Donnerstag, 9. Mai 2019

Stägeli uuf, Stägeli ab juhee (Tagebuch 6)

Jesús in seiner Blüte...
27. April 
Jesús wohnt jetzt eine Zeitlang bei uns. Er kann es sich leisten, weil ihm die Unterkunft sein italienischer Freund bezahlt. Sie hatten sich vor einiger Zeit übers Internet kennengelernt und sich kürzlich hier zum ersten Mal getroffen.
Es war die Rede davon, dass Jesús ihm nach Italien folge. Daraus wird vorerst wohl nichts. Sein venezolanischer Pass ist abgelaufen. Die diplomatischen und konsularischen Beziehungen zwischen seinem Land und Kolumbien sind versiegt, den Antrag für einen neuen Pass kann er sich ans Bein streichen. Ebenso wenig helfen ihm da die benachbarten Länder, weil er ja zur Einreise dorthin über einen gültigen Pass verfügen müsste. Und Venezuela, sein Heimatland, aus welchem er vor zehn Monaten geflohen ist, wird ihm schon gar nicht weiterhelfen wollen. Momentan werden dort gar keine neuen Reisepässe ausgestellt. 
Er ist also gestrandet hier im Asylzentrum Casa Wyss. Freunde machen ihm Hoffnung, es doch mit einem gefälschten Pass zu versuchen. Ich warne davor in echt schweizerischer Manier. Jesús malt, er versteht sich als Künstler. Er färbt sich sein Haar jeden Tag aufs Neue. Das bringt etwas Abwechsung in sein Leben.

28. April
Die Tatzen als Nadelkissen und die Schnautzhaare für Eladio, der Mechaniker ist

Ich lerne momentan ein Gedicht auswenig, das hier Verwirrung stiftet, wenn ich es zitiere. In seiner abgründigen Art gefällt es mir sehr: 

Piedad Bonnett

Reciclando – Wiederverwertung   

Cuando papá en un ataque de rabia mató al gato, 
Als Vater bei einem Wutanfall den Kater tötete, 

a mi gato Bartolo
meinen Kater Bartolo 

porque metió la cola entre su caldo
weil dieser den Schwanz in dessen Suppe getaucht hatte 

y porque ya era viejo y no cazaba como debía ratones
und weil er schon alt war und keine Mäuse mehr fing 

y ademas era caro mantenerlo,
ausserdem kostete er uns Geld, 

cuando papá borracho lo mató con sus manos,
als Vater ihn also im Rausch mit seinen eigenen Händen erwürgte, 

hubo una gran algarabía en casa.
Da war etwas los bei uns im Haus. 

Vinieron todos, todos;
Alle kamen, alle; 

mi hermana dijo: guardenme los ojos
meine Schwester sagte: ich möchte die Augen 

para un par de zarcillos, y Martino,
für ein Paar Ohrringe, und Martino, 

nuestro vecino ciego, se pidió las tripitas
unser blinder Nachbar, fragte nach dem Darm 

- sirven para hacer cuerdas de violín -
- damit lassen sich Violinsaiten herstellen - 

y mi mamá, que al principio lloró, lloró conmigo,
und meine Mutter, die erst weinte, mit mir weinte, 

quiso la piel
wollte schliesslich das Fell 

para ponerle cuello a su chaqueta,
um es als Kragen für ihre Jacke zu verwenden, 

y los bigotes
und um die Schnauzhaare 

se los pidió mi hermano Eladio, el que es mecánico,
bemühte sich mein Bruder Eladio, der Mechaniker ist, 

y los cojines de sus patas fueron
und die Pfoten schliesslich sollten 

lindos alfileteros
niedliche Nadelkissen werden 

para la bruja gorda que vive atrás del patio
für die dicke Hexe auf der anderen Hofseite, 

y es modista.
die Schneiderin ist. 

Lo que sobró lo hirvieron con sal y cebolla.
Was übrig blieb, wurde mit Salz und Zwiebeln ausgekocht. 

Se lo dieron a Luis, que duerme en nuestra calle,
Sie gaben es Luis, der in unserer Straße schläft, 

pues también sirve el caldo de gato para el hambre.
denn auch eine Katzensuppe hilft gegen Hunger.


Yo me pedí los huesos.
Ich bat um die Knochen. 

Uno a uno los muerdo delante del espejo de mi hermana
Einen um den anderen nage ich jetzt vor dem Spiegel meiner Schwester 

porque dijo mi abuela
weil meine Großmutter sagte 

que al morder el que toca se vuelve invisible
sie zu beissen mache unsichtbar

y eso quiero.
und das ist es, was ich möchte. 


30. April
Tapsi und Arlette hiessen die beiden Dalmatiner vor 60 Jahren, welche das Leben einer befreundeten Arztfamilie bereicherten. Sie bettelten am Tisch und erhielten zuweilen Knochen zugesteckt. Von ihrem Geifer bekamen auch meine Hosen etwas ab, was mich für sie nicht gerade einnahm. Wenn sie läufig waren, trugen sie Höschen. 
Meine Mutter fand diese gefleckten Viecher blöd. Ich aber dachte eher, so richtig blöd würden sie erst durch ihre Namen, mit denen sie bedacht worden sind.


6. Mai

Meine Ängste werden zur Zeit gut bewirtschaftet, und ich beobachte mich dabei, wie ich mich immer mal wieder daraus zu befreien versuche. Da war die Netflix-Serie über die Narcos in Kolumbien. Ein über viele Episoden hinziehendes Verfolgen, Niederknallen und Katz-und-Maus-Spielen in einer mir wohlvertrauten Umgebung. Plötzlich sah ich in jedem Taxifahrer einen Gehilfen Escobars, und jeder Polizist steckte für mich unter einer Decke mit den Gesetzlosen. Diejenigen mit Krawatte waren die Verdächtigsten. Stiegen sie in eine Limousine, so erwartete ich, dass eine Bombe losging. - Es brauchte seine Zeit, das Vertrauen in den jetzt gelebten Alltag wieder herzustellen.
Dieser Tage wird der Bericht zum Zustand der Biodiversität unserer Erde veröffentlicht. Vergegenwärtigt man sich die Folgen, so sieht es für die absehbare Zukunft unserer Menschheit noch schlimmer aus als beim Klimawandel. Und man fühlt sich so fürchterlich allein gelassen mit seiner Sorge. Da liefern sich Politiker jeder Couleur Schaukämpfe und lassen jede Verantwortung für unser Wohl vermissen. Beiträge und Opfer von uns werden nicht honoriert. Niemand klopft mir auf die Schulter, wenn ich auf die geplante Indien-Reise verzichte oder statt Fleisch Kichererbsen und Linsen zubereite. Die Überwindung dieser Angst wird wohl noch eine Weile andauern. Ja, vielleicht wäre es gar nicht so gut, diese abzulegen. Vielleicht hülfe als Anreiz auch das in China bereits eingeführte Punktesystem mit Gesichtserkennung. Damit werden alle Bürgerinnen und Bürger des Landes überwacht. Für jede umweltfreundliche Tat gäbe es Pluspunkte. So würde man zum besseren Menschen, der Steuerabzüge und andere Goodies für sich in Anspruch nehmen dürfte.
Da kommt mir die Angst vor dem Altern gerade gelegen. Sie verflüchtigt sich angesichts des Zustands dieser Welt geradezu. Es gibt da eine schon fast wohltuende Gewissheit, dass man noch vor dem Weltuntergang sterben wird. 

7. Mai
Foto aus Nigeria von Jonathan Liechti
Besuch des Schweizer Beitrags an der Fotográfica Bogotá in der Uni Tadeo. Bemerkenswert, ja seltsam ist, dass sich diese Schweizer BildkünstlerInnen bei der Auswahl ihrer Sujets fast alle auf die Darstellung des Elends kapriziert haben: Flüchtlinge im Balkan, Arme in Afrika und Brasilien. Als ob das Schöne, das dem Ruf der Schweiz vorauseilt, mit der Darstellung des Unschönen und Unglücks in der Fremde kompensiert werden müsste. Und dann noch ein ästhetischer Purzelbaum: die Fotos sind schön und exotisieren das Elend. Und dies hier in einem Land, das tagtäglich am eigenen Leib erfährt, wie hart und ungerecht das Leben mit einem umgeht. Zwiespältig das Ganze.

8. Mai
Dorothee Hess und ich anlässlich einer Veranstaltung im Büchertreff Schwamendingen
Heute vor elf Jahren verstarb meine Freundin Dorothee Hess-Bachofner nach langer, rätselhafter Krankeit, die sich erst im Laufe der Zeit als ALS herausstellte. Bei ihr schlug es zuerst auf die Sprache. Sie konnte sich nach einer Weile nicht mehr artikulieren. Das war sowohl für sie wie auch für ihre unmittelbare Umgebung besonders bitter, denn sie war die geborene Kommunikatorin. Sie hatte immer ein Ohr für andere und vermochte mit treffenden Worten zu reagieren. Man fühlte sich von ihr verstanden. Mit vielen verband sie eine Art Komplizenschaft, eine Mischung aus Klatsch und Anteilnahme, durchsetzt mit einer gehörigen Portion Humor. Sie führte ein gastliches Haus und war Mutter von vier gutaussehenden Buben, die es alle in ihren Leben zu etwas gebracht haben. Über ihren Gatten Heinz schrieb ich anlässlich seines Todes unter diesem Link etwas
Dorothee kommt mir immer an erster Stelle in den Sinn, wenn ich an Schwamendingen denke, wo ich 20 Jahre meines Lebens verbracht habe. Wir gründeten zusammen die Genossenschafts-Buchhandlung Büchertreff. Unsere Wege kreuzten sich aber auch sonst auf vielfältige Weise, und es gab Zeiten, wo wir gleichzeitig dieselben Bücher lasen und uns darüber austauschten. Sie kannte alle meine Lovers. Und die Tatsache, dass ich damals in meiner Einsamkeit ab und zu eine Portion Familienleben brauchte und dazu nur über die Strasse zu Hessens zu gehen brauchte, habe ich andernorts sicher schon zehnmal erwähnt. Jetzt würde Dorothee in ihrem 77. Lebensjahr stehen, und ich kann sie mir noch immer nicht anders vorstellen als sie damals war: agil, mit Schalk in den Augen, im Garten, mit Blumen, grad jetzt, im Mai, wo alles blüht.  

10. Mai
Hinter meinem Haus befindet sich eine Baubrache, welche als Parkplatz genutzt wird. Akkustisch ist das Geviert insofern interessant, als ihm einige spezifische Geräusche eigen sind. Zum einen ist da der Parkplatz-Zuweiser, der dem einfahrenden Automobilisten mit lautem Deledeledele zu verstehen gibt, er könne ruhig noch etwas näher zur Mauer auffahren. Hunderte Male am Tag. Deledeledele. Dann sind da zum andern die Alarmanlagen der Autos, die alle losgehen, wenn wieder einmal eines der häufigen Gewitter über der Stadt donnert. Dann zwitschern, heulen und schnattern die Vehikel wie eine Volière voller aufgescheuchter Vögel. 
Auf dem Gelände befindet sich auch ein Abbruchobjekt, in welchem sich Punks eingenistet haben. Ihr akkustischer Tageslauf fängt ungefähr um 15 Uhr an, wenn der eine sich anstelle einer Dusche am Schlagzeug aufzufrischen beginnt und ein anderer die wenigen Basstöne, die er beherrscht, dröhnen lässt. Manchmal gesellen sich weitere Musiker hinzu. Sie üben aber nicht, sie versuchen vielmehr, ihre Zeit zu vertreiben, indem sie der Umgebung musikalisch zu verstehen geben, dass sie nichts mit Musik zu tun haben wollen. Manchmal schreien sie auch einfach wild durcheinander. Das zieht sich in den Abend hinein. Doch richtig los geht es erst abends um halb elf, wenn ich zu Bette gehe und wenn deren Mädchen eintreffen, um die langweiligen Töne der Boys mit ihren Lachsalven und ihrem Gekreische zu übertreffen. Immerhin gibt es Abende, wo die Punks von schrecklich falsch intonierten Tönen auf der Terrasse der gegenüberliegenden Seite konkurrenziert werden. Dort werden nämlich regelmässig Karaoke-Anlässe durchgeführt, angefeuert von einem Animator, der nicht genug bekommt, über Lautsprecher die zögernde Gästeschar zum Singen aufzufordern. Alkohol hilft auch hier, und je später der Abend umso lauter das we are the champions...
Auf dieser Brache ist ein Neubau geplant. Sieben Stockwerke hoch. Der Verkauf der Appartments habe sich gut angelassen, versichert mir der Agent. Im kommenden Oktober schon sollen die Bagger auffahren. - Das Haus wird mir Licht wegnehmen, dafür verspreche ich mir ruhigere Abende. Man kann nicht einfach alles haben. 


©Nikolaus Wyss

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