fest. Vor dem Lokal wurden Tische und Bänke aufgestellt. Grosse Schirme und Plachen schützten vor der heissen Sonne. Das Programm begann mit einem Literaturzmorge. Kaffee und Tee wurden ausgeschenkt. Es gab selber gemachten Zopf und Kuchen. Auf Tischen lagen haufenweise antiquarische Bücher zum Verkauf bereit.

Um 10.30 Uhr lud die Künstlerin Ingeborg Lüscher zum Bücherstechen ein, einer unterhaltsamen Art des Orakelns. Erstaunlich, wie wahrhaftig und treffsicher sich die Sätze erwiesen, die das Publikum in den zufällig ausgewählten Büchern mit einem spitzen Messer aufspiesste. Daraus entwickelten sich einige Gespräche, die sich für einzelne als ziemlich bedeutsam erweisen sollten.

Über Mittag servierten dann die Teilnehmenden des Kochkurses, den mein damaliger Freund Geok-Chai Pang aus Malaysia durchgeführt hatte, für 20 Franken Daging Curry, Sambal Prawns, Nyonya Penang Chicken Curry und andere Köstlichkeiten. Dafür musste man sich aber zwei Tage vorher angemeldet haben.

Um 14.30 Uhr schliesslich las die japanische Schriftstellerin Yoko Tawada, deren witzigen Texte Beobachtungen von den kulturellen, semiotischen und semantischen Unterschieden zwischen dem Japanischen und der deutschen Sprache handeln.

In der Nacht zuvor jedoch erklang der Bockler-Blues. Die Veranstaltung wurde als volkskundlich-schräge Mitternachts-Performance angekündigt. Im Spritzenhäuschen beim Parkplatz auf der anderen Strassenseite, dort, wo sich die Bocklerstrasse mit der Hüttenkopfstrasse kreuzt, dort, wo einmal im Jahr die Kleintierschau stattfand mit preisgekrönten Hasen, Schafen, Ziegen und Hühnern, dort drin wurde von den Nüsslis aus Hüttwilen eine Tribüne errichtet mit Blick auf die Strasse. Darauf fanden vielleicht 60 Zuschauerinnen und Zuschauer Platz. 

Bild: Christian Altorfer
Die Nachbarschaft wurde auf den Anlass wie folgt vorbereitet: «… Auch wenn wir Lärmbelästigungen möglichst vermeiden wollen und weder Chilbi-Betrieb, verstärkte Musik noch allgemeines Besäufnis angesagt sind, könnte es zwischen 23 Uhr und 0.30 Uhr doch zu kurzfristigen Lärm-Immissionen kommen, wofür wir Sie um Entschuldigung bitten. Wir raten Ihnen deshalb, in dieser Nacht zur obgenannten Zeit entweder das Fenster geschlossen zu halten, oder aber selber vorbeizukommen und an dieser, mit allerlei merkwürdigen Überraschungen gespickten Geisterstunde teilzunehmen. Der Eintritt ist frei, zur Unkostenreduzierung wird zum Schluss eine Kollekte durchgeführt…»

Bild: Christian Altorfer
Wenn ich noch wüsste, was in dieser Nacht alles abgelaufen ist. Draussen auf der Strasse stand jedenfalls ein bunt geschmücktes Bett mit Baldachin. Jemand musste dort während der ganzen Aufführung schlafen. Lediglich mit Schnarchen sollte er sich ab und zu bemerkbar machen. Zum Schlussapplaus erhob er sich und schloss das Tor zum Spritzenhäuschens. Dann gab es linkerhand eine schwere, metallene Klangwand von Valentin Altorfer mit vielen Ein- und Ausbuchtungen, an welcher sich Lucas Niggli, der mittlerweile zur ersten Garde der Schweizer Schlagzeuger-Community gehört, akkustisch abarbeitete. Zum Interview eingeladen war auch Marta Emmenegger, die damalige Sex-Päpstin beim Blick. Dann war ein kleiner Chor zugange, der Cervelats grillte und dazu sang. Es gab Tanzeinlagen und auch Gedichte der Lokallyrikerin Elsbeth Putre-Wild. Ich glaube, wir rollten auf der Strasse auch noch einen roten Teppich auf, wo Jemand während der ganzen Zeit versuchte, einen Blumenstock so zu positionieren, dass es irgendwie passte, was ihm aber während der ganzen Performance nicht gelingen wollte. Ach ja, da war auch noch Nachbarin Barbara Reinthaler, die Unterschriften für eine Wohnstrasse im Quartier sammelte, während zwei junge Frauen mit ihren Rhön-Rädern kunstvoll ihre Runden drehten. Ich selber steuerte mit irgendwelchen Kindertäschli auch noch etwas zur Performance bei. Doch frage mich bitte niemand, wie das genau ablief.

Ich glaube, niemand konnte so richtig etwas anfangen mit diesem nächtlichen Spuk, und ich hatte für die Aufführung auch keine richtige Erklärung bereit. Doch irgendwie fand der Anlass statt, es gibt sogar Fotos davon. Nach einigen Tagen Katzenjammer begann ich schon davon zu träumen, wie der Bockler-Blues ein nächstes Mal aussehen könnte. Ideen dafür hatte ich schon zur Genüge, und Lucas Niggli schickte mir eine Dankeskarte mit den Worten: «Welch toller Blues!!! S’hett niemert greut, mi hets freut!»

Bild: Christian Altorfer

Bild: Archiv Nikolaus Wyss


© Nikolaus Wyss

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Donnerstag, 26. November 2020

DAVID KARASEK IM GESPRÄCH MIT NIKOLAUS WYSS IM RAHMEN DES ZÜRCHER LITERATURFESTIVALS "ZÜRICH LIEST"

Am 23. Oktober trafen sich der Zürcher Journalist und Kolumbienkenner David Karasek und der Kolumbien-Auswanderer Nikolaus Wyss im Volkshaus Zürich zum Gespräch. Anlass war das Buch Auf dem Amakong - Ein Lesebuch gegen den Hunger, das aus einer Auswahl persönlicher Blog-Einträge besteht, die Nikolaus Wyss im Verlaufe der letzten Jahre online veröffentlichte.

Mittwoch, 25. November 2020

Die zweite Welle - Kurzbericht

Auf dem Stadtplatz Schlieren (Foto: Andreas Kriesi)
 

Um mit dem Heimweg vom 7. November 2020 zu beginnen: der Flughafen Zürich war menschenleer. Lounges und Läden fast alle geschlossen. Dies an einem Samstagnachmittag. Nach dem Einchecken blieb mir noch etwas Zeit, den Circle in Augenschein zu nehmen, das hochgelobte, milliardenschwere Zentrumsprojekt am Flughafen, das eben eröffnet worden ist. Dort bewegten sich einige Neugierige und fotografierten den goldig glitzernden Christbaum. Ob den Leuten die zugige Gasse, in welcher er stand, gefiel, weiss ich nicht. Mir kam die ganze Umgebung ungemütlich und belanglos vor. Mir schien, die kühne, ausladende Fassade flughafenseitig verspreche mehr, als was an architektonisch-gestalterischen Überraschungen dahinter eingelöst wird. Ich langweilte mich schnell. Kein Ort zum Verweilen.

Aussenfassade Circle

Weihnachtsschmuck Circle

Chlötzli-Architektur hinter der Circle-Fassade

Im Flugzeug gab es keine heissen Getränke. Die in Plastik verschweissten Snacks aus der Schachtel schmeckten so fad, als ob man selber schon covidpositiv wäre. Es lohnte kaum der Mühe, deswegen den Mundschutz abzustreifen. Dasselbe in der Business Class. Einzig das mit dem Social Distancing klappte dort vorne besser. Ein gewichtiges Argument in Zeiten von Corona.

Ich flog über Istanbul, was nicht grad am Weg liegt. Doch andere Fluggesellschaften liessen mich kurz vor dem Abflug einfach sitzen. Kolumbien steht nicht mehr auf ihrem Flugplan. Wie weit und kompliziert die Welt plötzlich geworden ist. Das Reisen erfordert wieder Flexibilität, Gelassenheit und keine fixen Termine. Und von einem verwöhnten Maul die Einsicht, dass es in der Luft immerhin noch trockene Brötchen und Nüsschen zu essen bekommt, was dort unten am Boden für viele keine Selbstverständlichkeit mehr ist.

In Sachen Hunger war ich ja unterwegs. Ich wollte mit dem Verkauf meines Buches Auf dem Amakong Geld sammeln für einen guten Zweck. Für Suppenküchen in Bogotá. Ich organisierte dazu einige Auftrittsorte in der Schweiz, um Ausschnitte daraus vorzulesen und Werbung für meine Herzensangelegenheit zu machen. Die Texte selber allerdings haben den Hunger nicht zum Thema, ausser vielleicht meinen Hunger nach Leben, Erfahrungen und Erinnerungen. Sie bestehen aus einer Auswahl meiner Blogs, die sich hier in Kolumbien über die Jahre angesammelt haben.

Im August, als ich das Vorhaben plante, sah die Sache so aus, dass in der Schweiz die erste Welle vorbei zu sein schien. Die Infektionsraten bewegten sich im unteren zweistelligen Bereich: Es machte Lust, eine solche Lesereise zu planen. In Kolumbien hingegen blieben die täglich publizierten Zahlen zu den Covid-Ansteckungen anhaltend hoch, und man musste wohl bei dieser Statistik immer noch mit ein paar hundert Fällen mehr rechnen, weil das Gesundheitswesen und die Testkapazitäten den realen Verhältnissen hier wohl kaum gerecht wurden. Da konntest du noch so viel Mundschutz tragen und an den Eingängen der Supermärkte Fieber messen lassen, Hände desinfizieren und auf der Identitätskarte nachschauen, ob die Endzahl stimmt (an den geraden Tagen wurden nur diejenigen mit ungerader Endzahl eingelassen, und an den ungeraden Tagen die anderen). In ärmeren Vierteln der Stadt wohnen Familien nun mal in sehr beengten Verhältnissen, die Beachtung der Hygieneregeln scheitert schon am Fehlen fliessenden Wassers und am Geld, sich Mundschutz und Desinfektionsmittel zu besorgen. So rangiert in der Hierarchie der Bedürfnisse das Essen verständlicherweise weiter oben als die von der Regierung verordneten Schutzmassnahmen.

Der internationale Flughafen El Dorado blieb für kommerzielle Passagierflüge während sieben Monaten gesperrt – mit Ausnahme einiger humanitärer und Fracht-Flüge. Ja, es war eine Zeitlang sogar fraglich, ob ich anfangs Oktober überhaupt ausreisen konnte. Die Planung meines Schweiz-Aufenthalts liess sich an, als ob man von einem Krisengebiet in ein gesundes, wohlgeordnetes Land reisen würde. Logisch, dass ich vor der Abreise einen Covid-Test machen musste, denn Kolumbien war auf der Pandemie-Weltkarte rot eingefärbt. Wie Brasilien, Peru, Ecuador, Indien und die USA auch.

Als ich aber anfangs Oktober in Zürich ankam, war der Spiess am sich Herumdrehen. Die Schweizer Zahlen der Covid-Neuansteckungen schossen plötzlich in die Höhe, die zweite Welle war im Anrollen. Aufgrund dieser Nachrichten wäre es meiner Ansicht nach das Gebot der Stunde gewesen, soziale Distanz zu wahren, jeglicher Art von Menschenansammlung möglichst aus dem Weg zu gehen und Mundschutz zu tragen, wie ich mir das von Kolumbien her schon gewohnt war. Doch die Sorglosigkeit der Leute in der Schweiz schien keine Grenzen zu kennen. Ich war bei meiner Ankunft fast der Einzige, der in Zürichs Strassen einen Mundschutz trug. Auf der Fahrt zu meinem Quarantänequartier wurde ich von einem Covidioten sogar angeschnautzt, was für ein Schisshas ich doch sei und nicht selbständig zu denken vermöge. Das könne einer Diktatur nur recht sein. Die Zürcherinnen und Zürcher fanden es zu diesem Zeitpunkt wohl einfach noch uncool, sich so eine Schutzmaske umzuschnallen. Die Vorstellung, damit vor allem andere zu schützen, war ihnen fremd. Dieses Verhalten passte leider zu meiner schon lange gehegten Einschätzung, dass in Zürich in übergrossem Masse Egoismus und Rücksichtslosigkeit herrschen und, daraus abgeleitet, eine grosse Portion an Ignoranz.

Ich meldete mich per Internet ordnungsgemäss bei den zuständigen Behörden an und begab mich in Quarantäne. Dort konnte ich zum ersten Mal das Buch, um das sich mein ganzes Handeln in den vergangenen Monaten drehte, anfassen, aufschlagen und durchblättern. Und dann passierte mir das, wovon alle Autoren und Lektoren ein Liedlein singen: ich stiess auf einen Druckfehler. Er sprang mir förmlich ins Auge. Ich musste schmunzeln. Die Erfahrung hatte etwas von einer Initiation. Jetzt gehörte ich plötzlich zur Gilde erfahrener Autoren. 

Foto: Andreas Kriesi
 

Mein grosszügiger Schlieremer Gastgeber, Stadtrat Andreas Kriesi, mit dem ich früher im lokalen Parlament politisierte, kümmerte sich rührend um mein leibliches Wohl. Er las mir jeden Wunsch von den Lippen und machte Grosseinkäufe in der nahen Migros inklusive Aktionspackungen von Schokoladetafeln. Während er Apfelwähen und Cakes aus dem Ofen zauberte, fühlte ich mich eher für die rezenteren Speisen zuständig und beklagte einzig die minimale Ausstattung seiner Küche an Haushaltgeräten. So schaffte er zur Erleichterung meiner Kochkünste noch eine Salatschleuder und weitere Rüstmesser an. Später steuerte ich selber noch eine kleine Bratpfanne bei.

Ich beschäftigte mich während des Eingeschlossenseins mit der Auslieferung vorbestellter Bücher. Wir trugen Excel-Listen ab, schrieben Rechnungen und stellten zufrieden fest, dass an Vorbestellungen immerhin schon über 4000 Franken zusammengekommen sind.


Als ich mich zehn Tage später wieder aus der Quarantäne schälte und auf die Strasse trat, hatte Covid-19 die Situation dramatisch verschlimmert. Jetzt war es ungewiss, ob ich meine Lesungen überhaupt noch durchführen kann. Einzelne Kantone drehten bereits den Hahnen ganz zu. Die Veranstalter berichteten mir, viele der Angemeldeten hätten in der Zwischenzeit wieder abgesagt. Ich verstand dies nur allzu gut, und ich hätte wohl gleich gehandelt, wäre ich diesmal nicht auf der anderen Seite gestanden. Ich nahm die Rückmeldungen mit Bedauern zur Kenntnis und rechnete mir schon aus, wie viele Buchverkäufe mir dadurch entgehen. Der ursprüngliche Zweck meiner Reise war ja, den Amakong unter die Leute zu bringen. Würde mir das unter den prekären Bedingungen noch halbwegs gelingen? – Von den wenigen, die sich trotz allem an eine meiner Lesung wagten, erkannte ich hinter ihrem Mundschutz nicht alle. Ich musste rätseln oder nachfragen. Eigentlich war ich sogar froh, nicht alle zu erkennen, so konnte ich mich der Vorstellung hingeben, dass nicht nur Freunde im Saal sassen, sondern mir auch unbekannte Menschen, die aus Interesse und Neugier vorbeikamen, und nicht nur, weil sie mich kannten, mich wieder einmal sehen und mir beistehen wollten, was mich natürlich auch freute. 

(Foto: Dominique Freiburghaus)

Eine neue Erfahrung für mich war auch, was Schauspieler von ihren Auftritten schon immer erzählen. Dass nämlich derselbe Text bei jedem Publikum anders wirkt und unterschiedliche Reaktionen auslöst. Fast überall las ich zum Beispiel Bogotá mon amour, fast überall auch Plötzlich meine ich, Sepp Estermann besser zu verstehen. Und jedes Mal gab es eine andere energetische Stimmung, das Publikum lachte jedes Mal an anderen Stellen, und jedes Mal fiel zum Schluss auch der Applaus unterschiedlich aus. Dabei meinte ich, überall gleich holprig vorzulesen, mit Versprechern, nervös, mit zweimal ansetzen Müssen, mit falschen Betonungen. Aber eben: was ankommt, bestimmt der Moment und nicht der Vortragende.

Der erste Auftritt am 19. Oktober war eine Online-Lehrveranstaltung, ausgerichtet von der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Der Moderator Martin Zimper, Leiter des Studienfaches Cast, lud mich als Gast in seine Lehrveranstaltung Kein Kino ein, wo nicht nur mein Buch vorgestellt werden sollte. Thema waren auch meine Videos, die ich regelmässig unter dem Titel Bevor mir die Zähne ausfallen auf Youtube veröffentliche. Dieser Programmpunkt kostete mich einige Überwindung. Ich finde meine Videos kaum der Erwähnung wert. Es mangelt ihnen grundsätzlich an technischem Können, und die Themenvielfalt ist auch nicht jedermanns Geschmack. Gleichwohl hänge ich persönlich an diesem Format und fühle mich durch die Inschrift auf dem Grabstein von Charles Bukowski darin noch bestärkt. Dort steht nämlich: Don’t try. Ich verstehe das so, dass Versuche etwas anstreben, was nie ganz erreicht wird. Wenn man aber das macht, wozu man selber nach bestem Wissen und Gewissen imstande ist, ohne nach Anderem oder Besseren zu streben, dann ist das kein Versuch, sondern so, wie es eben ist, authentisch und mit dem ganzen Vermögen des Verursachers ausgestattet.

In diese Richtung verweist auch der österreichische Dichter Ernst Jandl mit seiner Serie der heruntergekommenen Sprache (er konnte natürlich auch anders, dieser Tausendsassa). Für diese Art von Lyrik benutzt er das sprachliche Niveau von Menschen, welche der deutschen Sprache nicht ganz mächtig sind. In ihrem Unvermögen gebrauchen sie einzig den Infinitiv oder irgendeinen unangebrachten Gerundiv, und als Zeitform ist ihnen nur das Präsens geläufig. Auch das grammatische Geschlecht ist nicht so ihr Ding – und dennoch vermögen sie sich verständlich zu machen, ja, dieser Art von Sprachbeherrschung liegt auf Seiten des Zuhörers oft ein besonderer Reiz inne, und in den Gedichten Jandls verfügt sie sogar über ihre eigene Poesie. Nur: meine Zuhörerschaft an der ZHdK bestand aus Studierenden, welche die Perfektion ihres eigenen Handwerks zum Ziel haben und zum Schluss ihrer Ausbildung darin auch geprüft werden. Wehe, ihnen haut unbewusst ein Achsensprung rein, oder der Ton ist von unsauberen Hicks durchsetzt – schon warteten schlechte Noten auf den Eintrag ins Zeugnis. Wie soll ich da mit meinen Barfuss-Videos überhaupt bestehen und Wertschätzung einheimsen?

Am meisten faszinierten mich bei dieser Veranstaltung die 87 Teilnehmenden. Ich konnte bei allen einen Blick in deren eigenen Wohnraum oder ins eigene Schlafzimmer werfen. Denn ihre Kameras waren auch eingeschaltet. So beobachtete ich sie. Während ich sprach und erklärte und mich mit geistigen Ruderschlägen über Wasser zu halten versuchte, räkelten sich die einen auf dem Bett oder gossen sich einen Tee auf. Andere machten Turnübungen oder tranken ein Bier und chatteten gleichzeitig auf ihren Handys. Wieder andere erledigten, wie mir schien, dringende schriftliche Aufgaben und nahmen mich vermutlich nur als Hintergrundgeräusch wahr, als Sound, wie er aus einem ewig plätschernden Radio kommt und keine besondere Aufmerksamkeit beansprucht. Nur ein paar schauten einfach aufmerksam zu und lächelten zuweilen, wenn mir ein Witzlein gelingen wollte. 

Foto: Martin Zimper

Ich selber hatte anfangs Mühe mit dem Headset, bis ich mich entschloss, den Ton direkt über den Laptop laufen zu lassen. Damit es weniger hallte, unterlegte ich ihn auf Empfehlung der ZHdK-Assistentin mit einem Frotteetuch. Zum Schluss «klatschten» die Studierenden in dieser virtuellen Aula, indem sie im Chatraum «Danke» eingaben, was in diesem Masse noch nie vorgekommen sei, wie Zimper meinte.

Am nächsten Tag ging es nach Luzern. Über Mittag offerierte mir meine Nachfolgerin an der Hochschule Luzern, Gabriela Christen, eine Zusammenkunft mit ihren Departamentsleitungen. Um mein Gefühl, ihnen nicht die Mittagszeit gestohlen zu haben, zu mildern, durften sie während der Lesung ihre Sandwiches essen. Im darauffolgenden Gespräch mit Gabriela kamen wir auf die Herausforderungen und Unterschiede zwischen meiner Zeit und heute zu sprechen, und gerne wies ich dabei auch auf den im Buch nicht publizierten Blogeintrag Nur schwache Erinnerungen an Luzern hin. Anschliessend führte man mich noch durch den neuen Neubau, den anderen kannte ich bereits. Imposant, imposant, auch wenn man sich vielleicht etwas daran gewöhnen muss, dass die Werkstätten in den oberen Stockwerken liegen. Mir wurde aber versichert, dass alle begeistert seien.

Auf dem Dach von neuen Neubau mit Aussicht zur Rigi. Von rechts nach links: Monika Bäurle, NW, Ursula Bachman, Andreas Kriesi


Mit Gabriela Christen in der Hochschule Luzern - Design&Kunst

Der Abschied erfolgte dann etwas abrupt, weil Kollegin Gabriela telefonisch grad erfahren hatte, dass an einer Familienzusammenkunft vom vorangegangenen Sonntag ein covidpositiv getesteter Neffe anwesend gewesen sei. (Später sollte sich herausstellen, dass er keine weiteren Familienmitglieder angesteckt hat.) Am späteren Nachmittag dann traf ich mit meiner Schachtel Bücher in der Hochschul- und Zentralbibliothek Luzern ein, wo mich die sympathische Myriam Zürcher empfing. Wir hatten ein anregendes Gespräch über das Abenteuerliche unserer Leben. Später half ich ihr ein bisschen beim Einrichten des Saales. Myriam werde ich ewig dankbar sein, weil sie etwas von Zoom versteht und während meiner kleinen Schweiz-Tournee die wohl einzig technisch einwandfreie Übertragung gewährleistete. Das Publikum sass in gebührenden Abständen zueinander in gemütlichen Sesseln, einzig das Kaminfeuer fehlte noch.

Sylvia Egli von Matt führte durch den Abend, und sie liess mit ihrer Begeisterung für das Buch in mir die Gewissheit aufkeimen, vielleicht doch nicht eine so schlechte Publikation herausgebracht zu haben. Allerdings konnte sie es nicht unterlassen, zu sagen, wes Kinds ich sei, was mir als 71jährigem etwas merkwürdig vorkam. – Meine allererste Begegnung mit Sylvia vor nunmehr 33 Jahren war noch sehr anders geartet. Damals arbeitete sie als kritische Journalistin und löcherte mich gnadenlos als Repräsentanten der CH91, dieser geplanten und nie realisierten 700-Jahr-Feierlichkeiten der Eidgenossenschaft. Das war 1987, und ich schrieb auch dazu in Erinnerung an diese Zeit einen Blogeintrag, der allerdings auch nicht vorkommt im Amakong. Mittlerweile machten wir beide Karrieren, und wir kreuzten uns das eine oder andere Mal in Luzern, sie in ihrer Funktion als Direktorin des Medienausbildungszentrums (MAZ) und ich als Rektor der Kunsthochschule (HGK Luzern). Die jetzige Wiederbegegnung war von grosser Herzlichkeit getragen.

Im Publikum sass auch mein erster Chef von Luzern, Fachhochschuldirektor Heinrich Meier, mittlerweile auch pensioniert, doch immer noch mit dichtem Haar, das mir schon damals auffiel und mich rätseln liess, ob es auch wirklich echt sei. Damals hatte ich vor ihm insofern ein bisschen Angst, als er das, was ich für gut befand, meistens für nicht so gut hielt. Eine Phrase, die mir dazu in Erinnerung geblieben ist, um seinem Widerspruch den nötigen Anlauf zu verleihen, ging so: «Es kann doch nicht sein, dass…». Ich wusste mich seinen Ansichten nicht immer optimal zu erwehren, und manchmal produzierten wir einander gegenseitig unangenehme Gefühle. Von ihm adaptierte ich auch die Luzerner Wendung «lúdo», welche eine gespielte Überraschung ausdrückt: Schau da, wen haben wir denn hier… Dieser Luzerner Abend bekam in seiner Tonalität und in der Wiederbegegnung mit Heiri eine in allen Teilen versöhnliche Färbung. Er hörte mir zu, während ich damals ihm zuhören musste… Auch der anschliessende Verkauf der Bücher war, an den Umständen gemessen, ordentlich.

Am nächsten Tag ging es nach Basel. Auch hier eine kleine Veranstaltung in einem grossen Saal, durchaus covidkonform. Mein Vetter Hans-Adam Ritter, eben 80 geworden, ehrte mich mit seiner Anwesenheit und drückte das Durchschnittsalter im Raum, so schien es mir, um einige Jahre nach unten. Ich fühlte grosses Wohlwollen im Raum. Wir waren eine Schicksalsgemeinschaft gelebten Lebens. Ich hätte gar nicht vorzulesen brauchen, wir hätten uns auch so verstanden.

Schlieren am nächsten Abend verursachte mir im Vorfeld etwas Bauchweh. Erinnerungen kamen hoch an meine unglückliche Zeit im dortigen Stadtparlament. Im Vorfeld meines Auftritts erschien ein Artikel im «Limmattaler», der, zumindest vom Titel her, wieder in dasselbe Horn stiess, unter welchem ich in Schlieren von Anfang an litt: 


Ich galt stets als Exot und musste somit nicht ernst genommen werden. Und jetzt titelte diese Zeitung, vier Jahre nach meinem Wegzug, wieder, dass der Exot Wyss mit seinem Buch den Hunger in Kolumbien bekämpfen will. Dieses verräterische «will» zieht meine ernst gemeinte Absicht grad wieder ins Zweifelhafte und Lächerliche: Er will zwar, ob er aber damit Erfolg haben wird, steht auf einem anderen Blatt...  Der Abend selber hingegen scheint mir, Exot hin oder her, ein voller Erfolg gewesen zu sein. Es zeigte sich, dass ich neben den parlamentarischen Widersachern dort auch eine Menge wohlgesonnener Freunde habe. Die Wiederbegegnung mit einstigen Weggefährten war berührend. Es herrschte eine konzentrierte Stimmung, der Bücherverkauf lief rassig, ich hatte zum Schluss viele Widmungen zu schreiben. Die Gicht in meinen Gelenken machte sich schmerzhaft bemerkbar. 


Dann kam das Volkshaus Zürich, eigentlich als Höhepunkt meiner Tournee gedacht. Doch die steil ansteigenden Zahlen von Covid-Ansteckungen schreckten wohl viele potentielle Besucher ab, die sich vorab schon angemeldet hatten. Der eh schon auf fünfzig Plätze runtergestuhlte Gelbe Saal war nur knapp zur Hälfte gefüllt. Hier führte die Buchhandlung im Volkshaus das Szepter, und der Journalist und Kolumbienkenner David Karasek fungierte als Gastgeber. Wir lernten uns vor ein paar Jahren in Bogotá kennen, und seither bin ich mit ihm und seinem Partner Oliver befreundet, auch wenn die beiden mit ihren süssen Kindern mittlerweile – leider – wieder in die Schweiz zurückgekehrt sind. Ein Diskussionsthema, das mir von diesem Abend in Erinnerung geblieben ist, war der Mut. Ich widersprach David heftig, als er meine späte Auswanderung nach Kolumbien und die vielen Male, wo ich wohl aus idealistischen Gründen oder aus reiner Dummheit die im Buch geschilderten Angebote ausgeschlagen habe, als mutig darzustellen versuchte.

«Nein», antwortete ich darauf, «ich war nie mutig. Mut ist eine Zuschreibung anderer. Ich selber nahm mich nie am Wickel und redete auf mich ein, jetzt mutig zu sein, bevor ich etwas anpackte oder absagte.»

Ein weiteres Thema war das Versagen, der Misserfolg, das Scheitern. Sie kommen als Thema an verschiedenen Stellen des Buches vor, und David sprach mich darauf an. «Erfolgsgeschichten langweilen mich eher», gab ich zur Antwort, «vielleicht ist es aber auch einfach eine Alterserscheinung. Ich kann Geschehenes eh nicht ändern. Die Schilderung des Scheiterns ist eigentlich ein Triumph, weil das Schreiben als Bewältigung des Scheiterns angesehen werden kann.» - Mir sei es, sagte ich an anderer Stelle, nur wichtig, nicht larmoyant zu tönen... 

Nächste Station war Biel. Dort las ich im Haus einer kulturellen Organisation, die sich der Unterstützung von Menschen mit Migrationshintergrund verschreibt. Sie heisst Multimondo. Ich wurde von Frau Joss betreut, die im Team für Veranstaltungen zuständig ist. Sie bereitete sich auf meinen Besuch gründlich vor und las viele meiner Blogs online. So stiess sie auch auf den Text Mein afrikanisches Café, der allerdings im Buch gar nicht abgedruckt ist. Dort drin setze ich mich unter anderem mit dem Wandel der Begrifflichkeit dunkelhäutiger Menschen auseinander und benutzte zur Illustration einer Zeitepoche das Wort Neger. Die Verwendung dieses Wortes liess sie aufhorchen. Sie meldete sich bei mir und gab mir zu verstehen, dass in ihrem Haus das N-Wort nicht verwendet werden dürfe. – So gebrieft betrat ich dann das Haus, und es fiel mir nicht schwer, an diesem Abend aufs N-Wort zu verzichten. Doch der Kanton Bern zog in der Zwischenzeit die Schraube an und erlaubte, covidbedingt, keine Ansammlungen mehr von über 15 Personen. Von den 23 Anmeldungen mussten also wieder einige ausgeladen werden, und zum Schluss waren wir dann nur zu acht. Online jedoch hatten sich einige mehr zugeschaltet. In Erinnerung dieses Abends bleibt mir eine Dame, die mir zum Schluss der Veranstaltung, ohne ein Buch zu kaufen, sieben Franken in die Hand drückte. Auf der einen Seite rührte es mich, auf der anderen aber provozierte bei mir diese Handlung Fragen. War ich soeben grosszügiger Armut der Schweiz begegnet? Oder: hätte ich der Dame ein Buch schenken sollen? Oder: hatte sie gar ein Augenleiden und konnte gar keine Bücher mehr lesen?

Letzte Station auf meiner Lesetour war die grosse ehemalige AMAG-Garagehalle in Zürich-Schwamendingen.

Organisiert hatten diese Veranstaltung der Künstler Nic Hess, der am selben Ort sein Atelier betreibt, die Schwamendinger Bücherfreunde, eine meiner Gründungen vor 30 Jahren, und das Hotel Schwamendingen, eine junge, lose Gruppierung von Kultur-Aktivisten, die fürs Quartier Konzerte organisieren. In einer Email bot ich den Angemeldeten an, schon anderthalb Stunden früher vor Ort zu erscheinen für diejenigen, die sich nicht unter allzu viele Leute mischen und sich gleichwohl ein Buch erstehen wollten. Von diesem Angebot machten Etliche Gebrauch, und es kam zu vielen Wiederbegegnungen mit Weggefährten und Nachbarn von damals. Ich war überrascht, wie viele Namen ich noch kannte, und ich war auch überrascht über den grossen Zulauf. An diesem Abend nahm ich netto über 1200 Franken ein. Zum Schluss kam ein jüngerer Mann zu mir und wünschte von mir eine Widmung für die Schülerinnen und Schüler von Schwamendingen, wo er als Oberstufenlehrer wirke. Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass nicht alle Beiträge im Buch ganz stubenrein seien. Da sei auch schon mal von Sex und Schwulsein die Rede, worauf er antwortete: «Gerade gestern ist nach der Schulstunde ein Mädchen zu mir gekommen mit der Vermutung, sie sei lesbisch.» - Dieser Vorfall schien ihm die Präsenz meines Buches in der Schulbibliothek genügend zu rechtfertigen. Ebenfalls an diesem Abend begegnete ich dem begnadeten Bergsteiger und Schriftsteller Emil Zopfi, der seit einigen Jahren in Schwamendingen lebt. Er stellte fest, dass ich gar keinen Wikipedia-Eintrag habe. Als Mitautor dieser lexikalischen Eintragungen von Prominenz, Cervelatprominenz und Informationen aus allen Wissensgebieten offerierte er mir, mich mit einem Eintrag in den erlauchten Kreis der Erwähnenswerten und Unsterblichen zu hissen.

Im Verlauf meines Schweiz-Aufenthaltes begann ich unter Nachtschweiss zu leiden. Mich beschlich der Verdacht, von Corona erwischt worden zu sein. Ich reduzierte sämtliche Kontakte auf ein Minimum und sagte vorsorglich die meisten privaten Abmachungen ab. Mein Gastgeber befand jedoch, das sei bei mir reine Einbildung, und schleppte mich an einem Sonntag auf den Bürgenstock, der mir insofern ans Herz gewachsen ist, als ich erstens zu Rektoratszeiten an Sommerabenden oft dort hinauffuhr, um auf dem Felsenweg dem Gesang der Nachtigall zu lauschen. 


Dies war für mich die bekömmlichste Antistress-Therapie. Die unerschöpflich langen, virtuosen Melodien dieser kleinen Dinger vermochten meine gebeutelte Seele regelmässig wieder mit Zuversicht zu füllen. Und zweitens hat das Bürgenstock-Ressort insofern eine biografische Bedeutung für mich, als wir dort oben die Bürgenstock-Konferenz der Schweizer Fachhochschulen ins Leben riefen. Ich gehörte zu den Gründungsmitgliedern, und es existiert noch heute ein Foto, wo wir Gründungs-Rektorinnen und -Rektoren uns auf einer gewundenen Treppe im Palace, oder wie auch immer eines dieser Hotels damals heissen mochte, ablichten liessen. 


Die Ironie der Geschichte besteht jedoch darin, dass dort oben bis dato nie eine reguläre Fachhochschul-Konferenz stattfand. Wir mussten unsere Ansprüche aus finanziellen Erwägungen, aber auch wegen Fehlplanungen des Hotels und seines drohenden Konkurses nach Fürigen verlegen, das ein paar hundert Meter weiter unten liegt. So erhielten unsere Fachhochschulen das mindere Plätzchen, was für sie innerhalb der tertiären Bildungshierarchie, hinter den Universitäten, auch real zutrifft. (Später zog unter Beibehaltung des Namens die jährliche Zusammenkunft in den Schweizerhof nach Luzern, und wie ich dem Internet entnehme, tagen die FH-Verantwortlichen jetzt sogar im KKL. Das Logo, das damals ein Mitarbeiter von mir schuf, ziert aber noch heute alle Dokumente, Beschriftungen und Namenstäfelchen.)

Einen weiteren Ausflug über den Herbstnebel des Kantons Zürich unternahm ich mit Ursula Gütlin-Plüer. Sie holte mich seinerzeit in die reformierte Kirchenpflege Schlieren. Seither sind wir befreundet. Ziel war ein Ortstermin in Sternenberg. Vor 38 Jahren war sie das letzte Mal dort, für mich war dieser Ausflug das erste Mal. Uns leitete die Frage, ob dort oben vielleicht eine Ferienwohnung zu mieten wäre. Doch der Besuch zeitigte andere Resultate. 


Die Aussicht ist zwar schön, doch der Ort ist als solcher kaum erlebbar. Zu weit auseinander stehen die Häuser auf windigen Hügeln und an steilen Abhängen, und die von vielen Motorrädern befahrene Hauptstrasse verfügt über kein Trottoir. Die Kirschtorte im Sternen vermochte diese Mängel nicht ganz aufzuheben.

Und jetzt kommt noch Hans-Martin Bossert. Er gehört zu meinen engsten Freunden. Wir haben uns unser ganzes Erwachsenenleben lang begleitet, einmal aus nächster Nähe, als wir zusammen fast 20 Jahre lang im selben Haus an der Schwamendinger Bocklerstrasse lebten, und dann etwas mehr aus der Ferne, als er in Zürich in den Kreis 5 zog und ich wenig später nach Luzern. Hans-Martin ist Musiker, jetzt frisch pensioniert. Wir trafen uns während dieser zweiten Welle dreimal. Das erste Mal, als er mir in Lenzburg, wo er heute lebt, einen wunderbaren Samstagsbrunch bescherte und mich anschliessend auf einem langen Fussmarsch nach Wohlen begleitete. 


Das zweite Mal, als er meiner Lesung in Schlieren beiwohnte. Und das dritte Mal, als wir im Landesmuseumsrestaurant Spitz Wildschwein essen gingen. Dort gestand er mir seine leichte Irritation, dass er weder in meinen Blogs und erst recht nicht in der Auswahl zum Amakong-Buch Erwähnung findet. Seine Bemerkung führte zu einem befreienden Gespräch, in welchem ich ihm zu verstehen gab, dass er mir eigentlich zu wichtig sei, um ihn in einer meiner Geschichten zu verbraten. Ich lud ihn aber ein, in Korrespondenzform ein Format zu entwickeln, das für uns beide spannend werden könnte. Denn Tatsache ist, dass ich vor seinem Sprachvermögen immer grossen Respekt hatte. Ich halte ihn für den präziseren, witzigeren und begabteren Schreiber als mich. Unsere Korrespondenz wäre für mich eine grosse Herausforderung. Das soll gelten.

Was noch? – Die Schilderung weiterer Besuche und Begegnungen spare ich mir für eine andere Gelegenheit auf. Zur Stunde habe ich mit meinem Amakong für das Suppenküchenprojekt netto 10.000 Franken zusammengebracht, was ungefähr der Hälfte dessen entspricht, was ich mir vorgenommen hatte. Doch unter den gegebenen Umständen darf ich nicht klagen. Keine einzige Buchbesprechung ist bis jetzt erschienen, ich habe überdies null Werbung gemacht. Der Verkauf geht weiter, vielleicht hilft ein bisschen das Weihnachtsgeschäft, um die Restauflage noch unter die Leute zu bringen. 

 

© Nikolaus Wyss

Weitere Beiträge auf einen Click  

 

SYLIVA EGLI VON MATT IM GESPRÄCH MIT NIKOLAUS WYSS IN DER ZHB LUZERN


 Anlass dieser auf Zoom übertragenen Unterhaltung auf Schweizerdeutsch ist das soeben veröffentlichte Buch «Auf dem Amakong - Ein Lesebuch gegen den Hunger». Sie fand am 20. Oktober 2020 in der Luzerner Zentral- und Hochschulbibliothek statt.

Dienstag, 3. November 2020

LESUNG: AUF DER BETTKANTE

 

Die Serie "Bevor mir die Zähne ausfallen" stellt sich in den Dienst des eben herausgekommenen Buches "Auf dem Amakong". Diese Geschichte handelt von einer Jugenderinnerung, wo sexuelle Fantasien die gelebte Realität noch dominierten. Und aus dieser Zeit ist ein merkwürdiges Details geblieben bis auf den heutigen Tag. Das Buch mit weiteren 46 Erinnerungen, Erfahrungsberichten, Beobachtungen und Selbstgesprächen, alle schon einmal als Blog-Beiträge erschienen, ist für Fr. 30.-/Ex. plus Versandspesen bestellbar bei info@trigonis.ch oder in der Buchhandlung im Volkshaus, Stauffacherstrasse 60, 8004 Zürich.

Den Originaltext übrigens findet man hier.

Freitag, 4. September 2020

AUF DEM AMAKONG - factsheet

AUF DEM AMAKONG - Ein Lesebuch gegen den Hunger
       
           


160 Seiten. Klappenbroschur,

ISBN 978-3-033-07941-0 

NICHT MEHR IM HANDEL ERHÄLTLICH

Der Autor
Der frühere Journalist, Theaterproduzent und Rektor der Hochschule für Gestaltung und Kunst Luzern, Nikolaus Wyss, 1949, lebt seit vier Jahren in Kolumbien und betreibt in der Hauptstadt Bogotá ein bed&breakfast. Daneben schreibt er in seinem Blog Einträge über sein Leben in Lateinamerika, über Erinnerungen an die Schweiz seiner Jugend, über Reiseerlebnisse, Homosexualität und Begegnungen mit Zeitgenossen, wie zum Beispiel in einer Korrespondenz mit Roger Köppel.

Der Anlass
Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Quarantäne-Massnahmen haben sich die Lebensbedingungen in Kolumbien schlagartig verschlechtert. Ganz besonders für die ärmeren Bevölkerungsschichten wird es zunehmend eng: keine Arbeit, Verarmung, Hunger. Mit roten Tüchern vor den Fenstern signalisieren Menschen, dass sie nichts mehr zu essen haben. Die Unterstützung von Suppenküchen und die Verteilung von Esswaren durch Hilfswerke und Freiwillige sind das Gebot der Stunde.

Das Vorhaben
Der Autor hat sich entschlossen, unter dem Titel Auf dem Amakong ein Lesebuch gegen den Hunger herauszugeben, indem dessen Erlös ausgewählten Suppenküchen von Kolumbien zu Gute kommen soll. Ein erfolgreiches Crowd Funding konnte bereits die Grundkosten für die Drucklegung des Buches decken. Es beinhaltet 47 kürzere Texte aus seinem Blog, von denen die Schriftstellerin Milena Moser unter dem Titel Das unbeabsichtigte Meisterwerk in ihrem Vorwort schreibt: Seine Beobachtungen sind genau, feinfühlig, berührend, messerscharf und vernichtend. Er nimmt keine Rücksicht mehr, schon gar nicht auf sich selbst. [...] - Seine Texte sind lustvoll, frei, übermütig. [...] Er fordert uns auf seine höfliche, beinahe beiläufige Art heraus, wie er das in all diesen Texten tut, nicht laut, nicht provokativ, aber unmissverständlich

Erste Reaktionen

Vorgestern hörte ich E. laut lachen und wiederholt vor sich her sagen „De schribt denn guet!“. Wie ich - neidlos - feststellen konnte, war von Dir die Rede ob der Lektüre in Deinem Reisser. L.U. - Zug

Die Geschichten sind so geschrieben, dass sie einen nicht mehr loslassen, genau, unaufgeregt, und Nikolaus schont sich nicht. Er ist der genaue Beobachter des Alltäglichen geblieben, der er immer war. M.H. - Lausanne

Ich bedanke mich sehr herzlich, dass du dieses Buch geschrieben hast. Deine Texte berühren mich tief innen. Und erstmals habe ich Worte erhalten, um mein Gefühl zu beschreiben, warum ich nicht mehr in Zürich leben möchte. S.K. - Kriens

Dein Buch ist (s)exzellent. Ein Exemplar unterwegs nach USA. H.S. - Luzern

Ich habe trotz meines vollen Programms gleich darin lesen müssen und nahm mir das Kapitel über Köppel vor. Das hast du grossartig gemacht! I.L. – Tegna

“Auf dem Amakong“ ist ein wunderbares Buch, es hat uns auf seine träfe Art amüsiert, nachdenklich gestimmt, dich näher und näher gebracht, liebenswert und verrückt, geradeheraus und brillant. T.W. - Comano 

 «Auch wenn das Buch keine Autobiografie ist, so greift es auf schonungslos ehrliche, detailreiche und auch berührende Art jene Fragen und Gedanken auf, mit denen er sich zeitlebens auseinandergesetzt hat und sich konfrontiert sah.» Limmattaler Zeitung vom 21.10.2020

Ein schönes, kluges und berührendes Buch! Und für eine gute Sache. Danke. L.M. - Sankt Moritz

Dein Amakong-Buch ist eben eingetroffen. Ich habe gleich ein bisschen darin rumgeschmökert. Ich bin begeistert. H.M. - Düsseldorf 

Dein Buch habe ich nochmals gelesen, obwohl ich schon viele deiner Blogs kannte. ES IST EIN HIT, ICH GRATULIERE DIR. K.L. - Biel

Habe extrem Freude an deinem Buch. Ist mega zu lesen darin. R.M. – Zürich

Habe in den letzten Tagen dein Buch verschlungen – ja, regelrecht verschlungen. O.B. - Männedorf

Habe noch etwas gelesen in deinem Buch und gestaunt über die Wirkung von Papier und Druckerschwärze. Deine Texte brauchen das Papier als Gefäss und sind darin wunderbar aufgehoben. C.V. - Uttwil

In deinem Buch lese ich mit Spannung und Interesse und ein bisschen Neid über deine Weltläufigkeit und Welterfahrung. E.Z. – Zürich

Kurzweilig, berührend, tiefgründig und nostalgisch, aber auf eine abgeklärte Art. Das machte wirklich Spass zu lesen. F.C. - Zürich

Deine Texte berühren mich… So vieles spricht mir aus der Seele, was du erzählst. Bei anderen Geschichten bestaune und bewundere ich deine Abenteuerlust, deine Grosszügigkeit und Wachheit. Und du schreibst ausgezeichnet! D.H. – Seebach

Die Auswahl und die Gruppierung sind wirklich gut gelungen. Ich werde einige Exemplare Deines Buchs als Geschenk nutzen. A.S. - Dübendorf

Dein Buch ist so geschrieben, dass es einem leicht die Chance gibt, offen zu sein. Und in dieser Atmosphäre von Deinem Schwulsein zu lesen, ist schön. I.L. – Maggia

Ich bin beeindruckt von der Buntheit deines Lebens, von deiner gnadenlosen Ehrlichkeit, von der Sprachgewalt. H.H. – Olten

Du erfreust mich immer durch deine Offenheit gegenüber dem gesamten Leben. Dem, was Milena Moser in ihrem Vorwort über deine Texte schreibt, ist ohnehin nicht viel hinzuzufügen. V.A. – Oerlikon

Habe gestern Nacht dein Buch nochmal ganz gelesen, es ist so spannend und bereichernd! E.S. – Basel

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