Montag, 26. Februar 2018

Getsemani (2.0)

In Yopal, Casanare, mit Hiraya das weitere Vorgehen besprechend

Die Sammelaktion für das Frauenhaus von Getsemani wurde am 15. Januar 2018, 18 Uhr, mit einem Endergebnis von Fr. 13.242.- abgeschlossen. 57 Spenderinnen und Spender, darunter auch zahlreiche anonyme, haben sich an dieser Aktion mit Geldbeiträgen unterschiedlichster Grösse beteiligt, wofür an dieser Stelle nochmals herzlich gedankt sei. Nach Abzug der wemakeit-Kommission wurden mir als Projektverantwortlichen Fr. 11.918.- ausbezahlt. Dieses Geld steht jetzt zur Realisierung des Vorhabens zur Verfügung. Laut meiner aktuellen Umrechnungstabelle sind das ungefähr 36 Millionen kolumbianische Pesos. 
Ich nahm sofort mit den Frauen von Getsemani Kontakt auf und verkündete den Geldsegen. Allerdings kommunizierte ich vorerst nur 25 Millionen Pesos im Wissen darum, dass ich unter der Rubrik Unvorhergesehenes noch froh sein werde, über etwas Geld zu verfügen. Ich bat die Frauen, eine Liste von Anschaffungen zu erstellen, die nach ihrem Dafürhalten notwendig sind, um das Haus betriebsbereit zu machen. Und ich vereinbarte mit unserem Verbindungsmann Hiraya einen Termin, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Wir trafen uns darauf am Samstag, 20. Januar, in Yopal, der Hauptstadt des Departements Casanare. Davon zeugt das obige Foto.
Er zeigte mir Dokumente, die belegen, dass dieses Haus von einer Junta von Frauen geführt wird, die anlässlich einer Vollversammlung des ganzen Dorfes gewählt worden sind. Diese Junta zeichnet auch verantwortlich für die Liste der Anschaffungen, um welche ich gebeten habe. Darüber hinaus bezeugen sie das Vertrauen in Hiraya, dass er in ihrem Sinn und Geist handle.
Im Gegensatz zum Sammlungszweck, das Haus zu einem kunsthandwerklichen Zentrum zu machen, überraschte mich Hiraya jetzt mit Wünschen der Frauen, die man unter anderen Rubriken als unter Kunsthandwerk und Infrastruktur-Ausbau abbuchen müsste. Jetzt war plötzlich von acht Produktionsketten die Rede, von denen nur eine ausschliesslich dem Kunsthandwerk vorbehalten war (Lager für materia prima, also allerhand Rohstoffe wie Bast, Rinden, Stauden, Palmblätter, natürliche Färbemittel etc. für die Herstellung von Körben, Schmuckstücken und Kleidern). Gut, auch der Versammlungsraum, die Kücheneinrichtung und der Generator könnten noch unter dem ursprünglichen Anliegen abgebucht werden. Sonst aber war die Liste voll mit Wünschen wie Papeteriewaren, Fotokopierer, 50 Kücken, Benzinbehältnisse samt Inhalt, Zucker, Öl, Mehl, WLAN, Computer, Sende- und Empfangsschüssel fürs Handy und vieles mehr. Ich schluckte leer und erklärte Hiraya, dass ich grundsätzlich unterscheide zwischen Konsumgütern und Investitionen. Ich hätte entsprechend Mühe, diese Liste einfach so durchzuwinken. 
Das Verhältnis zwischen uns wurde in der Folge etwas angespannt. Auf der einen Seite sah ich auf dieser Wunschliste einiges, das meiner Meinung nach keine Nachhaltigkeit aufweist und kaum einen Beitrag zur Betriebsertüchtigung des Hauses leistet, auf der anderen Seite hatte ich dummerweise vorgängig lauthals proklamiert, dass ich bei den Anschaffungen nicht dreinreden würde. Die Frauen wüssten bestimmt besser als ich, sagte ich etwas salopp, was sie brauchten. Jetzt hatte ich den Salat.
Hiraya erklärte mir darauf, diese Konsumgüter seien für den Wiederverkauf bestimmt und würden Geld generieren, welches für weitere Anschaffungen des Frauenhauses investiert würde. Wir argumentierten heftig, und ich sah mich mit einem grundsätzlichen Fehler meiner Sammelaktion konfrontiert. Ich hatte im Voraus mit den Frauen nicht genau vereinbart, worin die Anschaffungen fürs Frauenhaus bestehen müssten.  Doch was, wenn die Sammlung schief gelaufen wäre und ich das Geld gar nicht zusammengebracht hätte? Dann wäre die Liste Makulatur gewesen und hätte die Leute von Getsemani einmal mehr darin bestätigt, einer Unterstützung nicht wert zu sein! Dieses Gefühl und die damit verbundenen Ressentiments, die sie offen oder verdeckt eigentlich ständig gegenüber der westlichen Gesellschaft mit sich herumtragen, wollte ich bei diesem damals ungesicherten Ausgang der Sammlung nicht mutwillig fördern. Ich sammelte also ohne ihr Wissen und stehe jetzt vor der Frage: Wirtschaftsförderungsprogramm gemäss Wunsch der Betreiberinnen oder ausschliesslich Kunsthandwerk? 
Ich verabschiedete mich von Hiraya mit der dringenden Bitte, mit den Frauen die Liste noch einmal durchzukämmen und der Idee, wie sie in meiner Sammelaktion zum Ausdruck kam, mehr Nachdruck zu verleihen. Überdies sollen Regeln definiert werden, wie bei einem allfälligen Gewinn zu verfahren sei, damit nicht nach einem Monat zwar aller verkauft  aber nichts für die Weiterentwicklung des Hauses übrig sei.
Einen knappen Monat später trafen wir uns wieder in Yopal in der Absicht, dass mir Hiraya eine bereinigte Liste vorlegt und ich gemeinsam mit ihm die wichtigsten Anschaffungen tätige. Der Lastwagen für den Transport der Waren war bereits bestellt, und auch das Frachtboot für den Rest der Reise bestellt. Ich trug fünf gewichtige Bankchecks à fünf Millionen Pesos auf mir in der Absicht, sie nach Massgabe des Bedarfs einzulösen. Nur: keine Bank nahm diese Checks an, weil Hiraya über kein eigenes Bankkonto verfügt, wo er den Betrag hätte einwechseln können. Und meine Bank wiederum führt keine Filiale in Yopal. So lernte ich an diesem Tag mehr über die Tücken hiesiger Zahlungsmethoden, als dass ich fürs Frauenhaus von Getsemani hätten einen Beitrag leisten können. - Nun gut, wir kauften dann unter Belastung meiner Debitkarte doch noch für etwa 12 Millionen Pesos Güter: Gestelle, Eisschrank, Vitrinen, Stühle etc. Doch die Checks musste ich wieder zurück nach Bogota mitnehmen. Wir vereinbarten, wie mit dem Rest der Einkäufe zu verfahren sei, aber ich bin mir bis zur Stunde nicht sicher, ob sich wirklich alles so vollzogen hat, wie wir dies vor meinem Abschied aus Yopal ausmachten. Zuverlässige Telefonverbindungen gibt es nicht, und das Internet funktioniert meistens auch nicht und ist vorallem witterungsabhängig. Ich verfüge zur Stunde über keine neuen Informationen.
Diese Geschichte verfügt also über einen Cliff-Hanger, wie ihn Serienfilme aufweisen. In der nächsten Folge wird das Publikum erfahren, ob der Transport reibungslos vonstatten gegangen ist (denn auf dem Weg nach Getsemani treiben versprengte Guerillas der ELN immer noch gnadenlos ihr Unwesen), wie das Restgeld investiert wurde und ob die Kücken überlebt haben. In gut einer Woche werde ich Hiraya erneut treffen. Diesmal in Arauca. Er sollte mir dannzumal die handgefertigten Geschenke für die Spenderinnen und Spender übergeben, die ich anschliessend in die Schweiz bringen und verteilen werde. Hoffentlich klappt's.   

© Nikolaus Wyss

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Dienstag, 20. Februar 2018

Zu meinem 69. Geburtstag - De lo que soy


Zu meinen jungen Freunden hier in Bogotá gehört Miguel Angel. Er studiert an der Uni Tadeo Filmwissenschaft und absolviert momentan ein Austausch-Semester an einer Universität in Kuba. Bei seinen nachmittäglichen Besuchen öffnete er mir ein paar Türen zu Kolumbiens Poesie, wofür ich ihm ewig dankbar sein werde. Insbesondere erschloss er mir die Welt von Raúl Gómez Jattin, dessen Gedichte mich immer stärker in Bann ziehen. Aus Anlass meines 69. Geburtstages beschäftigt mich das folgende Gedicht ganz besonders:

De lo que soy
Was ich noch bin

En este cuerpo
In diesem Körper

En el cual la vida ya anochece
Dessen Leben sich bereits dem Ende zuneigt

Vivo yo
Lebe ich

Vientre blando y cabeza calva
Der Bauch schlaff und der Kopf kahl

Pocos dientes
Wenige Zähne

Y yo adentro
Und ich darin

Como un condenado
Wie ein Verdammter

Estoy adentro y estoy enamorado
Ich befinde mich hier drin und bin verliebt

Y estoy viejo
Und ich bin alt

Descifro mi dolor con la poesía
Mit Gedichten seziere ich meinen Schmerz

Y el resultado es especialmente doloroso
Und das Resultat schmerzt ganz besonders

Voces que anuncian: ahí vienen tus angustias
Stimmen kündigen an: Hier kommen deine Ängste

Voces quebradas: pasaron ya tus días.
Brüchige Stimmen: deine Tage sind gezählt. 

La poesía es la única compañera
Die Poesie bleibt deine einzige Begleitung

Acostúmbrate a tus cuchillos,
Gewöhne dich an deine Seziermesser,

Que es la única
Das einzige, was hilft

Dieses Gedicht zwingt mich in die Knie. Es macht mich nicht traurig, doch demütig schon: andächtig, zentriert. Die scharfe, unerbittliche Beobachtung des eigenen Zerfalls schmerzt, der kurze Lichtblitz der Verliebtheit wirft ein untröstliches Schlaglicht auf die Vergänglichkeit. Doch die weise Poesie als Antwort darauf schenkt die notwendige Kraft weiterzuleben. Sie tröstet zwar nicht, doch sie bringt einen überein mit sich selbst. Sie versöhnt mich mit mir selbst. Es ist mir ums Weinen. So schön ist das.
Raúl Gómez Jattin, geboren 1945, endete als Stadtstreicher. Er wuchs in Cereté auf, einer Stadt im Norden Kolumbiens. Dort wurde er Geografie- und Geschichtslehrer und unterrichtete an einer lokalen Mittelschule. Mit 21 Jahren zog es ihn nach Bogotá, wo er die Rechte studierte. Gleichzeitig schloss er sich einer Theatergruppe an und spielte in zahlreichen Inszenierungen literarischer Beiträge mit, die vorgängig in der Zeitschrift Puesto de Combate publiziert worden sind. 
Ohne seine Rechtsstudien je abzuschliessen kehrte er acht Jahre später nach Cereté zurück, lebte von nun an auf der Strasse und wurde immer mal wieder von der Polizei aufgegriffen und in psychiatrische Kliniken gesteckt. Und er begann mit dem Schreiben von Gedichten. Er änderte seinen Lebensstil als Stadtstreicher auch nicht, als er nach Cartagena überwechselte. Jetzt kamen noch einige Gefängnisaufenthalte hinzu. Ob er seinem Leben wirklich ein Ende setzen wollte, oder ob er einfach nur unglücklich vor einen Bus fiel und überfahren wurde, bleibt bis auf den heutigen Tag ungeklärt. Er starb am 22. Mai 1997 auf den Strassen Cartagenas.
Wenn dieser Poet mit einer solchen Lebensgeschichte die Kraft aufbringt, so präzis seinem Leben künstlerischen Ausdruck zu verleihen, so bleibt mir nichts zum Klagen. Ich habe mich grad beim Zahnarzt angemeldet.  



Sonntag, 18. Februar 2018

In Korrespondenz mit Roger Köppel

Ganz zum Schluss unserer Korrespondenz schrieb ich ihm: Wie verfahren wir weiter, Herr Köppel? Wir wiederholen uns bereits. [...] Unsere Korrespondenz würde mir gut in den Kram passen für einen Abdruck in meinem Blog. Dafür bräuchte ich aber Ihr Einverständnis. – Wenn Sie eine bessere Idee haben, so bin ich gerne bereit, sie zu prüfen. Weiterfahren im Text? Sich alles Gute wünschen? Einander ewige Feindschaft erklären? – Die Palette ist gross. [...]
Roger Köppel meldete sich alsogleich mit ein paar letzten Zeilen und bestand darauf, dass seine E-Mails an mich persönlich gemeint seien. Natürlich respektiere ich dies und unterlasse im Folgenden jedes Zitat aus seiner Feder. Gleichwohl versuche ich, diese für mich überraschende Begegnung im Facebook Messenger hier nachzuzeichnen und zu teilen. Dies ist sowohl meiner Eitelkeit geschuldet, mich mit einer so prominenten wie auch umstrittenen Person unterhalten zu haben, als auch der Hoffnung, dass mich die Verarbeitung dieser Korrespondenz zu neuen Einsichten führt. Nichts ist langweiliger, als sich gegenüber diesem einzigartigen Journalisten, Verleger und Politiker in den eigenen Vorverurteilungen zu suhlen und überall nur nach denjenigen Beweisstücken zu graben, die einem grad in den Kram passen.
Angefangen hatte unsere Korrespondenz zehn Tage zuvor, als mich Roger Köppel aus heiterem Himmel mit der Frage überraschte, ob ich der Sohn von Laure Wyss sei. Ich schrieb ihm darauf so zurück:
Lieber Herr Köppel, ich habe Sie in Ihrer Tagi-Magi-Zeit grenzenlos bewundert. Iwan Rickenbacher sagte mir einmal über Sie, dass Sie den Marschallstab im Tornister mit sich führten. Er meinte damals die Möglichkeit, dass Sie dereinst die Chefredaktion des Tages-Anzeigers übernehmen würden. Davon war er überzeugt, und ich bestärkte ihn darin, dass dies eine grosse Chance für den ganzen Konzern wäre. – Mich macht es einfach elend traurig, dass das Neu- und Andersdenken von Tatbeständen, das zu Ihren journalistischen Spezialitäten gehörte und mich kolossal ansprach, in meinem Gefühl zur Erstarrung führte. Die Positionen der Weltwoche sind vorhersehbar, und Ihr politisches Wirken und Ihre Engagements erlauben es Ihnen heutzutage nicht mehr, unvoreingenommen und lösungsorientiert Themen einer guten Lösung zuzuführen. Mir gefällt der Stil der Häme und Verunglimpfung, den Sie und Ihr WeWo-Team systematisch pflegen und den Sie eben auch als Nationalrat als schärfste Waffe ins Feld führen, nicht. Das verhärtet die Fronten. Ich bin auch ein Opfer davon. Ich kann kaum mehr unvoreingenommen Ihre Aktivitäten zur Kenntnis nehmen. Ihre Omnipräsenz und Ihr für mich kaum mehr akzeptabler journalistischer Stil provozieren bei mir Nackenstarre und verleiten mich zu Bemerkungen, welche die Verhärtung noch fördern, was mir leid tut, denn ich wäre so dankbar, wenn der Enthusiasmus, den Sie an den Tag legen, einladender, positiver daherkäme, wenn er darauf angelegt wäre, das Zusammengehen zu fördern. Bei Ihnen sind aber Andersgesinnte primär Verräter, und bei diesen Verrätern sind Sie mittlerweile der Lieblingsfeind. Mich stört, dass Ihnen das gefällt. Ich wünschte mir, dass Sie einen Ehrgeiz entwickeln würden, diese beobachtbare Aufspaltung der Schweiz zu stoppen und gemeinsame Werte zu pflegen. So. Jetzt habe ich gesagt, was mir auf der Zunge brennt. Ich danke für Ihr Interesse zu erkunden, wer denn meine Mutter sei. Ja, meine Mutter war Laure Wyss.
* * *
Herr Köppel lässt nicht lange auf sich warten und bedankt sich für das offene Wort. Er schlägt sogar vor, dass wir uns einmal treffen könnten, zumal er sich gut an meine Mutter erinnere. Sie hätte schliesslich seinem damaligen journalistischen Stil im Tages-Anzeiger-Magazin Wertschätzung entgegenbracht, auch wenn es hie und da auf die Mütze gegeben habe. Dann fragt er mich, wenn seine Arbeit so vorhersehbar sei, ob ich schon sagen könne, welcher Aufmacher die nächste WeWo-Ausgabe ziere.
Sie sind ein Witzbold, antworte ich darauf, ich gehe davon aus, dass Sie noch selbst nicht wissen, was der Aufmacher sein wird zu diesem Zeitpunkt. Ich habe seinerzeit immer gerne im Spiegel die verworfenen Titelbilder studiert [...].
* * *
Herr Köppel antwortet, dass er die Titel langfristig plane, sagt aber auch, dass er sich als instinktiven Menschen verstehe und weniger strategisch und politisch. Es scheint ihn einfach zu nerven, wie die Sicht auf Christoph Blocher und seine Leute angeblich wachsend ungerecht wurde, begleitet von einer unehrlichen Überheblichkeit gegenüber sogenannt einfachen Leuten. Da wolle er Gegensteuer geben. Wichtig sei ihm, alle Seiten zu Wort kommen zu lassen, ohne sich selbst dabei zu verkrümmen. Das Wort Verräter habe er jedoch nie oder kaum benutzt, Totengräber oder Saboteure aber schon.
Zum Schluss lädt er mich ein, für ihn eine Blattkritik zu schreiben, um zu begründen, weshalb denn alles Mist sei, was er mache.
Lieber Herr Köppel – Vielen Dank für Ihre Ausführungen, die mich wegen der Zeitverschiebung heute Morgen um 02.19 Uhr erreichten. Ich fühle mich sehr geehrt, dass Sie für mich Ihre kostbare Zeit hergeben. [...] 1991 habe ich mich vom Journalismus verabschiedet. Anlass war die Publikation 21 Jahre TAM – Vom Nährwert einer Beilage. Der damalige Chefredaktor René Bortolani stellte mich fristlos frei, und ich liess mir die Pensionskasse auszahlen. Seither halte ich mich von journalistischen Aufträgen fern. Einmal wurde ich noch zu einer Blattkritik des NZZ-Folios aufgefordert. Das wars. Das heisst auch, dass ich wohl kaum eine Blattkritik für die WeWo schreiben werde, womit Sie sicher gut leben können. – Merkwürdigerweise ist mir beim Lesen Ihrer freundlichen Replik das Standardwerk von Georg Franck durch den Kopf gegangen: Die Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ich gehe davon aus, dass Sie diese Abhandlung kennen. Besonders spannend sind die Stellen, wo es um den Begriff der Reputation geht. Meine Beobachtung ist die, dass Sie Ihre Reputation in einem mir vertrauten Kreis eingewechselt (bzw. verloren) haben zugunsten der Reputation in einem mir nicht so vertrauten Kreis. Wutbürger in ihrem Furor noch anzufeuern, bewirkt bei mir Unbehagen. Bei Ihnen aber offensichtlich Lust. Sie scheinen sich pudelwohl zu fühlen in diesem Umfeld. Mir hingegen liegt immer das Schadenspotenzial vor Augen. Ich halte die Schweiz für eine feinziselierte soziale Skulptur, die durch grobes Handeln und durch mangelnde Solidarität durchaus ihrer grossen Vorteile verlustig gehen kann. Ich wünschte mir, dass Sie hier mehr Verantwortung für den Erhalt dieses Meisterwerks zeigen würden. Ich will aber nicht weiter schulmeistern. Ich lebe jetzt in einem Land, wo, im Gegensatz zur Schweiz, vieles schief hängt. Merkwürdigerweise belebt mich dies auf eine Art und animiert mich zum Schreiben meiner Blogs. – Ich grüsse Sie und wünsche Ihnen die Rückgewinnung der Reputation in meinen Kreisen. Ich würde mich darüber sehr freuen.
* * *
Herr Köppel bedankt sich für meine Ausführungen und meint, er würde es sehr interessant finden, sich darüber mit mir einmal zu unterhalten. An dieser Stelle reut es mich am meisten, ihn nicht zitieren zu dürfen, denn in seiner Antwort legt er so etwas wie ein politisches Bekenntnis ab. Auch er sähe die feinziselierte Schweiz in Gefahr, weshalb er eben in die Politik gestiegen sei. Dass er polarisiere, sei wohl mehr der Eindruck anderer. Aber man müsse doch die Unehrlichkeit in Bern und die Nichtbeachtung unserer Verfassung benennen! Sicher hätte er sich zuweilen unnötig drastisch ausgedrückt. Keiner sei schliesslich perfekt. Und dann nennt Köppel ein paar Namen, deren Denken für ihn die Art von Freisinn verkörpert, dem er selbst nachlebe. Im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stehe das klassische Milizsystem der politischen Schweiz, das eben erlaube, seine Gedanken unmittelbar in die Politik zu tragen und so zur feinziselierten Schweiz-Skulptur beizutragen: Herbert Lüthy, Karl Schmid und Lorenz Stucki.
Lieber Herr Köppel – Ich weiss nicht, wie ich es verdiene, dass Sie sich so viel Zeit nehmen für mich, vielleicht wird sich das später weisen. Karl Schmid ging in unserem Haus ein und aus. Er fragte mich, was ich tun müsse, wenn Sirenen heulen. Ich wusste es nicht, und er meinte: Transistorradio einstellen. Anschlussfrage: Und was ist das Wichtigste, wenn die Sirenen noch nicht ertönen? Wiederum wusste ich die Antwort nicht. Er: Genügend geladene Batterien für den Transistor bereithalten. – Das war der kalte Krieg, und zuweilen entstieg er seinem VW-Käfer in seiner Oberst-im-Generalstab-Uniform. [...] Von Lorenz Stucki weiss ich weniger zu erzählen, mir gefiel einfach sein Vorname, weil er mich an einen meiner entfernteren Cousins erinnerte. Den Historiker Lüthy habe ich leibhaftig nie erlebt und auch nicht gelesen. Rolf R. Bigler (einem anderen Ihrer WeWo-Chefredaktoren-Vorgänger) jedoch begegnete ich öfters an der Winkelwiese. Er bewohnte zusammen mit seiner damaligen Frau, der Schauspielerin Christiane Hörbiger, an der Frankengasse ein Haus.
Ich glaube, diese Vorbilder kann man zwar in Ehren halten, aber die Welt hat sich in den letzten 30 Jahren derart gewandelt, die Globalisierung hat ein derartiges Ausmass erreicht, dass ich glaube, man sei besser beraten, das Haus des Liberalismus neu zu bestellen. Und das heisst für mich: Sich nicht vorschnell auf eine Seite schlagen, sondern das Gute von überallher besorgen und die eigene Meinung auf 80 Prozent Richtigkeit kalibrieren. So hat man Spiel- und Verhandlungsraum. Der politischen Bewegung, der Sie sich verpflichtet fühlen, fehlt es immer an diesen 20 Prozent Gelassenheit und Spielmasse. Da geht immer alles auf tutti. So zwingt man sich in die Minderheit und verliert ständig bei stets rabiaterem Wirken.
Schauen Sie, das Leben und die damit verbundene Kommunikation ist sehr stark eine Stilfrage. C’est le ton qui fait la musique. Das ist es, was mich an Ihrem gegenwärtigen journalistischen und politischen Agieren so abstösst. Das Wettern hat so etwas Ohnmächtiges an sich. Eignet sich für eine Show, und für den Journalismus braucht es ja auch ein gewisses Aufsehen, sonst nimmt man den Sachverhalt oder die Meinung gar nicht zur Kenntnis. Doch wenn es wirklich um Reformen und um den Fortbestand des Erreichten unter neuen Vorzeichen geht, so kann es nicht sein, dass der eine sich im Vollbesitz der Wahrheit wähnt und so die anderen vorsätzlich vor den Kopf stösst. Ich weiss, es tönt etwas moralinübersäuert, aber ich befürchte, Iwan Rickenbacher würde heute wohl nicht mehr von diesem Marschallstab sprechen, den Sie dereinst im Tornister führten. Denn zum Marschallstab gehören eine spezifische Souplesse und der Applaus von der richtigen Seite, um das, was man will, mit Verbündeten auch umzusetzen. – Sie gehören jetzt einer bellenden Minderheit an, und je lauter diese Meute Sie antreibt (oder Sie treiben diese an), umso eher verengt sich die Chance, sich eine gemeinsame Zukunft auszuhecken, worin sich alle für sich selbst ein attraktives Plätzchen vorstellen könnten.
Ich habe meinen Vater als Politiker erlebt, und irgendwo erinnern mich Ihre Ausfälle an ihn. Er war genauso einer, der die Fehler immer bei den anderen sah und entsprechend unerträglich war. Dazu habe ich auch den Blogbeitrag Auf den Armen meines Vaters geschrieben. Vorher noch ein Zitat von Ihnen: Nobody is perfect. Das sollte nicht nur als Richtlinie zur Beurteilung anderer gelten, das muss in erster Linie für sich selbst gelebt werden. Da sehe ich bei Ihnen eindeutig zu wenig davon. [...]
Mit freundlichem Gruss
* * *
In seiner Antwort bezeichnet Köppel meine Ausführungen als hochinteressant. Ihm gehe es aber nicht ums Blossstellen von Leuten, sondern um die Beobachtung, dass es «da draussen» Entwicklungen gebe, die nicht gut für die Schweiz seien. Er nennt als Beispiel die Gefahr der Preisgabe der Selbstbestimmung der Schweiz. So sei er das Risiko eingegangen, den Käfig der politischen Korrektheit zu verlassen und den Applaus von der angeblich richtigen Seite zu verlieren, um seiner Überzeugung Ausdruck zu verleihen. Er sei vom eifrigen Habermas- organisch zum Hume-Leser und intellektuell Konservativen geworden. Gleichwohl schlage er keine Türen zu und lade zu Diskussionsveranstaltungen auch Andersdenkende wie Daniel Jositsch, Corrado Pardini, Tamara Funiciello und Anita Fetz ein, und als Wahlberichterstatter habe er sogar einen wie Cédric Wermuth verpflichtet. Dann erkundigt sich Köppel noch nach dem politischen Wirken meines Vaters.
Lieber Herr Köppel – Kann schon sein, dass Sie keine Türen zuschlagen. Aber Ihre Auftritte veranlassen andere, die Türe zuzuschlagen, vor allem dann, wenn Sie anderen den guten Willen absprechen und sie beschimpfen. Sie sind solchen Dingen gegenüber offenbar immun. Es kann doch nicht sein, dass Sie sich Ihrer Wirkung nicht bewusst sind. – Die Politik meines Vaters kenne ich nicht so genau. Da war ich noch ein Bub, als er im Nationalratssaal sass. Er reiste oft herum, ich nehme an, er gehörte der aussenpolitischen Kommission an. Sonst aber habe ich eher den Abfall mitbekommen, seine Früste, wie ich sie in meinem kleinen Blogtext geschildert habe. Er verehrte auch Nixon und besass südafrikanische Aktien zu Zeiten der Apartheid. Ich denke, er war extrem konservativ.
Der nächste Abschnitt meines Schreibens steht hier ganz zu Anfang des Textes: Wie verfahren wir weiter ...
* * *
So weit also mein Kontakt zu Roger Köppel. Er scheint privat ein sehr netter und zugänglicher Mensch zu sein. In solchem Rahmen geäusserte Kritik hält er für hochinteressant und gibt dem Gegenüber das Gefühl, gewürdigt zu werden. Aber es veranlasst ihn in keiner Weise, die eigenen Einstellungen und die eigene Wirkungsweise zu überprüfen. Die Formel, die er dazu bemüht: Nobody is perfect. Da es ihm aber um die Sache gehe, würden halt gezwungenermassen manchmal Fetzen fliegen. Hierzu würde seine Äusserung passen, dass er sich für relativ instinktiv und für wenig strategisch-politisch halte.
Unsere kleine Korrespondenz ruft mir ein Filmporträt in Erinnerung, das vor langer Zeit über ihn gedreht worden ist. Ich finde es auf Youtube nicht mehr, und auch die WeWo-Website hilft mir nicht weiter. Ich kann mich aber erinnern, dass Roger Köppel in einer Sequenz zu sehen ist, wie er auf einer Wanderung innehält und in die hehre Bergwelt blickt. Dort legt er das Bekenntnis ab, dies sei die Schweiz, die verteidigt werden müsse, so etwas Einmaliges. Es ist in der Tat eine grossartige Kulisse, das Reduit. Menschen darin sind allerdings keine auszumachen.

© Nikolaus Wyss

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Donnerstag, 8. Februar 2018

Wenn das Schaumbad kalt wird


Hast du dich jemals geoutet?
Das Outing gehörte in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts noch nicht zum Repertoire homosexueller Praxis. Ich gehörte zu denen, von denen man es annahm oder wusste, weil ich in entsprechenden Kreisen verkehrte, mich mit Freunden umgab statt mit Freundinnen oder allein blieb. Ich selbst hatte eher Mühe, unaufgefordert darüber zu reden. Es gab aber immer wieder Momente, in denen jemand, der von meinen Neigungen wusste, mich höflich fragte, ob es mir nichts ausmache, darüber zu sprechen, sei es, weil er oder sie selbst davon betroffen war oder aus Neugier, weil er oder sie es sich nicht vorstellen konnte, wie Homosexuelle es miteinander treiben. Diese Initiativen nahm ich gerne an und sprach dann jeweils auch ohne Hemmungen aus, was ich fühle und wie ich damit umgehe.
Trotzdem kein offizielles Outing?
Ich habe diesbezüglich nie eine offizielle Verlautbarung gemacht, so wie es zum Beispiel seinerzeit der Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit getan hat. Ich hatte auch nie eine solche Bühne dafür, was mir durchaus entgegenkam. Einzig bei meiner Mutter sprach ich einmal im Sinne einer Deklaration meine sexuellen Gefühle offen an. Daran erinnere ich mich genau. Wir sassen auf dem Badewannenrand, weil ich gerade Wasser einliess für ein Schaumbad, das dann aber wegen des langen Gesprächs erkaltete.
Die grösste Sorge meiner Mutter bestand darin, ob sie wegen ihres Erziehungsstils oder wegen der Abwesenheit eines Vaters eventuell mitschuldig sein könnte an meiner sexuellen Orientierung. Dabei konnte ich mir durchaus vorstellen – und das sagte ich ihr damals –, auch mit einer Frau zusammenzuleben. Doch sie meinte, ich solle dies einer Frau nie antun, was ich aus heutiger Sicht und im Wissen um die tausend Varianten von Zusammenlebensformen etwas merkwürdig finde. Denn ich war damals darauf aus, mir alle Möglichkeiten offenzuhalten. Das Ablegen eines Bekenntnisses hätte ich als Einschränkung empfunden, als Festgenageltwerden – nicht als Befreiung.
Dann bereitete dir wohl die Outing-Welle von Rosa von Praunheim anfangs der 1970er-Jahre eher Mühe.
Ja, ich fühlte mich nicht eingeladen, die Ziele seiner Schwulenherrschaft zu den meinen zu machen. Bekannt in der Öffentlichkeit wurde er 1971 mit seinem qualitativ schlecht abgedrehten Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt. In den darauffolgenden Jahren stellte er Personen des öffentlichen Lebens bloss, die im Versteckten schwul waren. Diese Aktionen sollten andere, die nicht offen zu ihren Gefühlen zustehen vermochten, ermutigen oder gar zwingen, sich zur eigenen Homosexualitätzu bekennen. Statt mich aber von Rosas spektakulären Aktionen in meinem eigenen Werdegang unterstützt zu fühlen, gewann ich damals von ihm und seinen militanten Gesinnungsgenossen eher das Bild einer aggressiven Zicken-Community, die eifersüchtig darauf bedacht war, ohne Rücksicht auf Verluste und persönliche Dramen andere Menschen für eigene Anliegen auszunützen. Das stiess mich ab. Die wichtige, ja notwendige Dimension des politischen Anliegens, nämlich die Homosexualität endlich aus dem Schatten eines kriminellen Vergehens zu lösen, vermischte sich hier auf unglückliche Weise mit einem Bekenntnisdruck, der in meinen Augen der Dynamik des Anliegens entgegenstand und potenzielle Kandidaten wie mich eher vergelsterte. Einzig bei einflussreichen Personen, die öffentlich gegen Schwule hetzten, obwohl sie selbst schwul waren, fand ich Spass an Rosas Aktionen.
Du bliebst also lieber «in the closet»?
Ich war fest überzeugt, dass mich das Schwulsein nicht glücklich macht. Ich brachte es immer in Verbindung mit unerfüllter Sehnsucht und unerwidertem Verlangen. Das hat einerseits mit der damaligen gesamtgesellschaftlichen Situation zu tun, andrerseits aber auch mit der persönlichen Gewissheit, dass mich nur eine eigene Familie glücklich machen würde. Mich beeindruckte immer wieder, wenn Väter betonten, wie wichtig ihnen ihre eigenen Kinder seien. So etwas hätte ich gerne auch einmal gesagt. Dieser Stolz, ja, dieser Kult um die eigene Brut entschädigt wohl für sexuelle Frustration, Stress mit der Ehefrau und berufliche Unzufriedenheit. Diese Art von gesellschaftlicher Gratifikation hielt ich für attraktiv. Ich wollte nicht akzeptieren, dass mir dies verwehrt sein sollte. Zur Überprüfung meiner heterosexuellen Fähigkeiten übrigens – das klingt jetzt lächerlich, und ich sage es nur so am Rande – ging ich in Frankfurt am Main, wo ich Ende der 1980er-Jahre wohnte, des Öfteren ins Rotlichtviertel und traf mich dort mit Cecilia aus der Karibik. Das hatte durchaus romantische Züge. In solchen Momenten war für mich die Welt in Ordnung und stärkte mich im Glauben, irgendeinmal doch noch mit einer Frau eine Familie zu gründen und glücklich zu sein.
Haben dich denn Frauen glücklicher gemacht als Männer?
Im Sinne der Nachhaltigkeit und meiner biederen, konventionellen Gesinnung schon. War ich des Nachts mit einer Frau zusammen, so befand ich mich am darauffolgenden Tag auf Wolke sieben. Ich spürte Kraft und erfuhr mich als Mann, der Frauen vögelt, und der darum den übrigen Anforderungen des Alltags gewachsen ist. Verbrachte ich hingegen die Nacht mit einem Mann, so stellte sich nach der Verabschiedung sofort wieder das Verlangen nach einem weiteren Treffen ein. Es machte mich für den Rest des Tages schwach und raubte mir alle Energie, die ich gerne für Produktiveres gebraucht hätte.
Das tönt nach verpasstem Leben.
Naja, so weit würde ich nicht gehen. Es geht ja eher darum, aus unveränderbaren Gegebenheiten etwas Sinnvolles zu machen. Nur brauchte ich vielleicht etwas länger als der Durchschnitt, mit mir selbst zurechtzukommen. Ich galt zwar immer als originell und innovativ. In dieser Hinsicht sah man mir die emotionalen Lücken nicht an, auch wenn sie mich stets begleiteten. In meinen Beziehungen zu Männern kaprizierte ich mich folgerichtig auf familienähnliche Verhältnisse. Zunächst waren die Freunde so etwas wie meine jüngeren Brüder. Später waren sie eine Art Ziehsöhne, und heute würde ich mich gegenüber meinem kolumbianischen Partner als Schweizer Grossonkel bezeichnen.
Du selbst hattest nie einen väterlichen Freund?
Nein, nie. Als ich jung war, stiessen mich ältere Männer ab. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich ein jüngerer Mensch je mit einem reifen Mann einlassen kann. Entsprechend Angst hatte ich, selbst alt zu werden und in eine Einsamkeitsfalle zu tappen, worunter übrigens viele alternde Schwule leiden. Doch im Verlauf meines eigenen Lebens erlebte ich den Vorteil, dass nicht alle so ticken wie ich. Gott sei Dank. Es scheint, dass mir die heutige Onkelrolle ganz gut bekommt. Ein bisschen inzestuös, auch wenn die Sexualität in den meisten Beziehungen zugunsten anderer Schwerpunkte im Zusammensein beziehungsweise gemeinsamer Interessen nie dominierte. Zum vaterähnlichen Familiengefühl gehört auch der Stolz auf die vielen Verdankungen und Credits meiner Person in Doktor- und Masterarbeiten meiner «Söhne» und «Neffen». So fand mein Name Eingang in einer nigerianischen, einer ghanaischen, zwei indonesischen, einer malaysischen, zwei englischen und drei kolumbianischen Hochschulbibliotheken.
Heutzutage können Schwule heiraten oder sich verpartnern, sie können künstlich oder natürlich Kinder zeugen und aufziehen und kommen somit einem «normal»-bürgerlichen Leben näher als noch zu Zeiten, als du jung warst.
Ja, die Diversität explodiert in unseren aufgeklärten, westlichen Gesellschaften geradezu. Für jede Variante sexueller Identität gibt es heutzutage Fachwörter und Selbsthilfegruppen und Anträge für Anerkennung und Legalisierung. Nur traue ich dieser Freiheit von heute nicht so ganz. Sie scheint mir durch den sich abzeichnenden moralischen Neokonservatismus in aller Welt gefährdet. Globale Institutionen wie die Kirchen setzen auf Rückbesinnung und Tradition und verbünden sich mit entsprechenden radikalen politischen Kräften. Besonders deutlich sieht man dies in Afrika und Lateinamerika, nicht zuletzt verursacht durch evangelikale Prediger und Missionare, die grösstenteils aus den USA stammen. Es geht hier um Vorherrschaft. Gegen Schwule zu hetzen, ist in bildungsschwachen Regionen ein probates Mittel, sich Macht zu sichern. Denn die Schwulen sind keine Mehrheit, sie brauchen Verbündete, die dort schwer zu finden sind. Indem sich eine satte Mehrheit gegen das «sündhafte Leben» ausspricht, schlägt sie sich auf die sichere Seite. Damit kommt sie erst noch in den Himmel. Auch im orthodoxen Osteuropa und im Islam ist diese Art von Moral eine scharfe Waffe, und in China ist der familiäre und durch die Partei sanktionierte Druck auf Schwule derart gross, dass viele unter diesem Zwang heiraten oder emigrieren. Ich habe also meine Zweifel, ob unter diesen grossräumigen Veränderungen die Anerkennung sexueller Varianten aufrechterhalten werden kann.
So ein pessimistisches Schlusswort!
Kein Schlusswort. Nur eine Beobachtung, vielleicht auch eine Rückbesinnung auf die Aktivitäten eines Rosa von Praunheims und anderer Aktivisten von damals. Gerade unter diesen schleichenden Veränderungen scheint es mir wichtiger denn je, auf die Normalität und Daseinsberechtigung von Schwulen hinzuweisen und um deren Respektierung zu kämpfen. Es darf nicht sein, dass meine Generation lediglich Nutzniesserin eines kurzen Zeitfensters war, wo man sich eine eigene schwule Biografie zusammenstellen konnte, während meine jungen «Neffen» wieder mit dem tiefen Mittelalter zu kämpfen haben: von ihren Familien verstossen, von der Gesellschaft ausgegrenzt. Je älter ich werde, umso reifer bin ich, mich auf diesen Kampf um Chancengleichheit und Anerkennung einzulassen, sofern es mir die eigenen Kräfte noch erlauben.

Donnerstag, 1. Februar 2018

Bergnot auf dem Ruiz


Der Nevado del Ruiz, mit seinen 5311 Metern über Meer der zweithöchste aktive Vulkan auf der nördlichen Erdhalbkugel, ist meistens in Wolken gehüllt. Als ganzes Gebirgsmassiv erfasste ich ihn erst kürzlich auf einem Flug nach Medellín. Von oben ist er kein eleganter Kegel, wie man sich Vulkane gemeinhin vorstellt, nein, er liegt eher da wie ein Gürteltier mit weissem Panzer. In Lauerstellung. Oder wie ein aufgequollenes Geschwür, das von Zeit zu Zeit Eiter in Form von Asche und Lava absondert. Unvergessen das Unglück von Armero im Jahre 1985, als bei einem Ausbruch die Eiskappe an der Nordkante des Ruiz wegschmolz, sich als Schlammlawine zu Tale ergoss und über 20 000 Menschen unter sich begrub.
Beim Überflug dieses Gebirges erinnere ich mich jetzt, wie wir vor bald 50 Jahren diesen Berg von Manizales aus bestiegen haben. An meinem Geburtstag. Wir waren zu fünft, fuhren eng aneinandergequetscht in einem Jeep auf einer kurvenreichen Schotterstrasse bergauf durch bizarre Mondlandschaften und stellten fest, dass nicht nur wir, sondern auch der Motor der dünnen Luft wegen Mühe bekundete. Irgendwo hörte dann die Strasse auf. Wir liessen das Fahrzeug stehen und stiegen, schwer atmend, mit Sack und Pack noch ein paar 100 Meter weiter aufwärts, bis wir eine Berghütte erreichten. Sie stand gerade unterhalb der Firngrenze. Drinnen hatte der Hüttenwart ein heimeliges Kaminfeuer angefacht, doch er kriegte den Raum damit nicht warm. Nicht einmal die Suppe war richtig heiss. Für die Nacht richteten wir uns sternförmig ums Feuer ein. Die Füsse warm, der Oberkörper kalt, trotz dicker Decken. So ist es, wenn die Luft die Wärme nicht mehr zu tragen vermag. Meine Nacht verlief weitgehend schlaflos und wurde von starkem Kopfweh begleitet. Darauf war ich gefasst, das gehörte, liess ich mir sagen, zur üblichen Höhenerfahrung ungeübter Berggänger.
Noch im Dunkel des nächsten Morgens machten wir uns auf den Weg und stiegen über körnigen Firn bergan. Die Route galt nicht als schwierig, und die Gletscherspalten waren gut erkennbar. Je höher wir kamen und je flacher es wurde, umso strenger roch es nach Schwefel. Ausgerechnet jetzt setzte sich Nebel fest, und wir verloren die Orientierung. Es war weiss, wohin wir blickten. Gingen wir auf die eine Seite, endeten wir an einer Gletscherspalte. Gingen wir auf die andere, so meinten wir bereits am Kraterrand des Vulkans zu stehen. Es stank penetrant nach faulen Eiern. Wir wussten weder ein noch aus. Woher waren wir des Wegs gekommen? Wo ging es wieder hinunter? Hinter dem gleissenden Weiss des Nebels und des Firns lauerten überall Hindernisse und Ungewissheiten. Ratlos blieben wir stehen, breiteten die Windjacken aus, setzten uns in den Schnee und begannen, unsere Sandwiches zu essen und an Dörrfrüchten zu knabbern. Wir lächelten uns verlegen an und mochten uns nicht einzugestehen, dass wir in Bergnot geraten waren. Stunden vergingen, der Mittag war längst vorbei, der Nebel tat keinen Wank. Die Augen begannen zu brennen und zu tränen. Nennt man das nicht Schneeblindheit? Selbst wenn sich der Nebel gelichtet hätte, wären wir kaum noch imstande gewesen, etwas zu sehen. Doch dann, es mochte vier Uhr nachmittags geworden sein, bekam die Nebelfront endlich Risse. Jetzt konnten wir uns immerhin am Sonnenstand orientieren, wussten, wo Süden ist, und wir machten uns in diese Richtung auf den Weg. Es nachtete ein, als wir wieder zur Hütte gelangten, von der wir, mehr als zwölf Stunden zuvor, aufgebrochen waren.
Die Heimfahrt war insofern gefährlich, als niemand mehr von uns so richtig scharf sehen konnte. Nach unserer Rückkehr mussten wir alle mehrere Tage in dunklen Zimmern verbringen, bis das sandige Gefühl aus den Augen gewichen war. Vom Arzt bekamen wir Tropfen, Salben und Spritzen.
Noch etwas: Wenige Wochen später erhielt ich von meiner Mutter einen Brief, worin sie mich beunruhigt fragte, ob es mir gut gehe. An meinem Geburtstag sei nämlich mein Lieblingsbuch von damals, Der Fänger im Roggen, vom Büchergestell gefallen.

© Nikolaus Wyss

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