Donnerstag, 9. Februar 2017

Auf den Armen meines Vaters


Eines der wenigen Bilder aus meiner Kindheit, das so etwas wie heiteres Familienleben suggeriert, ist eine Fotografie, auf der mich mein Vater auf seinen Armen trägt. Ich dürfte damals zwei gewesen sein. Meine Mutter hat es aufgenommen. Sie war wahrscheinlich glücklich, damit einen Augenblick eingefangen zu haben, der zwar nicht der täglich gelebten Realität, aber der erstrebten, kaum je erreichten Idee einer familiären Harmonie entsprach. Nüchtern schrieb sie später dazu ins Album: 17. Mai. Elefantenbach, Degenried, Klus.
Ich erinnere mich nicht an diese Szene. Mein Gesichtsausdruck lässt aber eine gewisse Verlegenheit, ja Skepsis erahnen. Ich war mir schliesslich solche Momente des Familienglücks nicht gewohnt. Der Vater kam nur selten und normalerweise nur kurz zu Besuch. Er übersprang auf seiner Heimfahrt von Bern nach St. Gallen einfach einen Zug. So blieb er mir fremd. Die Zeit für eine Anfreundung reichte nicht. Meiner Mutter schien es damals gleich zu gehen. Sie wusste nicht, worüber sie sich mit ihm bei seinen kurzen Visiten hätte unterhalten können. Sie schwiegen sich an. Bedrückende Minuten lang. So habe ich es in Erinnerung.
Mein Vater war Politiker, und er sah die Politik als Schlüssel zu einer glanzvollen Karriere, die ihn in allererste Positionen unseres Landes hätte bringen sollen. Ihm schwebte die Führung eines Eidgenössischen Amtes oder einer Botschaft vor, in Peking zum Beispiel oder in Ottawa. Leider schien er aber immer von elenden Widersachern und bösen Intriganten umzingelt zu sein, sowohl im St. Galler Grossrat wie auch später im Nationalrat in Bern. Sie spielten ihm übel mit, so liess er uns wissen, und er hatte keine Hemmungen, bei uns im trauten Heim seine Gegner als Schleimer, Scheinheilige und Verräter zu bezeichnen. Bis auf den heutigen Tag habe ich jedoch nie genau herausgefunden, was denn schiefgelaufen war. Er wechselte sogar die Partei, um seinen Feinden zu entkommen, geriet damit aber vom Regen in die Traufe. Nach seinem Austritt aus der Freisinnig-Demokratischen Partei landete er beim Landesring der Unabhängigen. Dort schien er sich zwar innert kürzester Zeit den Ruf eines talentierten und nützlichen Juristen erworben zu haben, wandelte sich aber zusehends zum dienstfertigen Helfer seines übermächtigen Parteichefs Gottlieb Duttweiler, der ihm vor dem Licht stand.
Ausbrüche des Zorns verbargen sich bei seinen seltenen Besuchen normalerweise hinter diesem unerträglich langen, eisigen Schweigen, das grundsätzlich zwischen meinen Eltern herrschte und das zuerst durchbrochen werden musste. Das Signal dazu gab Mutter, indem sie in Ermangelung anderer Themen jeweils die Frage aufbrachte, wie es Dutti gehe. So konnte sie sicherstellen, dass für eine Weile Lärm die Stille durchbrach. Unangenehm zwar, doch weniger bedrückend als ätzendes Schweigen. Ihre Frage löste regelmässig Schimpftiraden aus. Vater begann lauthals über diese himmeltraurigen Schafseckel in Bern zu klagen, und aus seiner Empörung, die auf mein zartes Alter keine Rücksicht nahm, meinte ich schon als kleiner Bub Enttäuschung, Verzweiflung und Ohnmacht zu hören. Die kindliche Schlussfolgerung war klar: Die Politik ist ein dreckiges Geschäft und hinterlässt nichts als Opfer und Schäden.
An diese Erkenntnis hielt ich mich mehr oder weniger mein Leben lang. Über das stille Sympathisieren für das eine oder andere politische Anliegen hinaus liess ich mich nicht auf Politik ein und fuhr damit nicht schlecht. Ich ging zwar immer wählen und abstimmen, war aber keiner Partei treu und bewarb mich auch für kein Amt – mit Ausnahme des einen Males, wo ich in jungen Jahren, kaum zurück aus Lateinamerika und geprägt vom schrecklichen Bürgerkrieg in Kolumbien und von den Befreiungsbemühungen der Guerillas, Vilma Hinn und Niklaus Scherr, Nachbarn von mir, den Gefallen tat, mich zur Vervollständigung der POCH-Liste für den Zürcher Gemeinderat als Parteiloser auf letzter Position aufstellen zu lassen. Die Wahlen gingen ohne grosse Folgen an mir vorüber, nicht einmal zu einer Fiche bei Ernst Cincera reichte es.
Gleichwohl: Als ob dieses kurze politische Bekenntnis nach Ausgleich gerufen hätte, war ich im Jahr darauf während einiger Woche als Schreiberling im Lohn der SVP, bis sie merkten, dass wir wohl das Heu nicht unbedingt auf der gleichen Bühne hatten. Das war noch lange vor Christoph Blochers Zeiten. Das war es denn auch schon.
Im Spätherbst 2014, zu einer Zeit, in der sich andere in meinem Alter auf ihre Schrebergärten oder in ihre Kondominien nach Spanien oder Thailand zurückziehen, wo Altersgenossen von mir, aufgehetzt von einem Thomas Minder, einer Natalie Rickli, einem Adrian Amstutz, einem Lukas Reimann, einem Gregor Rutz oder einem Christoph Blocher online unflätige Äusserungen über die Lügner und Landesverräter in Bern absondern, welche mich in unangenehmster Weise an die lauten Besuche meines Vaters in unserem trauten Heim erinnern, 2014 also bewarb ich mich um einen Sitz im Zürcher Kantonsrat. Welcher Teufel ritt mich damals? Was brauchte ich noch zu wissen von diesem Leben? Was für Feinde suchte ich mir, unter denen ich schon zu Vaters Zeiten hatte leiden müssen? Immerhin hatte ich ja schon die unangenehmsten Erfahrungen im Schlieremer Stadtparlament hinter mir, wo all diese Intrigen und Scharmützel im Miniformat, diese Austricksereien und Unterschiebungen zum Alltag gehörten. Wahrscheinlich meinte ich, dass es im Kantonsrat etwas gesitteter zu und her ginge.
Ich bewarb mich also als Spitzenkandidat meiner Partei, Sektion Limmattal, für einen Sitz im kantonalen Parlament, ging einige Male vorher zu Ratssitzungen, sah von der Tribüne herab auf all diese Frauen und Männer, die sich bei Reden der Gegenpartei demonstrativ taub stellten, und ich überlegte mir noch, welche Umstände es macht, mitten in der Sitzung aufs Klo gehen zu müssen: Die ganze Bankreihe musste dafür aufstehen, so eng war die Anlage.
Es kam nicht so weit. Gewählt wurde mit 75 Stimmen mehr die Zweitplatzierte auf der Liste. Ich hatte die Wahl, mich entweder beleidigt zu fühlen – oder erleichtert. Ich entschied mich, eingedenk meines Vaters, für Zweiteres. Und das ist gut so. Bereut habe ich diese Schicksalswendung seither nie. Sie erlaubte mir, nochmals einen biografischen Schritt zu vollziehen.

5 Kommentare:

Urs Frey hat gesagt…

...und hast dich in dein Kondominium in Kolumbien zurückgezogen...:-)

Nikolaus Wyss hat gesagt…

naja, zurückgezogen eigentlich nicht. Ich habe damit eher meinen Lebenskreis etwas erweitert...

Urs Frey hat gesagt…

Genau. Diese Erweiterung des Lebenskreises dürften wahrscheinlich auch viele Wahl-Spanier und -Thailänder (zu denen ich mich zähle) für sich in Anspruch nehmen. Vielleicht sogar jemand, der aus seinem HLM ausbricht und sich einen Schrebergarten zulegt???

Nikolaus Wyss hat gesagt…

Naja, jeder ist seines eigenen Glückes Schmied, zumindest in der Schweiz. In fremden Landen hingegen erfährt man aber auch, dass es für Ortsansässige ungleich schwieriger ist, sein Schicksal selber zu bestimmen. Der ökonomische Druck, die Bildungssituation, die politischen Realitäten und die Wertvorstellungen stehen einem Wechsel/Wandel hin zu einem verheissungsvolleren Leben of brutal entgegen.

Anonym hat gesagt…

Nikolaus. Ich muss immer wieder mit hohen Erstaunen feststellen, was du für eine talentierte Schreibweise besitzt. Es bereitet mir immer wieder ein literarisches Vergnügen deine Texte zu lesen. Die sowohl mit bedacht, als wie auch authentisch geschrieben sind. Chapeau! Was gibt es neues aus Bògota?

Beste Grüsse aus dem verschneiten Samnaun