Donnerstag, 10. November 2022

Alles falsch - Und was unsere Katze namens CUAL dazu meint (auch wenn sie weder Choupette heisst noch ein Labrador ist)

Foto: Alejandro Ardila

Qualität-Management ist das Gebot der Stunde. Doch was ist Qualität? In unserem Hochschulbetrieb in Luzern verstand man darunter zuallererst das Beherrschen und Anwenden betrieblicher Prozesse. Jede Angelegenheit, jedes Vorgehen, jeder Lösungsweg anstehender Probleme oder Entscheidungen, alles musste sein schriftlich-schematisiertes, fixiertes Plätzlein bekommen. Die Belegschaft hatte sich dieses Regelwerk in ihrem Alltag und im Interesse einer transparenten und gerechten Produktivität zu verinnerlichen. Der magische Begriff, der den Massstab setzte für die Qualität der Vorkehrungen, hiess und heisst wohl immer noch EVALUATION. Wenn alle zufrieden waren mit dem Betrieb, wenn keine rufschädigenden Zwischenfälle zu verzeichnen waren und sich keine Klagen häuften, so konnte ich mich als Rektor für eine Weile dem gesunden Schlaf hingeben. Bei Geknorze aber, bei unliebsamen Vorkommnissen, Irregularitäten und bösen Rückmeldungen galt es Überstunden zu leisten, um die zum Vorschein gekommenen Schwachstellen auszumerzen oder zumindest dem Qualitätsverantwortlichen wegen seiner Versäumnisse auf die Finger zu klopfen... 

Die bei den regelmässigen und gross angelegten Umfragen erreichte Punktzahl entschied dann über die Art des Labels, das man für diese qualitativen Anstrengungen verliehen bekam. Erfüllten wir die notwendigen Punkte, konnten wir fortan für eine Anzahl von Jahren alle Drucksachen und Homepages mit dem Label der Exzellenz schmücken. Bis der Evaluationstürk irgendwann wieder von vorne anfing. Die Erwartung war natürlich, dass wir während der Gültigkeitsdauer damit andere Institutionen ausstechen, was, so die Hoffnung, zu besseren Aufträgen, zu höherer Reputation und damit zu gescheiteren und talentierteren StudienabgängerInnen führen sollte. In unserer der Kunst und dem Design verpflichteten Hochschule bestand allerdings der immanente Konflikt darin, dass künstlerische Qualität und innovatives Design oft gerade in der Verletzung von Regeln und unter Missachtung von Prozessen entstanden. Brave Studierende reüssieren nicht, so die damals vorherrschende Meinung. Kreativität entstehe erst im Widerstand gegenüber Herkömmlichem und Autoritärem und könne deshalb prozessual kaum verordnet werden. Das brachte unsere Kunsthochschule in eine paradoxe Situation. Standen wir doch als Garantin für Kreativität und Innovation in der Pflicht, junge Menschen dazu anzustacheln, exakt das nicht zu tun, was wir von ihnen prozessual eigentlich einfordern hätten müssen. Unsere Schule empfing deshalb die Qualitätsvorgaben der vorgesetzten Stellen immer mit Argwohn und behandelte sie stets mit spitzen Fingern und im felsenfesten Glauben, dass wir eh besser sind als das, was in blöden Evaluationen zum Vorschein kommt. Die Überraschung bestand dann jeweils darin, dass man trotz grosser Vorbehalte gegenüber diesen institutionellen Vorgaben gar nicht so schlecht abschnitt wie erwartet. Lief da etwa etwas schief?   

Seit ich in Kolumbien lebe, schreibe ich ab und zu Blog-Einträge. Es ist langsam an der Zeit, mein Schreiben zu evaluieren. Denn bis dato machte ich mir über die Wirkungsweise und Verbreitung meiner Texte wenig Gedanken. Ich schrieb aus Launen heraus, aus einem inneren Bedürfnis. Es war mir angenehm, unter dieser Adresse hier einen Platz für meine Überlegungen, Erlebnisse, Erinnerungen und Beobachtungen zu haben. Und natürlich freute ich mich, wenn diese bei der einen oder anderen Person Anklang fanden und zuweilen sogar Rückmeldungen veranlassten. Als ich die ersten hundert Beiträge zusammengeschrieben hatte, das war Ende 2018, machte ich einmal eine Zusammenstellung der Clicks auf die bis dahin veröffentlichten Beiträge. Da ich insgesamt zufrieden war mit den Ergebnissen damals, liess ich weitere Hinterfragungen meiner Beiträge bleiben. 

Heute aber, vier Jahre später, fällt mir auf, dass mir seither meine Beiträge keine weiteren Kreise erschlossen haben. Clickmässig dümpeln sie vor sich hin. Sie werden zwar von treuen Leserinnen und Lesern regelmässig belobigt, aber sie erzeugen keinen weiteren Traffic. So heisst das doch, oder? Bin ich an meine Grenzen gestossen? Oder habe ich in meiner Schreibkunst nachgelassen? Oder ist die Leserschaft meiner langsam überdrüssig? - Ich machte mir also in letzter Zeit diesbezüglich Gedanken, weil das Ziel, damit dereinst jeden Tag eine Tasse Kaffee zu verdienen, in weite Ferne gerückt ist. Zuweilen wird zwar, ohne mein Dazutun, zu einzelnen Texten noch Werbung geschaltet. Das sieht dann aber wie folgt aus: Geschätzte Einnahmen heute bis jetzt 0.00 CHF, gestern 0.00 CHF, letzte 7 Tage 0.01 CHF, aktueller Monat 0.01 CHF... 

Nun, es ist natürlich ein Spiel, und ich verzichte aufgrund dieser schäbigen Einnahmen weder auf meine - alternativ finanzierte - tägliche Tasse Kaffee noch aufs Schreiben. Ich klage auch nicht. Ich stelle lediglich fest, dass Wachstum und Erfolg anders aussehen, und es veranlasste mich gestern, im Sinne des Qualitätsmanagements, eine Evaluation durchzuführen. Natürlich will ich damit meine kleine Leserschaft nicht belästigen und verzichte auf eine Umfrage. Doch ich begann mir zu überlegen, woran es an meinen Texten mangelt. Vorallem aber: wie machen das erfolgsgewöhnte Blogger, die oftmals nicht einmal den Akkusativ beherrschen, denen aber Heerscharen von Leserinnen und Lesern zufliegen und durch ihre Clicks täglich viele Liter Kaffee in deren Tassen spülen. Ganz abgesehen vom SUV vor ihren Häusern, von dem ich nicht einmal träume, und abgesehen vom Kleingeld, um sich damit den Kauf einer Wohnung in Paris und New York zu leisten? 

Ich grub mich also in die Tiefen freizügiger Ratschläge professioneller Blogger ein und verglich sie mit meinen Leistungen. Das Resultat in Kurzform: ich mache alles falsch. Was und wie ich bis anhin publiziert habe, hat schon mutwilligen Charakter, mich dem Erfolg endgültig zu verschliessen. 

Ratschlag eins: monothematisch und auf den Punkt gebracht. Ich: Mäandernd, ausufernd, gespickt mit Kraut und Rüben. (Gut, monothematisch bin ich insofern, als sich alles irgendwie um meine Person dreht. Doch das gilt hier in diesem Kontext nichts, so lange ich nicht Kardashian heisse). 

Ratschlag zwei: regelmässig posten. Ich: nach Lust und Laune (habe nicht immer etwas zu sagen).

Ratschlag drei: Keyword-Recherche, bevor man mit Schreiben beginnt, damit man mich dann findet im Netz. Ich: noch nie gemacht. Was ist das überhaupt? Was könnten denn meine Keywörter sein? Hilfe!

Ratschlag vier: Geile Titel und geile Zwischentitel. Ich: nur selten gelungen, trotz meiner journalistischen Vergangenheit. Doch das sind 30 Jahre her. Was heute einen geilen Titel ausmacht, weiss ich gar nicht.

Und so weiter. Kann ja jeder selber nachschauen, was dort alles noch steht, woran ich mich nicht halte, und was man sonst noch zu berücksichtigen hätte für die tägliche Tasse Kaffee. 

Merkwürdig genug: die gestrige Lektüre dieser Ratschläge zeitigte für mich persönlich ein unverhofftes Resultat. Sie hat mich nämlich unmittelbar befreit von der Zwangsvorstellung, eigentlich erfolgreicher sein zu müssen und es nur aus lauter Dummheit nicht zu sein. Denn die Freiheit meiner Gedanken und die Eigenwilligkeit ihres Ausdrucks halte ich eigentlich für wichtiger als die Chance, mir damit eine Tasse Kaffee leisten zu können. Ja, ich fühle mich umso reicher, je weniger ich mich einem erfolgsversprechenden Diktat unterzuordnen habe. Ratschläge und Evaluationen sind gut zur Klärung eigener Werte, die ich privilegierterweise pflegen darf, weil ich von meiner Pension leben darf und zum schieren Überleben nicht auf Blog-Einnahmen angewiesen bin. Im Gegensatz zur überwältigenden Mehrheit der Menschen hier in diesem Lande, die sich für wenige Pesos für alles Mögliche verdrehen müssen. Was für ein Luxusleben ich doch führe! 

Luxus aber führt zuweilen zu Übermut. Der besteht heute bei mir darin, für einmal doch einen Ratschlag aus dem Netz auszuprobieren. Ein Experte, der dort verschiedene Blogs hostet, inspirierte mich dazu. Er berichtet nämlich, er hätte als Experiment eine Zeitlang einen Blog bespielt, der sich ausschliesslich um seinen Labrador gedreht habe. Und dieser Labrador sei in Kürze sehr populär geworden und hätte Tausende von Followers angezogen und viele tausend Tassen Kaffee generiert. Die meisten, so er, suchten sowieso nur Rat im Netz und nicht so etwas, was ich zu bieten habe. Jeder hingegen, der einen Labrador besitze oder sich überlege, sich ein solches Tier zuzutun, will doch etwas über diese Rasse, deren Gewohnheiten und Eigenheiten wissen. Und deshalb werde auf alles und jedes geklickt, was unter diesem Namen läuft. 

Leider haben wir keinen Labrador im Haus und können deshalb die Erfolgswelle dieses Blog-Spezialisten nicht beerben. Wie wär's denn mit unserer Katze? Klar, sie kommt an Karl Lagerfelds Choupette nicht ran. Sie ist weder eine blauäugige französische Birma-Katze noch modelt sie für Opel. Unsere Katze ist vielmehr eine Strassenmischung aus Buenaventura, ein Waisentier, dort vor vier Jahren winzigklein verlassen und halb verhungert am Wegrand aufgefunden, aufgelesen und auf einer langen Busfahrt nach Bogotá versetzt, wo sie jetzt mit ihren Launen, mit ihrem Hunger und ihrer Aufsässigkeit unser Haus dominiert. Die Gesellschaft eines Kamerädchens hatte sie fauchend abgelehnt. Charakteristisch für sie ist ihr liebenswürdiges Wesen, das sich aber in Sekundenbruchteilen, also ohne Vorwarnung, zu einem bissigen Monster verwandeln kann. Unerklärlich, geheimnisvoll, beängstigend. Sie heisst CUAL, und ich fragte sie vorhin, ob sie eventuell bereit wäre, ab und zu mit einem Kommentar meine Blog-Einträge zu bereichern, natürlich in der Hoffnung, damit neue Kreise zu erschliessen. Ihre Antwort war typisch: nur wenn sie Frischfleisch bekomme und nicht weiter diese verstaubten Trockensnacks. Also ging ich um die Ecke zu unserem Metzger Koller, einem Appenzeller, der vor 39 Jahren hierher eingewandert ist und wohl die besten Schüblinge und Longanizas in ganz Lateinamerika herstellt, und kaufte ihr 100g Hackfleisch vom Rind. Ready?

CUAL: Was bezweckst du mit diesem Text hier?

Das sage ich ja. Ich überlege mir, wie ich meine Texte qualitativ verbessern und so einem grösseren Publikum zugänglich machen kann.

Du bringst etwas durcheinander, du alter Sack. Du benützest das falsche Instrument. Statt Qualitätsmanagement musst du besseres Marketing machen. Das ist alles. Es liegt nicht an deinen Texten, es liegt an mangelndem und unprofessionellem Marketing. Lass deine Texte ruhig so, wie sie sind.

Du hast ja keinen gelesen. Was veranlasst dich zu deinem Rat?

Dieses verdammte Trockenfutter. Da steht auf der Verpackung alles Mögliche drauf. Es sei gut gegen meinen Haarausfall, gut für die Verdauung, das beste Produkt auf dem Markt. Und dementsprechend teuer ist es auch. Und du Schwachkopf kaufst diesen Ramsch und meinst, mir damit noch einen Gefallen zu tun. Doch schau mich an. Ich belege ganze Möbelstücke mit meinem Haar, und Magenkrämpfe begleiten mich jeden zweiten Tag. Ich sah dich noch nie begeistert, wenn du mein Gekotze aus dem Teppich wegkratzen musst. Was sagt dir das? Gutes Marketing! Keine Qualität!

Echt jetzt?

Mit mir kommst du auf mehr Clicks. Das kann ich dir vorweg schon sagen. Du wirst mit deinen Texten in meinem Schatten stehen.

Du meinst, Qualität und Marketing-Gedöns gehen nicht zusammen?

Hallo, ich bin auch Qualität, nicht nur eine Marketing-Tussi. Du musst mit deinen Texten dafür sorgen, dass ich für viele Sympathieträgerin werde. Ich habe darin ja schon Erfahrung. Alle, die zu uns ins Haus kommen, finden mich süss und wollen mich streicheln. Ja, Besucherinnen vergessen beim Streicheln meines Felles sogar ihre Katzenhaar-Allergie. 

Du schlägst also vor, dass ich zu deinem Texter werde? 

Ich werde die Hauptperson sein und du der Stichwortgeber. Das war schon bei Choupette der Fall. Der Unterschied zu Choupette ist lediglich, dass du nicht Karl Lagerfeld heisst. Das ist ein Handycap. Und ohne ihn komme ich auch nicht zu den Grossaufträgen, welche dir genug Kaffee in die Tasse spülen würden.

Dann bleibt also alles doch beim alten und deine Präsenz nützt mir gar nichts?

Ich sage dir nur eins: ohne mich wirst du auf deinen vorliegenden Text hier lediglich ein paar mitleidige Rückmeldungen bekommen von Leserinnen und Lesern, die dich trösten wollen, weil du in einem Beachtungsloch steckst. Doch damit gewinnst du weder einen Blumentopf noch eine grössere Leserschaft.

Kluges Tier.

Mit mir hingegen gibst du dir immerhin die Chance, deinen engen Leserkreis zu durchbrechen, sagen wir, mit 1000 Clicks mehr pro Publikation.

Dafür lohnt sich der Aufwand aber nicht. Da bleib ich lieber bei meinem angestammten Stil. Ohne dich.

Halt, Halt. 10'000 Clicks mehr?

Tönt schon ein bisschen besser. 

Machen wir es doch so: Pro 10'000 Clicks kriege ich 1kg Rindfleisch. Deal?

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© Nikolaus Wyss

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 Ich freue mich immer über Kommentare und Grüsse. Danke. Hier noch: Weitere Beiträge auf einen Click

        

Donnerstag, 20. Oktober 2022

Das Fröilein und das Herrlein


Danika, mit Künstlernamen LOMAASBELLO, mit mir beim Brunch  
    

 

Auf diesem Bild sieht man uns im Restaurant Roca an der Cra.7#68. Anstelle von Namen sind die Strassen hier in Bogotá bloss mit Zahlen versehen. Diejenigen, die von Ost nach West verlaufen, sind durchnummerierte Calles, diejenigen von Nord nach Süd heissen Carreras und sind ebenfalls durchnummeriert. So lokalisiert man einen Ort. Eigentlich gleich wie in Manhattan, wo sie streets und avenues heissen. Das Roca befindet sich an der Ecke der Carrera sieben, der Septima also, mit der 68. Strasse. - Es gibt aber auch Ausnahmen in dieser Strassenanordnung. Zum Beispiel bei Diagonalen. Oder wenn grosse Überbauungen oder Parks das System stören. Oder wenn ein Hügel umfahren werden muss und so eine Richtungsänderung gebietet. Das verwirrt zuweilen selbst erfahrene Taxifahrer.

Geübte Leserinnen und Leser ahnen es schon. Ich will darauf hinaus, dass selbst bei einem gut und logisch angedachten Schema nicht immer alles so ist, wie man es erwarten möchte. Manchmal weichen auch Lebenskonzepte von der Norm ab und verwirren. Danika in der obigen Fotografie zum Beispiel, mit welcher ich seit über sechs Jahren zusammenlebe, hat mich an Weihnachten des vergangenen Jahres mit dem Entschluss konfrontiert, von jetzt an eine Transperson zu sein. Anstelle ihres Namens Johan Danilo will sie von nun an Joan Danika genannt werden.

Mir fällt die Umstellung schwer. Dabei vergesse ich leicht, dass es für sie vermutlich ebenso schwer war, sich zu diesem Entschluss durchzuringen. Mich aber stört, dass sie sich jetzt einer Gruppe zugehörig fühlt, mit der ich, ehrlich gesagt, wenig anzufangen weiss. Fühlte sie sich schon früher als Transperson, ohne dass ich mir dessen gewahr gewesen bin und ohne dass sie es mich spüren liess? Jetzt hingegen korrigiert sie mich ständig, wenn ich sie aus Unachtsamkeit noch als männlichen Johan anspreche. Ja, sie wird sauer. Dabei war sie für mich ihrem Wesen nach schon immer exotisch, auch als junger Mann. Von Anfang an. Das war für mich sogar der Reiz: nicht einer bestimmten Gruppe verpflichtet. Eine seltene Art von Unabhängigkeit. Als identifizierbare Transperson hingegen geht der Reiz dieser flirrenden Einzigartigkeit verloren. 

Als ich Danika vor nunmehr sechs Jahren in Cali kennenlernte, lag sie mit einer Tuberkulose im Spital und nannte sich noch Johan Danilo. Schläuche saugten gurgelnd Flüssigkeit aus seinen Rippen. Am Bettrand sass die übernächtigte Mutter. Seit 14 Tagen kümmerte sie sich schon um das Wohl ihres Sohnes und sorgte mit Selbstgekochtem für sein leibliches Wohl. Die Nächte verbrachte sie neben ihm auf der viel zu schmalen Couch, während im Vorraum Neffe Alex auf einem abgewetzten Sofa fläzte und verschwand, als ich auftauchte.

Ich weiss nicht mehr, worüber wir uns unterhielten. Mein erster Eindruck vom damaligen Johan war einfach der eines interessanten Menschen, spindeldürr und hochgeschossen, intelligent, kommunikativ und stolz. Es gab für ihn keine Zweifel, dass er sich von seiner schweren Krankheit erholen würde. Das imponierte mir. Das, was sie auch heute noch auszeichnet, hatte er damals schon: Charisma. Das führte dazu, dass ich ihn von Anbeginn für eine spannende und aussergewöhnliche Person hielt. Ich meinte, mit Johan jemanden wichtigen kennengelernt zu haben, auch wenn ich mich zu jenem Zeitpunkt ausserstande gefühlt hätte zu bezeichnen, was an ihm besonders wichtig gewesen wäre. Er gab mir einfach das Gefühl, es lohne sich, ihn zu kennen. So kam es zu einer zweiten Begegnung 14 Tage später. Ich offerierte der Mutter, für ihn Nachtwache zu schieben und im Spitalzimmer mit dieser schäbigen Couch Vorlieb zu nehmen. Immerhin sparte ich mir damit eine Hotelnacht. Mir taten allerdings Rücken und Glieder schon bei der Vorstellung weh, darauf eine ganze Nacht verbringen zu müssen.

Auch vom zweiten Treffen habe ich keine präzise Erinnerung. Worüber haben wir gesprochen? Doch das Erlebnis des ersten Males wiederholte sich, an seiner Seite nämlich interessante Stunden zu verbringen. Als am darauffolgenden Morgen seine Mutter, erschöpft vom Treppensteigen in den 6. Stock, eintraf (sie betritt aus Prinzip und Angst keine Fahrstühle), bedankte ich mich bei ihr für die Zeit, die ich hier an der Seite ihres Sohnes verbringen durfte.

Ich trug mich zu jener Zeit mit dem Gedanken, meinen Lebensabend in Kolumbien zu verbringen. Ich wollte aus verschiedenen Gründen meiner Lebensgeschichte noch ein neues Kapitel zufügen. Das in kürzester Zeit hergestellte Vertrauensverhältnis zwischen Johan und mir gab der Realisierung dieser Idee mächtig Vorschub. Seine Signale waren deutlich, und mir schien, sie könnten nicht das Schlechteste sein, was mir in jenem Augenblick widerfuhr. War da Verliebtheit im Spiel? – Ich weiss es nicht. Sicher nicht so, wie man dies jungen Menschen zuschreibt. Ich glaube, gerade der riesige Altersunterschied zwischen ihm und mir erlaubte uns, diese sich anbahnende Verbindung relativ vernünftig anzugehen, als Zweckbündnis sozusagen. Ich hielt mich eher für seinen Grossonkel mit etwas inzestuösen Anwandlungen, wobei sich diese für uns beide als der unbefriedigendste Teil unserer Beziehung erwiesen und bald schon wieder eingestellt wurden. Was mich hingegen überzeugte, war der Umstand, dass er schon einen Job als Modedesigner hatte und wusste, dass man hart arbeiten muss, um es zu etwas zu bringen.

So ergab es sich, dass er mir nach seiner Genesung half, hier in Bogotá eine Bleibe zu finden, und es war irgendwie selbstverständlich, dass er bei dieser Gelegenheit gerade bei mir einzog. Seither sind wir eine Art Paar. Wir hängen aneinander, auch wenn ich anfangs Mühe bekundete, auf der Strasse an seiner Seite zu wandeln, weil er in Gehabe und Kleidung schon sehr auffällig war und immer wieder verwunderte und neugierige Blicke auf sich zu ziehen wusste. Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als er aufgebracht heimkam und berichtete, wie ihn auf offener Strasse ein Macho angerempelt und ihm Schlötterlinge nachgeworfen habe, weil dieser es offenbar nicht ertrug, dass sich Johan nicht so aufführte, wie man das von einem "normalen" jungen Mann erwarten würde. Johan war eine Marica, eine Schwuchtel also. Doch mein Held liess offenbar diese Anpöbelung nicht auf sich sitzen, löste den Gurt von seiner Hose und schlug diesen widerlichen Macho windelweich. Die ganze Nachbarschaft sei zusammengelaufen und war zunächst der Ansicht, Johan sei der Übeltäter. Eine ältere Dame aber hatte den ganzen Vorfall beobachtet und hielt überzeugend dagegen, dass der Typ Johan in Schwierigkeiten bringen wollte. Das Gute an diesem Vorfall war meine Erkenntnis, dass sich diese Schwuchtel offensichtlich gut zu wehren weiss. 

Laut seinen eigenen Erzählungen waren seine dominante Stimme, seine Schlagfertigkeit und seine Wehrhaftigkeit, aber auch seine klaglose Entgegennahme von Schlägen der Mutter (die ihn aber nie von weiteren Streichen abhielten), charakteristische Merkmale von ihm. Er wuchs in einem vaterlosen Haushalt auf, seine Verwandtschaft verteilte sich in der ganzen Nachbarschaft. Alle nannten ihn Piti. Dieser Name scheint mir zutreffend und hört sich keck an. Danika erzählte mir einmal, dass er als Neunjähriger von einem Losverkäufer am Strassenrand aufgefordert worden sei, ihm unanständige Wörter ins Ohr zu flüstern. Piti kam diesem Ansinnen mit seinem schon damals unerschöpflichen Wortschatz (auch an anstössigen Ausdrücken) gerne nach, allerdings verlangte er pro Wort ein paar Pesos...  

Doch so schadlos schien Danikas Jugend als Johan dann doch nicht verlaufen zu sein. Sein Milieu in der Hafenstadt Buenaventura am Pazifik war geprägt von Homophobie. Seine Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, Halbbrüder und Halbschwester störten sich an seinem nicht ganz männlichen Gehabe und äusserten früh schon den Verdacht, er könnte schwul sein. Das war nicht als Hänselei gemeint, sondern als Drohung. Sein weibisches Getue und sein Interesse an Puppen und Kleidern stellten offenbar die Rechtschaffenheit und Gottesfürchtigkeit seines Familienclans infrage. Was, wenn wegen seiner sündhaften Neigung die ganze Sippschaft zur Hölle fahren muss? - Das durfte nicht sein. Eine der Massnahmen bestand darin, Piti von da weg Danilo zu rufen, so wie er, zusammen mit seinem zweiten Vornamen Johan, auf dem Zivilstandsamt auch registriert war. Die Familie entschied sich aber für Danilo, weil der Name am Schluss noch ein maskulines O aufwies, was vielleicht doch noch etwas viriler klang als Johan, der leicht ins weibliche Joan zu kippen drohte mit all den amerikanischen Filmschauspielerinnen, die so hiessen: Joan Collins, Joan Fontaine, Joan Crawford und so fort. Mit Danilo hingegen sollte die als notwendig empfundene Geschlechtsangleichung erfolgreich vollbracht worden sein.  - Doch weit gefehlt. Auch als Danilo liess er zum Entsetzen der Verwandtschaft die Marica erkennen. Es musste also gröberes Geschütz aufgefahren werden. Diesem Vorhaben kam entgegen, als Danilo während der Pubertät in auffälliger Weise Brüste wuchsen. Der Familienrat befand darauf, diese entfernen zu lassen, und sammelte Geld für einen operativen Eingriff. 

Es scheint, als ob sich diese damalige körperliche Verletzung als Trauma erst heute so richtig manifestiert, jetzt mit 32 Jahren. Denn zum Bekenntnis, eine Transperson zu sein, trat noch der dringende Wunsch hinzu, sich operativ Brüste einsetzen zu lassen, um den voradoleszenten Zustand wieder herzustellen. Dass Danika schon ein halbes Jahr zuvor heimlich mit der Einnahme von Hormonen begann, vervollständigte das bekenntnisreiche Weihnachtspaket 2021.

Ich gestehe, dass meine erste Reaktion schroff ausfiel. Ich nahm es persönlich, als Danika meinte, sie möchte endlich glücklich werden. Konnte es sein, dass sie die vergangenen Jahre an meiner Seite unglücklich war? Ich antwortete ruppig: "Ich habe noch keine Transperson kennengelernt, die ihrer implantierten Brüste wegen glücklicher geworden wäre. Im Gegenteil. Das angestrebte Gefühl wird sich auch mit Vorbau nicht einstellen. Entweder wird das Verlangen wachsen, noch mehr an sich herumzuschnipseln, oder sich auf halbem Weg einzugestehen, dass sich das Empfinden, nirgends so richtig dazuzugehören, eher noch verstärkt hat." 

Während Danikas Bekenntnis aber einem fait acompli gleichkam, sah ich mich gezwungen, meine Gefühle dazu erst einmal neu zu überdenken. Es zeigte sich, dass ich als alter Mann, der meinte, sein Menschenbild sei durch langjährige Erfahrung gefestigt und sinnvoll angeordnet, meine mehrfach geäusserten, dezidierten Ansichten zu diesen Themen einer Prüfung unterziehen musste. Nicht, dass ich nicht gewusst hätte, dass die geschlechtliche Orientierung der Menschen eine komplexere Angelegenheit darstellt als die simple Aufteilung in Mann und Frau und deren gegenseitige Anziehung, wie das die Bibel lehrt. Schliesslich gehöre ich selbst zu einer Minorität, die für sich in Anspruch nimmt, den Begriff der Normalität in geschlechtlicher Hinsicht zu erweitern. Ich hielt aber das weitergehende Aufdröseln individueller Neigungen weder für dringend noch für opportun. Ja, meine Vorurteile gipfelten in lustvoller Überheblichkeit. Transmenschen, denen ich begegnete, hielt ich in ihrem Gehabe und in ihrer Kleiderwahl grossmehrheitlich für dumm und lächerlich. Die minutiöse Splittung in non-binär, trans und in weitere Verästelungen spezifischer Gefühlslagen, kurz LGBTQIA+, interessierten mich nicht eigentlich. Ich hielt sie für Erschwernisse auf dem Weg zur gesellschaftlichen Anerkennung von Homosexualität. 

Gerade dieser Tage, als bei der Übergabe des Deutschen Buchpreises der/die diesjährige Transgender-PreisträgerIn Kim de l'Horizon bei der Verdankung seinen/ihren Kopf kahlrasierte (um sich einerseits mit den gegen die Kopftuch-Tragpflicht kämpfenden Frauen im Iran zu verbünden und andrerseits zu betonen, dass nichts so ist, wie man meint, es sei), bekam ich eine WhatsApp-Nachricht eines guten, alten, heterosexuellen Freundes aus der Schweiz, der diesen Akt mit Kopfschütteln verfolgt hat und mich fragte, was ich denn zu all diesem Gendergetue denke. Ich schrieb ihm, etwas flapsig und nicht sehr wohlüberlegt, wie bei WhatsApp-Nachrichten üblich, vorhin zurück:  

Wenn ich jeweils nicht mehr so richtig weiter weiss, so halte ich mich gern an Pierre Bourdieu und an seine Theorie der "distincion", das heisst: an meine Interpretation davon und deren Erweiterung. Das Bedürfnis, sich von anderen abzugrenzen, ist fast gleich gross wie das Bedürfnis, sich genau damit einer bestimmten Gruppe zugehörig zu fühlen. Bei Bourdieu geht es vor allem um Ästhetisches und um Besitz, um die Präsenz bzw. Absenz eines Gemäldes mit röhrendem Hirsch im Wohnzimmer zum Beispiel... also um den Geschmack als Merkmal sozialer (Klassen-)Zugehörigkeit und -Abgrenzung. Doch ich denke, anstelle des Geschmacks können auch Empfindungen treten, partikuläre Neigungen und prekäre Gefühlslagen. 

Wir sind immer mehr Menschen auf dieser Erde, und es wird für den einzelnen immer schwieriger, sich als Individuum zu begreifen und dem Gefühl der Vermassung und der Nichtbeachtung zu entkommen. Eine individuelle Strategie dagegen könnte die Kultivierung einer Eigenschaft, einer Neigung oder eines Merkmals sein, um sich damit abzuheben von den anderen, um sich zu unterscheiden, vielleicht noch mit der zusätzlichen Hoffnung, damit sogar einen Trend auszulösen oder zumindest daran teilzuhaben und sich damit als individueller, einmaliger und besonders zu fühlen. Ein gewichtiger Teil des Trans-Hype dieser Tage gründet meines Erachtens seinen Erfolg in der Sehnsucht, etwas anderes zu sein als die überwältigende Mehrheit der Menschen, den Normalos. Näher bei sich selbst und dadurch individuell erkennbarer. So ein Hype umfasst also vermutlich nicht nur diejenigen, die tatsächlich unter ihrem angeborenen Geschlecht leiden, er erfasst auch viele, die der Masse des Normalen entfliehen möchten, um etwas Spezielleres zu sein.

Diesem Hype kommt die wissenschaftliche Erkenntnis entgegen, dass in jedem Menschen viele Gene wirken, die ein diffuseres Geschlechtsbild zeichnen, als es die öffentliche Meinung postuliert. Das heisst, die meisten Menschen tragen, in unterschiedlichem Grad, auch Gene des anderen Geschlechts in sich und haben darum in unterschiedlichen Massen auch Neigungen beziehungsweise Bedürfnisse, welche dem anderen Geschlecht zugeschrieben werden. Bewusst oder unbewusst. Im Normalfall stören diese Ausweitungen ein normales Sexualleben nicht und verlangen nicht nach grundsätzlicher Überprüfung der Geschlechtszugehörigkeit. Wenn man diese Erkenntnis aber zulässt und erst noch ausweitet, dass es nicht nur um sexuelle Empfindungen geht sondern auch um die Frage, ob man im richtigen oder falschen Körper lebt, so gäbe es nicht nur keine reine Hetero- oder Homosexualität mehr, es wären an ihren Stellen, rein hypothetisch, Millionen von Varianten geschlechtlicher Ausformungen und Identitäten möglich, ob das jetzt rein physisch oder rein psychisch ist oder in Kombination... Trans-Menschen betonen ja sehr, dass es vor allem auch um eine mentale Disposition geht und nicht so sehr um eine körperliche. Weiter weiss ich auch nicht. 

Ich weiss nicht, ob diese Aussagen bereits meinen Lernprozess, der durch Danikas Bekenntnis ausgelöst wurde, widerspiegeln. Für meinen Geschmack entbehren sie beim Wiederlesen nicht eines gewissen überheblichen Spottes, den ich in der Zwischenzeit offenbar noch nicht ganz ablegen konnte. Vielleicht sind sie aber auch eine unnötige Konzession an meinen heterosexuellen Adressaten in der Schweiz. Auch betonte ich zu wenig das Leiden derjenigen, die sich aus purer Not als Transmenschen verstehen und nicht aus strategischen Gründen. Doch doch, die gibt es schon. Und es gibt hier in Kolumbien auch Hilfsorganisationen, wie zum Beispiel "Colombia diversa", die sich darum kümmern, dass diese Menschen in diesem unsäglichen Macho-Land nicht unter die Räder kommen. Während der Durchschnitt der Lebenserwartung hier bei 74 Jahren liegt, können Trans-Menschen hier im Durchschnitt mit nicht mehr als 35 Jahren rechnen. Sie leben gefährlich und sind oft Opfer von Gewalt, Verbrechen und Drogen. 

Wie dem auch sei: Im Januar dieses Jahres reservierte ich einige Abende auf unserem roten Sofa, um mir auf Netflix die zwei ersten Staffeln von Pose zu Gemüte zu führen, einer Serie aus der New Yorker Subkultur, wo vornehmlich Trans-Gruppen an sonntäglichen Tanz- und Kostüm-Wettbewerben teilnehmen. Mit all den dazugehörigen Intrigen, Geschwätzigkeit, Kümmernissen und Triumphen. Und mit der Zeit stellte sich ein, was ich nicht für möglich gehalten hätte. Die Figuren der Serie begannen mir sympathisch zu werden. Ihre Empfindlichkeiten und Befindlichkeiten, ihre Schlachten auf dem Tanzparkett, ihre pseudofamiliären Strukturen, denen jeweils immer eine mother vorstand, liessen mich allmählich verstehen, wie diese Art von Subkultur tickt und worauf es ihnen ankam. Vor allem aber: im Grunde durchlebten sie Sehnsüchte und Gewohnheiten, die mir aus meinem eigenen Leben durchaus vertraut sind. Die Serie half mir bei der Anhebung meiner zuvor niedrigen Motivation, Johan jetzt Danika zu rufen. 

Bei ihrer eigenhändigen Umtaufung war für mich immerhin der Umstand hilfreich, dass Danika ja unter ihrem Künstlernamen Lomaasbello mit ihren Videos schon seit längerem auf dem Feld der Geschlechterverwirrung respektable Arbeit leistet. Im Anhang habe ich dazu einige ihrer Werke aufgelistet.

Hilfreich war zudem, dass ich in meiner Zeit als Rektor der Luzerner Kunsthochschule immer wieder das Mantra sang, dass zur veritablen, kreativen und leidenschaftlichen Kunstausübung das Anbohren des innersten Kerns seines Selbst gehöre. Dort sitze die eigentliche Energie. - Offenbar war bei Johan noch eine störende Schicht vorhanden, die abgetragen werden musste, um zur Danika zu gelangen, die fortan Energiequelle ihres künstlerischen Wirkens sein soll. Ich bin gespannt auf weitere Werke von ihr. - Nur sind eben nicht alle Transen KünstlerInnen, und ihre Gefühlslage wirkt sich in einem Bürojob wohl delikater aus als auf einer Bühne oder in einem Video.

Bleiben die Brüste Danikas, die jetzt unbedingt implantiert werden sollen. Verleihen ihr diese einen weiteren Schub zum eigentlichen Selbst? Das Nichtbeantwortenkönnen dieser Frage lässt mich alt aussehen. Ich sehe mich mit meinen Vorbehalten in eine konservative Ecke gedrängt. Oder ist diese Ecke gar der eigentliche Kern meines eigenen Selbst? - Wichtiger jedoch als die Ergründung meines eigenen Innersten scheint mir allerdings das Bekenntnis, dass Danika und ich, bei allen Differenzen und halsbrecherischen Theorien, die sich hier manifestieren, zusammenbleiben wollen, was immer noch kommt. Darauf vorbereitet bin ich heute besser als noch anfangs dieses Jahres.

© Nikolaus Wyss     

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Und hier, wie versprochen, noch ein paar Video-Links:

VIVAS - Wurde eben als 1. Preis beim Kurzfilmfestival von Bogotá vorgeschlagen und handelt von Trans-Menschen, die sich nicht unterkriegen lassen wollen. Kernsatz: "tu normalidad nos cuesta la vida" (deine Normalität kostet uns das Leben)

RICO - Der simple Inhalt heisst: Du vögelst gut. Wurde in unserer Wohnstube gedreht mit mehreren Kilo Sand auf dem Fussboden und Green Screen an den Wänden. Der Spiegel hängt noch, und am Tisch essen wir immer noch regelmässig.

PENSANDOTE - Sehnsucht nach einem vermissten Geliebten. 

SHUT UP - Dieses Video entstand kurz vor Ausbruch der Covid-Pandemie grösstenteils auf unserer Dachterrasse. Kernaussage: "Ich bin nicht so geboren, ich habe mich erfunden".  --------- Davon gibt es von mir unter dem Titel FELLINI AUF DEM HAUSDACH  auch eine Art von Making Off.

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LoMaasBello übrigens hat kürzlich ihre eigene Homepage aufgemöbelt. Hier ist sie unterlegt.

Und hier noch die Fortsetzungen der Geschichte:  

Die Brüste sind drin

Ein Tag im Leben von Danika / Lomaasbello

In diesem Kontext vielleicht auch interessant zu lesen dieser Beitrag: Wenn das Schaumbad kalt wird (über mein eigenes Coming-out)

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Ich freue mich immer über Kommentare und Grüsse. Danke. Hier noch die thematisch gegliederte Liste weiterer Blog-Einträge auf einen Click. 


Samstag, 8. Oktober 2022

Brief an meinen ungeborenen Bruder

Lieber Karlsohn oder Emilsohn, was weiss ich

    Karl war längere Zeit der Geliebte meiner Mutter, und Emil hiess mein Vater, vielleicht auch deiner, was weiss ich. Oder wärst du ein Mädchen geworden? Mein Schwesterherz? Was weiss ich... Ich weiss lediglich, dass unsere Mutter dich abgetrieben hat.

    Es gab in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts eine Welle von selbstbewussten Frauen, welche das Thema an die Öffentlichkeit trugen. Meine Mutter war auch darunter und bekannte sich in einer grossen Zeitungsannonce, zusammen mit tausend anderen Frauen, zu ihrer Tat. Das Inserat bekam ich nie zu Gesicht. Doch anlässlich einer späteren Begegnung sah unsere Mutter in der Meinung, ich hätte von dieser Veröffentlichung erfahren, den richtigen Zeitpunkt für gekommen, mich auch noch persönlich von deinem kurzen Leben in ihrem Bauch in Kenntnis zu setzen und allfällige Fragen zu beantworten. Daraus hätte sich bestimmt ein lohnendes Gespräch entwickeln können. Doch ich sah mich in diesem Moment ausserstande, darauf in adäquater Weise einzugehen. Ich hätte überrascht und neugierig sein und alles über dich erfahren müssen. Diese Neugier aber wurde gestört vom lächerlichen Umstand, dass ich ihre Mitteilung für unpassend hielt, weil sie meines Erachtens dreissig oder vierzig Jahre zu spät gemacht wurde. Meine Mutter ging zu diesem Zeitpunkt auf die 80 zu, und ich war nicht darauf vorbereitet, so ein Bekenntnis, das sie so lange und so cool bei sich aufbewahren konnte, als tiefgreifendes Erlebnis in ihrem eigenen Leben zu begreifen und zu würdigen. Das tut mir heute leid für sie wie auch für dich. Ändern kann ich es nicht mehr. Vielleicht bist du ihr drüben schon einmal begegnet, und ihr konntet eure Standpunkte - hoffentlich friedlich - austauschen, was weiss ich. Ich meine einzig zu wissen, dass du auf seltsame Weise bei mir immer wieder präsent gewesen bist, auch zu Zeiten, wo ich noch gar nicht von deiner allzu kurzen Existenz wusste.

    Überdeutlich zum ersten Mal, als ich als Dreikäsehoch dem Christkind einen Zettel schrieb mit dem Wunsch, ein kleines Brüderlein zu bekommen. Meine Mutter half mir beim Texten, und gemeinsam legten wir das Stück Papier, mit einem Stein beschwert, abends auf das Fenstersims. Am nächsten Morgen war der Zettel weg, und bei mir wuchs die Hoffnung, das Christkind würde meinen Wunsch erfüllen. An Weihnachten jedoch lag unter dem Christbaum lediglich ein Teddybär.

     Zum zweiten Mal warst du mir präsent im Skilager auf Trübsee. Ich war da vermutlich in der 5. Primarklasse und musste in Reih und Glied warten, bis ich an einem der paar Kaltwasser-Spülbecken meine Zähne putzen und mit dem Waschlappen übers Gesicht fahren konnte. Das Warten machte mir aber nichts aus, denn vor mir stand ein Junge, der mir ausserordentlich gut gefiel. Ich erschrak über meine Empfindungen, gleichzeitig fühlte ich mich diesem Buben aber so nah und verbunden, dass ich meine Gefühle für ihn als brüderliche Nähe deutete.

    Dieses Erlebnis wurde zu einem Grundmuster in meinen Neigungen zu jungen Männern. Ich war wohl auf der Suche nach dir, mein Lieber. So legte ich mir das wenigstens zurecht. Und es hält an bis heute. 

Wieso ich dir aber ausgerechnet heute schreibe, hat mit der Verleihung des diesjährigen Nobelpreises für Literatur zu tun. Ich habe zwar von der Preisträgerin Annie Ernaux nichts gelesen, aber bei der Würdigung ihres literarischen Schaffens erwähnte ein begeisterter Literaturkritiker im Radio das Buch L'Autre Fille aus dem Jahr 2011, worin die Schriftstellerin einen Brief an ihre Schwester schreibt, die als sechsjähriges Kind, zwei Jahre vor der Geburt der Autorin, gestorben war. Offenbar hatte die Familie einen Mantel des Schweigens über deren Tod gelegt, und Ernaux hat erst viel später von der Existenz der verstorbenen Ginette, so ihr Name, erfahren, was sie dann anregte, zu ihr eine persönlich-literarische Verbindung herzustellen, um ihr nicht nur vieles geschwisterlich anzuvertrauen, sondern ihr auch ein ehrendes Denkmal zu setzen.

    Ich glaube zwar nicht, dass es zwischen uns so weit kommen wird. Aber der Gedanke, dass zu mir eigentlich ein Bruder (oder doch eine Schwester?) gehört, macht mich glücklich und rückt mich in die Nähe familiärer Normalität, deren Ausbleiben ich damals, in jungen Jahren, so schmerzlich empfand. Ich wuchs, du weisst es, als Einzelkind bei unserer Mutter auf, der Vater war in unserem Alltag kaum präsent. Im Kindergarten bei Fräulein Werling und später im Wolfbach-Schulhaus wurde ich oft nach meinem Vater und meinen Geschwistern gefragt und hatte darauf keine passende Antwort. Ich beneidete meine Schulkameraden aus kinderreichen Familien, den Rolf Stoffner zum Beispiel von der Froschaugasse, und konnte nicht verstehen, dass Rolf wiederum mich beneidete, weil ich die Spielzeuge mit niemandem teilen musste. - Wie wäre das bei uns gewesen, Karl-Emil? Ich als älteres Geschwister hätte vermutlich stets nachgeben und dir die Spielsachen überlassen müssen. Und hätte mich dann eifersüchtig an den Rockzipfel unserer Mutter gehängt und weinend mein Schicksal beklagt. Diese Situation halte ich noch heute für zehnmal attraktiver als das Alleinsein mit all seinen angeblichen Privilegien. Ich hätte mit dem Akzeptieren solcher Situationen zusätzlich noch soziale Kompetenz gelernt. Du hast mir gefehlt.

    Ja, du wurdest umgebracht. Das ist schon so. Noch bevor du hättest leben können. Du warst ein Opfer der Umstände, die ich auch nicht so genau kenne. Wenn dein Vater auch mein Vater war, dann sicher auch wegen der Unverträglichkeit unserer Eltern. Unsere Mutter wollte sich wohl nicht noch mehr Lärm, wie Vater ihn zu veranstalten pflegte, aufhalsen. Warst du hingegen Karls Fötus, so hätten wohl auch noch gesellschaftliche Faktoren eine Rolle gespielt. Karl war verheiratet, hatte selbst zwei Kinder und eine schweizweit bekannte Frau. Er hätte unsere Mutter wohl wissen lassen, dass er nicht bereit wäre, dich anzuerkennen. Damals konnten Männer noch bestimmen, ob sie sich zu ihrer Brut bekennen wollten oder nicht. Das war bei meinem Vater (oder dem unsrigen) auch so. Ich war als uneheliches Kind nicht erbberechtigt und trug den Familiennamen meiner Mutter, welche wiederum auf den Ämtern als "Fräulein Wyss" angesprochen wurde.

    Ich glaube, unsere Mutter sah sich damals wohl als Opfer und körperlich wie seelisch überfordert, noch ein weiteres Kind aufzuziehen, was ihren Scharfsinn zur Situation der Frauen in unserem Land sicher schärfte, der sich dann später in ihrem feministisch-journalistischen und schriftstellerischen Wirken fruchtbar niederschlug. Doch davon hast du nichts. Was du hingegen allen, die jetzt noch leben auf diesem Planeten, voraus hast, ist dein Tod. Du weisst, wie es drüben aussieht, während wir hier immer noch darüber rätseln. Klar, wir gehen unwissend unseren Weg, bis es so weit ist. Wir machen uns unsere Gedanken über Verstorbene und über den eigenen Tod, und wenn es gut kommt, so stellt sich sogar eine gewisse Befriedigung und Dankbarkeit ein über das, was wir verleben durften. Das fehlt dir. Du kannst dich lediglich für die Wärme im Uterus unserer Mutter bedanken, hast vielleicht von aussen auch noch Stimmen vernommen oder Mutters vielgeliebten Mozart. Tröstet dich das, oder hast du das Gefühl, unsere Mutter sei dir noch etwas schuldig?

    Ich sage dir, und vielleicht kannst du es von weitem beobachten, unsere Welt hat auch schon bessere Tage gesehen. In meinem Umkreis lebte ich meine 73 Jahre in der falschen Gewissheit, dass wir Menschen anstehende Probleme auf anständige und friedliche Art lösen können, ohne eindeutige Opfer und ohne eindeutige Sieger. In Balance sozusagen. Du hingegen musstest die Erfahrung machen, dass unsere Mutter deine Präsenz nicht auf die Reihe kriegte und dich, als Konsequenz davon, abtrieb. Du wirst für ewig dich als eindeutiges Opfer sehen und kaum Verständnis dafür finden, dass sich meine Mutter auch in einer beklemmenden Situation befinden mochte und Entscheidungen treffen musste, über die sie später offenbar jahrzehntelang schwieg, weil sie sie so heftig schmerzten. Deine traumatische Sterbenserfahrung hingegen lässt dich anders auf die Weltgemeinschaft blicken, die momentan in existentielle Krisen hineinschlittert. Du hast den Zusammenbruch, das Nicht-mehr-Können früh erfahren und musstest mit deinem Leben büssen. Ich hingegen, ohne von deinem Schicksal zu wissen, wog mich im Glauben ans Gute im Menschen, an die Liebe, an die Machbarkeit und an die Lösung von Konflikten, an Vergebung, Reue, Zuversicht und Vernunft. In mir taucht erst jetzt allmählich die Ahnung auf, dass wir kurz davor sein könnten, in globo von dieser Welt abgetrieben zu werden.

    Ohne dass ich von dir wusste, hast du mir in der Gestalt verschiedener Liebhaber und treuer Freunde immer wieder das Gefühl vermittelt, das Leben sei schön und lebenswert. Dafür danke ich dir. Deine feinstoffliche Präsenz ermöglichte mir Glücksgefühle, Erfahrungen und auch Enttäuschungen, die mich, unter dem Strich, immer ein Stück weitergebracht haben. Aber solange ich selbst bin, bist du mir immer etwas voraus. Soll ich mich freuen, mich bei dir dereinst einzufinden. Was rätst du mir? Was ist noch zu tun, bevor ich komme?

    Ich warte gerne noch ein bisschen auf deine Antwort.   

Alles Liebe

dein Bruder Nikolaus

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©Nikolaus Wyss

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Dienstag, 4. Oktober 2022

Un po' di spaghetti alla bolognese

Lina Rossi in der Küche von Mutters Wohnung an der Winkelwiese 6
Ich kann ziemlich genau sagen, wieviele Male im Jahr mir Lina Rossi in den Sinn kommt: ein- bis zweimal. Nämlich immer dann, wenn ich ein Bolognese-Ragù zubereite. Sowas koche ich nur, wenn ich das Hackfleisch für ein Chili con carne oder für einen Braten nicht ganz aufgebraucht habe. Dann gibt es eben eine Bolognese, was nicht mehr als ein- bis zweimal im Jahr vorkommt.

Frau Rossi aus dem Friaul war die Haushaltshilfe meiner Mutter im fortgeschrittenen Alter. Sie kam einmal pro Woche an die Winkelwiese in Zürich und hielt nicht nur die Wohnung sauber, sie kochte auch das Mittagessen, und zwar in grösserer Menge, damit meine Mutter das Übriggebliebene später einfach aufwärmen konnte. 

Es kam vor, dass ich Frau Rossi antraf, wenn ich meine Mutter besuchen ging. Oft köchelte dann auf dem Herd gerade eine Bolognese-Sauce vor sich hin und verströmte ihren appetitanregenden Geruch in der ganzen Wohnung. Eine Stunde lang. Besser zwei. Bis alles sämig war. Frau Rossi erklärte immer wieder gern aufs Neue, worauf es dabei ankam: bei sehr kleinem Feuer lange kochen. Den Deckel einen Spalt breit offenlassen, im Laufe der Zeit mit Wasser etwas nachgiessen, damit die Sauce flüssig bleibt und nicht anbrennt. Weitere Schlüsselwörter von ihr waren jeweils "un po": un po' di olio d'oliva, un po' di passata di pomodoro, un po' d'aglio und so weiter. Und zum Schluss: un po' di burro. Ich wartete jeweils noch auf den Hinweis "un po' di vino rosso", der allerdings stets mit einiger Verzögerung vorgebracht wurde, denn Alkohol war in ihrer Familie ein leidiges Thema. Ihr Mann war ihm allzufest zugetan, so dass der Gutsch Wein in der Sauce einer kleinen Sünde gleichkam.  

Meine Mutter konnte es gut mit Frau Rossi. Sie besuchte ihre Familie manchmal in Seebach draussen und wurde dabei wie eine Königin empfangen. Herr Rossi zeigte sich stets von der besten Seite und liess seinen lateinischen Charme spielen, und die halbwüchsigen Kinder zogen sich extra schön an, wenn sie zu Besuch kam. Die Tochter Francesca konnte anpacken und war ehrgeizig. Die Schulen schaffte sie mit Bravour. Die zwei Söhne hingegen, deren Namen mir entfallen sind, waren eher von sanfter Natur und wirkten schüchtern und fragil. Doch wenn es bei meiner Mutter in der Wohnung etwas zu reparieren oder anzustreichen galt, waren sie immer zur Stelle. Ja, meine Mutter stattete einmal sogar einen Besuch bei der Familie Rossi im Friaul ab.  Daraus entstand ein Text, der glaub ich in ihrem Lesebuch "Das blaue Kleid" publiziert wurde. Da ich aber schon fast aus Prinzip die Bücher meiner Mutter nie las, kann ich das nicht genau belegen. 

Mir schien, dass sich die beiden Frauen in bestimmten sprachlichen Dingen im Laufe der Zeit annäherten. Aus dem Mund meiner Mutter meinte ich immer öfters Diminutive zu hören, wenn es um Quantitäten ging. Sie antwortete zum Beispiel auf die Frage, ob sie noch etwas Wein möchte, mit "nur ganz weneli" (nur ganz wenig). Oder wenn sie sich zum Mittagsschlaf hinlegte, so ruhte sie sich "nur es bitzeli" (nur ein bisschen) aus. Sie wurde öfters "e chli" (ein wenig) müde, und wenn es ihr zu viel wurde, dann bezeichnete sie es "es Spürli zvill" (eine Spur zuviel). 

Was der einen die Sauce war, waren der anderen ihre Empfindungen. Wobei ich glaube, dass ihre Gefühle um ein Vielfaches stärker waren, doch sie wurden in Rossi'scher Art gefiltert und auf ein undramatisches Niveau eingekocht. Dies war umso erstaunlicher, als meine Mutter gleichzeitig gewisse Dinge, die ich für nicht so besonders schlimm hielt, mit Worten wie "grauenhaft", "entsetzlich" oder "wahnsinnig" bezeichnen konnte. Auch diese hemmungslosen Urteile schienen mir bei ihr im Verlaufe des Alterns inflationär. Ein Auseinanderdriften also von einer von Bescheidenheit getriebenen Sanftmut und übertriebener Erschrockenheit.

Frau Rossi habe ich aus den Augen verloren. Ist sie ins Friaul zurückgekehrt? Was ist aus ihren Kindern geworden? Wobei: diese Fragen interessieren mich eigentlich nur "es bitzeli", nicht so, dass ich sie jetzt wirklich beantwortet haben möchte. Die Erinnerungen genügen mir vollauf mit der jährlichen Würdigung ihres Wirkens beim Kochen meiner Bolognese-Sauce.

©Nikolaus Wyss  

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Montag, 19. September 2022

Die Bussfahrt



Tatort: Panaderia Pola in Guaduas, Cundinamarca, Kolumbien
     Nach über dreistündiger, anstrengender Berg- und Talfahrt, wo uns einmal ein entgegenkommender Bus bei seinem Überholmanöver bedrohlich nahe kam, wo uns Kolonnen von schweren Lastern das Fahren im Schneckentempo aufzwangen, und wo jede Kurve als Abenteuer abgebucht werden kann, hatte ich als Fahrer das dringende Bedürfnis, auf unserer Fahrt nach La Dorada in Guaduas einen Zwischenhalt einzulegen. 

    Kennt man dieses Guaduas nur von der staubigen Durchgangsstrasse her, so würde ich es als einen der hässlichsten, ungemütlichsten und lärmigsten Orte von ganz Kolumbien bezeichnen. Erst später hat mir das Internet vor Augen geführt, dass sich hinter dieser unwirtlichen Hauptstrasse dem Touristen ein historisches Bijou auftun würde, ein hübsches Städtchen mit viel Geschichte. Das wussten wir damals aber nicht. Uns ging es nur um eine erholsame Erfrischung. Wir kehrten in der Panaderia Pola ein,  zufällig, und ich wunderte mich noch, wie eine Bäckerei zu so einem Namen kommt, denn eine Pola bedeutet in Kolumbien eine Dose Bier. Auch hier löste später das Internet das Rätsel: Policarpa Salavarrieta Ríos, genannt la Pola, wurde hier am 26. Januar 1795 geboren und prägte sich während der Unabhängigkeitskämpfe als tapfere Spionin ins Geschichtsbewusstsein Kolumbiens ein. Sie büsste übrigens ihren Einsatz mit dem Leben. Sie wurde in Bogotá am 14. November 1817 von den Spaniern exekutiert.
    Wir aber tranken dort bloss unseren Kaffee, assen ein Biscuit und kauften uns für unterwegs noch eine Flasche Wasser. Es war klar, dass hier für uns kein Ort zum Verweilen ist. Wir benützten noch schnell die Gelegenheit für den Besuch der Toilette, und schon befanden wir uns auf der Weiterfahrt.    Wir aber tranken dort bloss unseren Kaffee, assen ein Biscuit und kauften uns für unterwegs noch eine Flasche Wasser. Es war klar, dass hier für uns kein Ort zum Verweilen ist. Wir benützten noch schnell die Gelegenheit für den Besuch der Toilette, und schon befanden wir uns auf der Weiterfahrt.
    Wir waren schon fast eine weitere Stunde unterwegs, da stellte Reisegefährte Pino die Frage, wieviel er mir für die Konsumation in Guaduas noch schulde. Und ich: Hast nicht du bezahlt? - So kamen wir unverhofft zum unangenehmen Schluss, in die Geschichte Guaduas wohl als Zechpreller einzugehen - wenn wir nicht  unverzüglich zurückkehren würden. Letzteres verwarfen wir aber, denn diese Aktion schien uns dann angesichts des recht geringen Betrags doch etwas zu aufwändig. Gleichwohl beschäftigten uns, als besonders korrekte Schweizer, diese Schulden noch einige Male, verpackten sie zwar in ein Witzchen hier und ein Spässlein da, aber sie blieben irgendwie hängen. 
    Nun ergab es sich, ein gutes Jahr nach diesem Vorfall, dass mich der Weg, allerdings mit anderer Begleitung, wieder durch Guaduas führte, und ich nahm mir bei dieser Gelegenheit vor, die Schulden von damals zu begleichen. Wenn ich allerdings im Vorfeld von meiner Absicht erzählte, belächelte man mich mitleidig. Niemand hielt es für angebracht oder gar für notwendig, auf unsere damalige Unterlassung zurückzukommen. 
    Ich aber machte es mir zur Aufgabe, in Guaduas einen Zwischenstopp einzulegen, um unsere Unterlassung von damals wieder gutzumachen. Ich stieg aus und erkundigte mich im Pola nach der Geschäftsleitung. Die Serviertochter antwortete, heute sei Sonntag, sie und ihre Service-Kolleginnen seien heute allein im Lokal zugange, das übrigens zu dieser Stunde voll mit Leuten war. Es schien, als ob Leidi Maria, so hiess sie, auf mein Anliegen nicht gerade gewartet hätte. Hier einen Café con leche, dort einen Tinto, da hinten ein paar trockene Süssigkeiten und einen Orangensaft, und ein paar Gazeosas an einem weiteren Tisch, bitteschön. Gleichwohl versuchte ich ihr im Gedränge zu erklären, was vor einem Jahr vorgefallen war. Sie meinte darauf: so zeigen Sie mir doch bitte die Rechnung von damals. Ich sagte, wir hätten gar keine Rechnung erhalten, weil wir es ja unterliessen, danach zu fragen. Beide seien der Meinung gewesen, der andere hätte die Rechnung bezahlt, während man selber auf der Toilette weilte... 
    Ich glaube, sie hielt mich für verrückt oder zumindest für sehr seltsam. Als ich ihr einen Geldschein, dessen Wert weit über unsere Schulden hinausging, überreichte und sagte, das Geld gehöre nicht ihr  persönlich sondern der Kasse, verstummte sie ganz und liess mich stehen. Ich folgte ihr und wiederholte: das sei kein Trinkgeld und schon gar keine Spende, sie solle diese 50.000 Pesos vielmehr der Kassiererin überreichen und erklären, dass ich gekommen sei, die Schulden von damals gutzumachen. Und der Restbetrag decke unser schlechtes Gewissen. Ihr unverständiger Blick wird mich noch eine Zeitlang verfolgen, so, wie mich früher diese Schulden verfolgten. Hatte ich freudige Dankbarkeit erwartet?
    Ich verzog mich und kehrte etwas ratlos zum Auto zurück. Statt Erleichterung machte sich jetzt Befremden breit. Über mich. Über die Situation - ein Gefühl, vor welchem ich gottseidank jahrzehntelang verschont geblieben bin. Doch jetzt war es plötzlich wieder da.
Ich war mir in diesem Moment so etwas von peinlich und kam mir nur noch kautzig vor. Unsere Schulden von damals spielten hier nach einem Jahr doch keine Rolle mehr. Und ich stellte Leidi Maria vor ein Problem, womit sie nichts anzufangen wusste. Wie soll dieses Geld bloss verbucht werden? - Jetzt, noch bevor ich wieder ins Auto einstieg, stellte sich der Wunsch ein, die Serviertochter würde das Geld für sich selbst behalten und es als unverhofftes Geschenk betrachten. Und noch mehr wünschte ich mir in diesem Moment, sie wären uns vor einem Jahr hinterhergerannt und hätten uns als Zechpreller beschimpft, als wir Anstalten machten, das Lokal zu verlassen ohne zu bezahlen. Das hätte das System wieder in Ordnung gebracht. Aber so...   

[Dieser Text ist dem Direktionspräsidenten der FHNW, Prof. Dr. Crispino Bergamaschi, freundschaftlich zugeeignet, der während seines Sabbaticals im Herbst 2021 drei Monate in unserem Haus in Bogotá, Kolumbien, verbracht hat, dabei fleissig Spanisch lernte und online erfolgreich einen Programmierkurs in Künstlicher Intelligenz absolvierte. Man frage mich bloss nicht, wie der Fachausdruck dafür lautet]

©Nikolaus Wyss

Mittwoch, 7. September 2022

Carlos Wiston - mein Freund jener Tage


  

Es ist zuweilen nicht unwichtig, den Rahmen zu kennen, in welchem sich eine Geschichte oder ein Gefühl entwickelt. Im Herbst 1970 war es so, dass ich von Europa nach Lateinamerika aufbrach in der Absicht, fernab heimatlicher Zwänge mein eigenes Leben zu gestalten. Nach zweiwöchiger Schifffahrt auf der MS Donizetti landete ich, von Genua aus und nach Zwischenstopps in den Häfen von Neapel, Barcelona und Las Palmas, in La Guaira, dem Hafen von Caracas.

    Ich fühlte mich von Anbeginn in diesem Venezuela ziemlich verloren. Ich sprach kaum Spanisch, alles war für meine Verhältnisse so fremd und zu teuer, und die zwei Adressen, die ich mit mir führte, erwiesen sich beide als Sackgassen. Es handelte sich dabei um ausgewanderte Europäer, die dort zu Reichtum gekommen sind, mich zwar in ihren scharfbewachten Villen am Stadtrand freundlich zum Tee empfingen, gleichzeitig aber in ihrem grossbürgerlichen Verhalten den Beweis erbrachten, dass wir uns weder praktisch noch emotionell etwas zu sagen hatten. Sie lebten in ihrer Welt aus Privatflugzeugen, viel Personal und gepanzerten Limousinen. Ich hingegen, in Jeans und mit Flaumbart, hatte gerade mal Ersatzwäsche, Zahnbürste, das South America Travel Handbook und Imodium im Gepäck, und im Gürtel mit Reissverschluss ein paar Travellers Cheques, die ich mir in der Schweiz für diese Reise auf der Blick-Redaktion und bei der Werbeagentur Rothenhäusler zusammengespart hatte. Meine Gastgeber in Caracas hingegen leisteten sich ab und zu Shoppingtouren nach Miami oder New York City und liessen ihre Kinder an Schulen und Universitäten in den USA oder in Europa ausbilden. Klar, dass sie auf der einen oder anderen Karibik-Insel auch noch ein Ferienanwesen oder eine Bananen- oder Kaffeefarm unterhielten. Netterweise luden sie mich sogar ein, dort einmal ein Wochenende zu verbringen. Doch das eine Mal vereitelte schlechtes Wetter den Anflug, das andere Mal war ich es selbst, der die Einladung ausschlug, weil ich in meinem Unwohlsein schon so weit fortgeschritten war, dass ich hastig Reisevorbereitungen traf, um in Richtung Westen aufzubrechen.

    Bald schon fuhr ich mit dem Bus dem Land entgegen, wovor mir in Venezuela wirklich alle abrieten: nach Kolumbien. Dort seien Diebe und Drogenbanden zuhause, der Alltag würde von bürgerkriegsähnlichen Zuständen, Schmutz und Korruption beherrscht, und zu essen gebe es nicht viel mehr als Kartoffeln, Reis und Kochbananen. Deshalb würden viele Kolumbianer nach Venezuela fliehen und damit leider auch das zivilisatorische Niveau und den Wohlstand des reichen Ölstaates bedrohen. Kolumbien hingegen sei stinkbillig, hiess es. Letzteres liess mich wegen meinen bescheidenen ökonomischen Verhältnisse natürlich aufhorchen und generelle Bedenken hintanstellen.

     Auf der langen Reise ins «gelobte» Land leistete ich mir einen Zwischenhalt in Mérida und fuhr mit der Gondelbahn zum Pico Espejo hinauf. Auf der 4765 Meter über Meer befindlichen Bergstation empfing mich dichter Nebel. Die Sicht betrug geschätzte drei Meter. Die Höhe machte mir zu schaffen. Sie verursachte Schwindelgefühle und starkes Kopfweh. Es war kalt, feucht und windig, und das Bergrestaurant geschlossen. Für mich ein weiterer Beweis, dass Venezuela nicht mein Land sein konnte. Auf der Weiterfahrt zur kolumbianischen Grenzstadt Cucutá überfuhren wir dann noch eine fette Sau. Der Chauffeur hielt es aber nicht für nötig, deswegen anzuhalten.

    Nun gut. Auf den ersten Blick unterschied sich Kolumbien in nicht so vielem von Venezuela. Es gab auch hier verkehrstüchtige Busse, die Leute waren nett und nicht so ruppig, wie sie mir in Caracas geschildert worden sind. Ich meinte sogar zu spüren, dass sich die Kolumbianer ihres schlechten Rufes bewusst waren und sich gerade deshalb besonders zuvorkommend und freundlich zeigen wollten. Was mich aber am meisten freute, waren die Preise fürs Essen und für die Unterkunft, die ich mir hier ohne unmittelbare Existenzängste leisten konnte.

Später, in der auf 2600 Meter über Meer gelegenen Hauptstadt Kolumbiens, Bogotá, hatte ich das Glück, eine Adresse mit mir zu führen, die mir einen Job in der Buchhandlung Buchholz ermöglichte. Der wirblige Patron Karl Buchholz mit seinem schlohweissen Haar und seiner sehr deutschen Diktion im Spanischen verfügte über eine bewegte Buchhändler- und Kunsthändler-Vita. Man munkelte damals, dass er mithalf, in Nazi-Deutschland entartete Kunst loszuschlagen. Nach Stationen in Berlin, Madrid, Lissabon und New York führte ihn seine Laufbahn zum Schluss nach Bogotá, wo er damals zwei Geschäftslokale betrieb. Das eine im Stadtzentrum an der Avenida Jimenez, das andere im damaligen Norden der Stadt, in Chapinero, welcher heutzutage nicht mehr als Norden bezeichnet werden kann, weil sich die Stadt mittlerweile so viel weiter nach Norden ausgedehnt hat, dass man heute auf der Strassenkarte Chapinero in der Mitte der Stadt findet.  

    Meine Chefin war Mary, verantwortlich für das internationale Sortiment im Hochparterre. Sie kam aus Buenos Aires und war mit einem Kolumbianer verheiratet. Sie nahm sich meiner an und lud mich ab und zu bei sich zu Hause zu einem Churrasco ein. Dort lernte ich die Notwendigkeit kennen, vor dem Essen erst einmal ein paar Züge Marijuana zu rauchen. Das zähe Stück Fleisch liess sich nachher leichter kauen und geniessen.

    Ich wohnte bei einer Schriftstellerfamilie mit drei Kindern, die alle süss waren, mich liebten und mir ab und zu eine Zeichnung unter dem Türspalt in mein Zimmer schoben. Abends schrieb ich Texte, die mich in der Meinung bestärkten, eigentlich sei ich Schriftsteller, was natürlich nicht stimmte, denn die damit einhergehende, quälende Einsamkeit hielt ich kaum aus und konnte sie schon gar nicht nutzen für kreatives Arbeiten. Die Buchhandlung blieb mir aber, offen gestanden, auch fremd. Ich bekam mit, wie alle über alle anderen schlecht sprachen. Buchholz pflegte dann noch Oel ins Feuer zu giessen, indem er mich des Öfteren wissen liess, dass den Kolumbianern nicht zu trauen sei. Er sang das venezolanische Lied: Diebe seien sie hier und Falschspieler, und Mischlinge würden eh nicht über eine gute Erbmasse verfügen.

    So ungefähr war der Rahmen, in welchem ich Carlos Wiston in der Verpackungsabteilung der Buchhandlung kennenlernte. Er repräsentierte genau den Menschentyp, mit welchem der deutsche Chef so grosse Mühe bekundete. Ich hingegen entdeckte in Carlos Wiston einen jungen Mann, der zehnmal belesener war als ich und in der Buchhandlung eigentlich an meiner Stelle hätte arbeiten müssen. Er verdiente gut einen Drittel weniger als ich, zögerte aber, schlecht zu reden über den Inhaber. Das verlieh ihm eine gewisse Würde, seine Leidensfähigkeit transformierte sich bei ihm zur Noblesse. Ich begann ihn zu bewundern. Wir gingen von jetzt an oft zusammen zum Lunch, wobei die Suche nach einem Restaurant zuweilen zu einer nervenaufreibenden Tour verkam. Er konnte sich kaum je für ein Speiselokal entscheiden, meinte aber, die Suche erhöhe immerhin den Appetit. Jeder eingesparte Peso galt ihm als Triumph. Um Geld jedoch ist er mich nie angegangen, dafür war er zu stolz.

Ich fragte ihn einmal, wieso er Carlos Wiston heisse und nicht so, wie man es erwarten würde: Winston. Die Antwort: Sein Vater bewunderte Winston Churchill und wollte seinen Erstgeborenen unbedingt auf den Namen des britischen Kriegspremierministers taufen lassen. Doch beim Zivilstandsregister ging etwas schief, denn der Beamte vergass das N im Namen, so dass in allen amtlichen Papieren Wiston zu stehen kam, ohne N. – Um Schwierigkeiten und Missverständnisse zu vermeiden, gewöhnte sich Winston an, sich selbst Wiston zu nennen und – vor allem – als Wiston zu unterschreiben. Mir hingegen kam sein ungewollter Name insofern gelegen, als er mich ans englische «wisdom» erinnerte, also genau an die Art von Weisheit, die ich bei ihm zu entdecken glaubte.

Mit Wiston sah ich zum ersten Mal auch ein Fussballspiel im Stadion Campín, und mit Wiston fuhr ich nach Cartagena ans Meer. Wir logierten im Gestemani-Quartier an der Halbmondstrasse. Kaum angekommen, führte sein erster Weg in eine Apotheke, wo er – ungefragt – für mich Kondome kaufen ging, denn vor unserem Hostel standen die Prostituierten Schlange. Ihm zuliebe liess ich mich sogar auf eine hübsche, junge Frau ein und verbrachte bei ihr, zum eigenen Erstaunen, ein paar wunderbare Tage.

    Meine Neigung zum eigenen Geschlecht aber war kein Thema. Sie fand keinen Platz in unserer Freundschaft, sie wäre, dies meine scheue Einschätzung, der Reinheit unserer Beziehung abträglich gewesen. So aber konnten wir an einer Art von Freundschaft arbeiten, die ich schon fast als ideal bezeichnen würde. Wäre ich je darauf angesprochen worden, ich hätte Carlos Wiston in jenen Tagen unumwunden als meinen besten Freund bezeichnet und dabei die Ergänzung unterlassen, dass er damals auch mein einziger Freund war, den ich hatte.

    Klar, da waren noch meine Freunde von vor meiner Abreise. Der eine schrieb mir von seinen Studien an der Harvard University, der andere studierte Geschichte und wollte Diplomat werden, und der dritte berichtete in langen Briefen von seinen Mädchen und von seinen Depressionen, die ihn später in den Selbstmord treiben sollten. Und hier in Bogotá pflegte ich Kontakt zu ein paar Schweizern, die für ein Hilfswerk unterwegs waren. Sonntags stiess ich zu ihnen und half mit bei der «concientización» von Armenvierteln, wie man das damals nannte, auf Deutsch: Bewusstwerdung. Man verteilte Flugblätter, organisierte Suppenessen, hielt Versammlungen ab und stachelte die Bevölkerung auf, sich gegen staatliche Übergriffe zu wehren. Das Viertel Pardo Rubio zum Beispiel, das über dörfliche Strukturen verfügte und ganz oben am Hang klebte mit fabelhafter Aussicht auf die ganze Stadt, sollte wegen einer Schnellstrasse, der Circumvalar, aufgerieben werden. (Zum Schluss hatten die Proteste nichts bewirkt, doch damals wog man sich noch im Glauben, das Projekt bei genügender Mobilisation abwehren zu können.)

    Ich nahm ein paarmal Carlos Wiston ins Pardo Rubio mit, musste aber erkennen, dass die Schweizer kein grosses Interesse bekundeten, ihn als meinen Freund anzuerkennen. Das lag vielleicht auch an seiner eigenen, reservierten Haltung gegenüber unseren Aktivitäten, denn er hielt sie für reichlich idealistisch und nutzlos. Er jedenfalls, der aus ähnlich ärmlichen Verhältnissen stammte wie die Leute in diesem Viertel, konnte unserem Wirken nicht viel abgewinnen. So blieb ich etwas allein mit meinem besten Freund, was einerseits meine Gefühle für ihn verstärkte und andrerseits mich aber auch daran hinderte, ein richtiger Revolutionär zu werden. Denn aus diesem Kreis von damals erwuchs tatsächlich so etwas wie eine umstürzlerische Zelle, welche Sprengkörper zu Hause im Badezimmer versteckt hielt und auch einen Anschlag auf eine Polizeistation verübte. Typischerweise wurden darauf Einheimische verfolgt und verhaftet, während die ausländischen Agitatoren, ergänzt mit kolumbianischen Studenten aus gutem Hause, untertauchen und ins Ausland fliehen konnten. Doch das geschah, als ich schon wieder in der Schweiz war, als Kellner und als Co-Therapeut in einer kinderpsychologischen Praxis arbeitete und nebenher Ethnologie studierte.

    Von meinem Ausflug nach Cartagena kehrte ich allein nach Bogotá zurück. Carlos Wiston musste noch schnell einen Abstecher nach Santa Marta machen, um ein Mädchen, das ihm bei früherer Gelegenheit schöne Augen machte, aufzusuchen. Als er wenige Tage später und arg enttäuscht, weil aus der Romanze nicht mehr wurde, in der Verpackungsabteilung der Buchhandlung Buchholz wieder auftauchte, wurde er fristlos gefeuert wegen nichtrechtzeitigen Erscheinens zur Arbeit.

So ging das erste Kapitel unserer Freundschaft zu Ende. Von da weg mussten wir abmachen, um uns zu sehen. Die regelmässigen Mittagessen blieben aus. Er arbeitete jetzt als selbständiger Buchvertreter und reiste mit irgendwelchen Schrottpublikationen im ganzen Land herum und versuchte diese den Papeterien, welche auch noch ein bescheidenes Buchsortiment führten, anzudrehen.

    Und ich selbst, von Depressionen gepeinigt, musste langsam einsehen, dass ich den kolumbianischen Herausforderungen nicht gewachsen war. Ich trug mich mit dem Gedanken, in mein Heimatland zurückzukehren und dort psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, was dann, mit einiger Verzögerung, auch geschah.

Wir schrieben uns noch, Carlos Wiston und ich, aber die Briefe erwiesen sich als etwas anstrengend. Mein Spanisch war dafür zu wenig entwickelt und fiel gegenüber den Ausführungen von Carlos Wiston dermassen ab, dass ich mich nur noch schämte. Übersetzunghilfen von Google gab es damals noch nicht. So versiegte die Korrespondenz allmählich, auch wenn das Gefühl blieb, einen Freund in Kolumbien zu wissen.

***

    Es muss Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gewesen sein, als ich mich anschickte, Kolumbien wieder einmal zu besuchen. Das Land versank damals gerade in den Wirrnissen der Drogenkriege und Guerillakämpfe. Ganze Talschaften befanden sich auf der Flucht. Sicherheitskräfte, Lehrpersonal und die Beamtenschaft machten sich jeweils als erste aus dem Staub und liessen die hilflose, verängstigte Bevölkerung allein zurück, wo sie von Paramilitärs, Guerilleros oder von regulären Streitkräften (Stichwort: falsos positivos) entweder massakriert oder vertrieben wurden, wenn sie sich nicht den neuen, rücksichtslosen und brutalen Herrschern bedingungslos unterwarfen. Meiner Unwissenheit und Naivität ist es aber zuzuschreiben, dass ich trotz allem ein Flugbillett löste, um Carlos Wiston wiederzusehen. Wobei mich der Gedanke streifte, auch er könnte Opfer dieser violenten Zeiten geworden sein. Vielleicht würde ich wenigstens seine Hinterbliebenen ausfindig machen, um mit der mir noch unbekannten Witwe sein Grab aufzusuchen und dort eine weisse Rose niederzulegen.  

Ich erinnere mich noch, dass ich einen Moment lang enttäuscht war, als ich, in Bogotá eingetroffen, ohne Umwege seine Adresse fand - ohne Abenteuer und Romantik. Ich rief an, er meldete sich, und wir machten auf den nächsten Tag in der Nähe des Goldmuseums ab. Dort tauchte er mit einer ganzen Kinderschar auf. Ich glaube, es waren fünf. Oder sechs. Sein Haar war etwas angegraut, doch sein strahlendes Lachen und seine vornehme Art kamen mir vertraut vor.

    Er erzählte, dass er eine Zeitlang als Vertreter von Haushaltsgeräten gutes Geld machte, doch später wieder aufs Buchgeschäft zurückgekommen sei. Und die Kinder? Seine damalige Frau schenkte ihm fünf Töchter. Leider verstarb sie im Kindbett der letzten. So wurde Carlos Wiston alleinerziehender Vater, gab aber den Wunsch nie auf, noch einen Sohn zu zeugen. Als die älteste Tochter, sie war damals vielleicht 16 Jahre alt, eine Schulfreundin heimbrachte, schien der Zeitpunkt gekommen, diesen Wunsch in Tat umzusetzen. Sie schenkte ihm einen Sohn und wurde zu seiner zweiten Ehefrau.

    Ich schreibe freihändig, das heisst, aus der Erinnerung. Es könnte sich auch etwas anders zugetragen haben. Festgesetzt hatte sich allerdings der Eindruck, dass die alten freundschaftlichen Gefühle für ihn nicht mehr dieselben waren. Während ich mir eingestehen musste, wohl keine Familie gründen zu können, er aber das Hohelied der Familie sang, entglitt mir die Lust, ihm von meinem eigenen Leben zu erzählen, um so auf Augenhöhe die alte Freundschaft zu retablieren. Ich kam mir als weitgereisten Versager vor. Ich hatte nichts zu berichten, was sein Familienglück hätte aufwiegen und ihn hätte interessieren können.

***

    Das zweitletzte Kapitel dieser Freundschaft jener Tage trug sich um meinen 50. Geburtstag herum zu. Ich hatte den Ehrgeiz, zu diesem Fest Freunde aus allen Lebensphasen einzuladen. Ich war damals Rektor der Kunsthochschule Luzern und in der Lage, auch eine weite Reise zu finanzieren. Deshalb kontaktierte ich auch Carlos Wiston und wollte ihn an diesem Anlass dabeihaben. Er antwortete überrascht, doch auch mit Freude.

    Wenige Tage vor seinem Abflug jedoch, am 25. Januar 1999, bebte die Erde in Kolumbien. In Armenia, Quindío, zeigte die Richterskala 6,1 Punkte an. Die Provinzhauptstadt wurde zu grossen Teilen dem Erdboden gleichgemacht. Die Eltern von Carlos Wiston wohnten dort. Er musste hinfahren und zum Rechten schauen und sagte seine Teilnahme am Geburtstagsfest ab.

    Wir sahen uns nie mehr. Auch nicht, als ich Ende 2016 nach Kolumbien übersiedelte. Ich entdeckte ihn zwar auf Facebook, jetzt mit seinem eigentlichen Namen Carlos Winston. Doch die vielen Einträge seiner weitverzweigten Familie, wo sich eine Taufe an die andere reihte, wo Fotos von Hochzeits- und Geburtstagsfesten mit vielen bunten Ballonen und Herzchen im Hintergrund kumulierten, und Carlos Winston, jetzt ein alter Mann, von allen liebevoll umsorgt schien, hielten mich irgendwie davon ab, den Schritt auf ihn zuzutun.

    Als ich kürzlich seine Seite wieder aufschlug, las ich unter dem Datum 10. Mai 2020 folgenden Eintrag von Carolina, und ich nehme an, es handelt sich dabei um eine seiner Töchter: «Mein Väterchen, du bist heute von uns gegangen, aber du bleibst uns lebendig und bist eintätowiert in unseren Gedanken und Herzen. Wir lieben dich.» Und am 4. Juni desselben Jahres schrieb Monik, wohl eine andere Tochter: «Mein wunderbarer Papa, heute würdest du einen weiteren Geburtstag feiern, doch jetzt weilst du beim Lieben Gott. Ich vermisse dich sehr. Alles Gute einem weiteren Engel im Himmel. Mein Papito, ich liebe dich.»

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    Ich weiss nicht recht, wie ich diesen Text zu einem befriedigenden Schluss bringen soll. Texte verlangen nach einer gewissen Dramaturgie und nach einem Sinn, wozu sie überhaupt geschrieben worden sind. Erinnerungen hingegen hängen in der Luft, einer Wolke gleich, aus welcher manchmal Wehmut tropft.

 


© Nikolaus Wyss

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