Freitag, 27. April 2018

Was ist noch hängig?

Chlöiseli in Tante Trudis Bergli im Neckertal


Hier ein paar Fragen zu Unerledigtem. Gibt es Dinge, die noch bereinigt werden müssten, bevor du gehst?
Ich laufe nicht mit dem Gewicht eines schweren Pakets von Unerledigtem herum, das noch abgetragen werden müsste, bevor ich sterbe. Mein Paket ist ein Päckli – relativ leicht. Die Einsicht, dass ich doch nichts ungeschehen machen kann, hilft mir, es zu tragen. Dieses Gepäck begleitet mich lediglich wie die Furchen im Gesicht und die erschlafften Muskeln: Wenn ich mich nicht gerade im Spiegel betrachte, so sind sie mir wurst. Mir kommen zwar jeden Tag Dinge in den Sinn, die in meinem Leben nicht so gelaufen sind, wie sie hätten verlaufen sollen: Missverständnisse, Verletzungen, Ungeklärtes, Übergriffe, Sachen, die ich seinerzeit einer besseren Lösung hätte zuführen müssen, Umstände auch, wo mir andere etwas schuldig geblieben sind oder mich betrogen haben. Das Wunderbare ist jedoch, dass sich diese Erinnerungen und Gedanken meistens nach kurzer Zeit wieder verflüchtigen, sei es, weil ich mich von Schönerem ablenken lasse oder weil sie von anderen Dingen, die auch noch unerledigt oder ungelöst geblieben sind, abgelöst werden.
Keine Vorwürfe, die dich dein Leben lang begleiten und dir deine Lebensbilanz versauen, wie es bei deinem Vater selig der Fall war?
Es gibt ein paar wenige, wiederkehrende Erinnerungen, die über die Jahre hinweg in meinem Gefühlshaushalt einen Sonderstatus gewonnen haben. Sie sind wie alte Bekannte, die mich manchmal aufsuchen und mir Gelegenheit geben, meine Scham oder meine Wut zu pflegen, damit ich mich nicht allzu fest in meinem Seelenfrieden suhle. Eine Portion schlechtes Gewissen oder das leidenschaftliche Kultivieren von gewissen Feindbildern hält einen lebendig. Deshalb denke ich nicht im Traum daran, mich dieser Erinnerungen zu entledigen durch irgendwelche Sühne- und Bussenrituale. Sie weisen vielmehr auf die engen Grenzen meiner eigenen Vollkommenheit hin. Das ist ganz vernünftig.
Beispiel?
Zum Beispiel Tante Trudi. Hier geht es um Scham. Immer wenn meine Mutter für längere Zeit geschäftlich verreisen musste, steckte sie mich ins Bergli im Neckertal, Toggenburg. Das war ein Kinderheim für Fälle wie mich. Es war das Lebenswerk von Tante Trudi, die eigentlich gelernte Färberin war und viel von Chemie verstand. Zum Frühstück gab es Porridge und anschliessend zum Calciumaufbau der Kinderknochen sandigen Säntis-Kalk auf Butterbrot, und abends formten wir ums Spinett einen Kreis und sangen fromme Lieder. Ich war zwischen meinem dritten und meinem 14. Geburtstag vielleicht 35 Male dort für jeweils zehn bis 20 Tage. Im Bergli entwickelte ich mein ausserordentliches Talent zur Überanpassung. Heimweh verkniff ich mir und stieg damit bereits in jungen Jahren zur braven rechten Hand von Tante Trudi auf. Während sie zum Rechten sah, mit ungezogenen Kindern schimpfte und sie für ein verlängertes Mittagsschläfchen einsperrte, ging ich mit den anderen Kindern zur Post mit gut in der Tasche verstecktem Portemonnaie, wo uns Herr Lendenmann Briefmarken ausgab und Briefe und Pakete entgegennahm, die er dann behänd abstempelte. In unmittelbarer Nähe befand sich das Tiefkühlhaus, wo Tante Trudi in einem grossen Fach Beeren, Fleisch und Gemüse eingelagert hatte. Es gehörte zum besonderen Vergnügen für mich, zuerst den dicken Pelzmantel, der mir bis zum Boden reichte, anzuziehen, um mit ebenso dicken Handschuhen im eisigen Raum aus dem Bergli-Fach das Benötigte herauszuholen. Auch der Gang zu Bauer Naef unten im Talboden zählte zu meinen Pflichten. Bei ihm holte ich auf Monatsrechnung Butter und Milch. Zu meinen ungelisteten Aufgaben gehörte auch das Trösten der Kleinen. Ich putzte ihnen die Schnudernase, versah Hütedienste, überwachte den Sandhaufen und genoss als Bravster das Privileg, die Lieder für den abendlichen Gesang auswählen zu dürfen. Zum Lohn konnte ich abends länger aufbleiben oder musste nur die Hälfte dieses sandigen Kalkbrotes essen.
Der Kontakt zu Tante Trudi blieb auch bestehen, als ich im Bergli nicht mehr regelmässiger Gast war, weil ich mir, grossgewachsen, wie ich war, unter dem Türsturz den Kopf anzuschlagen begann. Sie schrieb mir ab und zu Briefe und jammerte ein bisschen, es sei nicht mehr so wie früher. Sie zog mich auch bei ihren Überlegungen zu Rate, ob sie nach ihrer Pensionierung an den Genfersee ziehen solle. Wohlerzogen, wie ich war, antwortete ich ihr, wenn auch immer eher etwas knapp und zeitlich verzögert. Die Überwindung meiner Widerstände kostete mich viel Kraft, befand ich mich doch jetzt in einem Alter, wo anderes angesagt war, die Entdeckung der Welt nämlich, die ersten Küsse, das Aufbleiben über Nacht, der erste Joint, der erste Rausch, die Jugendunruhen von 1968 ...
Als sie dann in Chexbres am Genfersee wohnte, beklagte sie sich in ihren Briefen, dass ich sie dort nie besuche komme.
Als ich 23 war und schon weit gereist, bat sie mich plötzlich um den Gefallen, ihren kleinen Neffen, der den Sommer bei seinen Verwandten in der Schweiz verbracht hatte, zurück nach Kanada zu begleiten. Seine Eltern mussten schon früher aufbrechen, und Tante Trudi wollte nicht, dass der Bub – er mochte damals etwa sieben Jahre alt gewesen sein – allein die grosse Reise unternahm. Also stellte ich mich nach kurzer Bedenkzeit für diese Unternehmung zur Verfügung, der Gratisflugschein lockte allzu sehr. Nachdem ich den Kleinen pflichtschuldigst in Montreal abgeliefert hatte, verbrachte ich vor meinem Rückflug in die Schweiz noch ein paar Tage in New York City. Ich erinnere mich gut an die Septemberhitze in dieser Stadt. Die Schuhe blieben auf dem Asphalt kleben, und das Deodorant versagte kläglich.
Nach meiner Rückkehr hätte ich Tante Trudi wohl den Vollzug meiner Mission vermelden müssen, doch ich konnte mich die ganze Zeit nicht darauf festlegen, ob ich mich jetzt bei ihr für die Reise bedanken sollte oder ob es ihre Aufgabe wäre, sich bei mir für den Begleitdienst zu bedanken. Irgendwie blieb ich in diesen lächerlichen Überlegungen stecken und liess ungebührlich viel Zeit verstreichen, ohne etwas von mir hören zu lassen. Stattdessen reiste ich ins Engadin zu Not Vital und seiner Familie und vergass mit der Zeit, was noch zu tun gewesen wäre. Und dann, Monate später im Hauptbahnhof Zürich, begegnete ich ihr zufällig – und ich grüsste sie nicht. Ich lief erhobenen Hauptes einfach an ihr vorbei, als ob ich sie nicht erkannt hätte. Das wars.
Krass.
Als sie Jahre später starb, vernahm ich, dass sie testamentarisch ihren liebsten Heimkindern etwas Geld vermacht hatte. Ich war nicht darunter. Klar. Recht hatte sie. Noch heute quält mich zuweilen mein Versäumnis, für das es keine Entschuldigung gibt.
Hast du heute wenigstens eine Erklärung für dein Verhalten damals?
Manchmal denke ich, es sei die spontane Konsequenz meiner andauernden Überangepasstheit im Kindesalter gewesen. Als überbraves Kind fühlte ich mich von Tante Trudi doch sehr vereinnahmt und meinte vielleicht, die Zeit für die Befreiung sei gekommen. Das interpretiere ich jetzt hinein. Damals war ich mir dessen nicht bewusst.
Mit deiner «Befreiung» hast du allerdings Schuld auf dich geladen.
Ich weiss, deshalb erzähle ich es hier ja. Und ich pflege diese Geschichte auch wie ein zartes Pflänzchen, aus obgenannten Gründen. Ich machte da wirklich eine ganz schlechte Figur. Sie bewahrt mich vor Übermut. Mein Selbstbild wird bis an mein Lebensende durch so ein Vorkommnis beschädigt bleiben und mahnt mich bei ähnlichen Gelegenheiten, im eigenen Handeln die Wirkungen gründlicher mit zu bedenken.
Moralisch, moralisch.
Naja, wenigstens hilfts ...
Hast du noch ein weiteres Beispiel mit Sonderstatus in deinem Gefühlshaushalt?
Etwas mit Wut vielleicht?
Bitte. Wir hören.
Also. Gegen Ende meiner Amtszeit als Rektor der Luzerner Kunsthochschule drang der Begriff Interdisziplinarität so langsam ins Bewusstsein unserer Führungsorgane. Er löste den bereits etwas angestaubten Begriff Nachhaltigkeit ab. Wir Hochschulleiterinnen und -leiter wurden aufgefordert, zuhanden des strategischen Steuerorgans der Fachhochschule Zentralschweiz FHZ Vorschläge einzureichen, womit Lehre und Forschung über die eigene Institution hinweg mit interdisziplinären Angeboten hätten bereichert werden können. Mir gelang es als Vertreter der Künstlerinnen und Designer die Idee eines Kreativitätslabors einzubringen in der Überzeugung, dass die Kreativität nicht das Privileg unserer eigenen Hochschule ist, sondern auch in allen anderen Disziplinen ihre Wirkung entfaltet. Ich nannte es Crealab. Nebst der Schärfung des Begriffs Kreativität wäre es in diesem Labor um die Erforschung von Rahmenbedingungen gegangen, unter welchen Kreativität zu sprudeln beginnt und unter welchen sie versiegt.
Es wurden Kredite für die Vertiefung des Vorhabens gesprochen, und ich machte mich, zusammen mit einer Vertreterin der Wirtschaftshochschule, die wegen ihrer Krebstherapie eine Perücke trug, ans Werk. Wir verstanden uns gut und reichten Monate später das verlangte Dossier ein, das wiederum zu gefallen schien. Da wurde mir klar: Wenn ich als Rektor zurücktrete, möchte ich mich gerne um die Leitung dieses zu gründenden Labors bewerben.
Ich trat zurück, wartete auf die Ausschreibung der ins Auge gefassten 50-Prozent-Stelle und reichte fristgerecht mein Bewerbungsdossier ein.
Nichts geschah. Weder wurde der Eingang meiner Unterlagen bestätigt, noch bat man mich je zu einem Bewerbungsgespräch. Später liessen mich meine eigenen Geschäftsleitungskolleginnen und -kollegen wissen, dass sie bereits einen Entscheid zu meinen Ungunsten getroffen hätten.
Das entspricht nicht gerade einer sauberen Corporate Governance. So geht man nicht mit einem langjährigen Kollegen um, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen ...
Würde ich auch sagen. Immerhin war ich zu dieser Zeit ja noch Mitglied dieses Gremiums, das die entsprechenden Entscheidungen zu fällen hatte, wenn auch in gekündigtem Zustand. Hinter meinem Rücken also vereitelten sie mir die Möglichkeit, mich um diese Stelle zu bewerben, die ich selbst geschaffen hatte.
Hatten sie wenigstens eine Begründung für ihr unfeines Tun?
Witzig! Sie wollten angeblich dem Eindruck entgegenwirken, dass man einem Geschäftsleitungsmitglied nach dessen Abgang einen Fallschirm verschaffen würde. Dazu muss man allerdings wissen, dass jeder, der als Rektor zurücktritt und noch ein bisschen arbeiten will, mit irgendwelchen Aufträgen bedacht wird. Noch heute. Ohne Bewerbung. Ganz unter der Hand, mit viel Rücksicht und Mauschelei. Ich war wohl der erste und einzige gewesen, der auf Mauschelei verzichtet hatte und mich ganz offiziell und mit dem Risiko, die Stelle nicht zu bekommen, beworben hatte. So weit wollten es aber meine feinen Kolleginnen und Kollegen von damals gar nicht kommen lassen, es hätte ja sein können, dass mein Beispiel einer ordentlichen Jobbewerbung Schule machen könnte.
Da schwingt bei dir eine schöne Portion Zorn mit, nach Jahren noch.
Ja, das war ein unschönes Schlussbouquet nach elf Jahren nicht unerfolgreicher Amtszeit. Ich kam mir vor wie der letzte Trottel. Ich gewann den Eindruck, alle seien froh, dass ich gehe. Und selbst hatte ich das Gefühl, eine solche Behandlung nicht verdient zu haben.
Im Gegensatz zu Tante Trudi leben hier alle Beteiligten noch, einige von ihnen haben ihren Abgang, wir wissen es, nach bewährter Manier und etwas raffinierter eingefädelt als du, mit grossen Fallschirmen jedenfalls. Möchtest du sie nicht zur Rede stellen?
Um Gottes Willen.
Wieso nicht?
Habe ich eingangs nicht erklärt, dass Ungeklärtes und schuldhaftes Verhalten anderer viel Energie und viele Vorteile für einen selbst in sich bergen, solange man nicht bei den alten Geschichten kleben bleibt, sondern die Energie nutzt für das Öffnen neuer Türen? Wäre ich zum Schluss korrekt und in allen Ehren behandelt worden, müsste ich mich jetzt auf den Lorbeeren ausruhen und hätte nichts zu berichten. Ich müsste dankbar sein. Die masslose Geringschätzung meiner Person durch meine Kolleginnen und Kollegen hingegen, die peinliche, unkorrekte Handhabung eines an sich simplen Bewerbungsprozesses versetzt mich heute in die Lage, Luzern nicht nostalgisch nachzutrauern oder gar zu verklären. Es gibt nur einen Weg vorwärts. Nie mehr möchte ich den Verursachern meiner misslichen Situation von damals begegnen.
Das nennt man Verdrängen. Ist in der Psychologie eigentlich verpönt.
Ich verdränge doch gar nicht. Ich berichte davon. Ich will es einzig so belassen. Der Friede ist mir in diesem Fall nicht wichtig. Im Gegenteil. Die Tatsachen beleben mich. Hätte doch sonst nichts zu schreiben in diesem Blog.
Ein weiteres Müsterchen?
Nein. Ich müsste schon zu überlegen beginnen. Das ist doch ein gutes Zeichen, dass nichts Weiteres ansteht.
Und wie war das, als der Fachhochschulrat dir die Verleihung des Professorenstatus verweigern wollte?
Ach wo. Das spare ich mir für eine andere Geschichte auf.
Und wie war das mit der Geschichte in der Textilabteilung?
Das ist Kategorie Tante Trudi. Es dürfte klar sein, dass es von dieser Art einige Geschichten gäbe, wo ich Schuld auf mich geladen habe, genug, um den Beichtstuhl für Stunden besetzt zu halten. Gott stehe mir bei ...
Und gibt es nicht noch die schöne Geschichte, als du mit deiner damaligen Partnerin ein Kind zeugen wolltest?
Stopp! Das gehört nicht hierher!
Und war da nicht noch etwas beim Schweizer Fernsehen? Und deine Unterrichtstätigkeit in Beijing?
All diese Geschichten haben zwischenzeitlich ihren Sonderstatus in meinem Gefühlshaushalt eingebüsst. Deshalb sind sie hier nicht von Belang.
Fertig?
Fertig. Ja.

PS: Wer bekam schliesslich den Auftrag, das Crealab aufzubauen und zu leiten?
Die Perücken-Frau, mit welcher ich seinerzeit das Vorhaben entwickelt hatte. Sie konnte es damals nicht gut mit ihren Vorgesetzten an der Wirtschaftshochschule. So wurde ihr zynisch-elegant dieser Job zugeschanzt, sozusagen als ihr Gnadenbrot. Ein halbes Jahr später starb sie dann.

© Nikolaus Wyss

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Sonntag, 8. April 2018

Keine Elefanten

Mit Kenzo in Kapstadt

Der Addo-Elefanten-Nationalpark liegt 70 Kilometer nordöstlich von Port Elizabeth. Wir waren zu dritt im Auto. Ich am Steuer. Mein unverhoffter Liebhaber jener Tage und sein Township-Freund Mike hörten sich auf der Fahrt Songs von Rihanna an. Als We Found Love ertönte, verliebte ich mich sofort in die Musik. Diese vorantreibenden, rhythmischen, aufpeitschenden Orgelakkorde, diese kräftige, klare und gleichzeitig aufreizende Stimme der Sängerin, sie passten so wunderbar zur Elefantenfahrt, vorbei an kargen Hügeln und mit einem Herzen aufgewühlter Gefühle. Was will ein alter Mann noch mehr? Neben mir sass meine amour fou, 45 Jahre jünger als ich, mit aufregender, rasselnder Bassstimme, immer zu einem schallenden Lachen aufgelegt, Geniesser fast jeder Situation, dankbar für meine Zuneigung – wie ich für die seine. Er nannte mich Bae, ich ihn Kenzo. Er scherzte mit Mike, der die Turtelfahrt vom Rücksitz aus mit dieser lauten und dem Augenblick angemessenen Musik von Rihanna aus dem Handy begleitete.
Kenzo hatte ich in Kapstadt kennengelernt. Mir gefiel seine Klugheit, mir gefielen seine Ambitionen, seine akademischen Studien an der Uni zugunsten eines Beauty Parlours zu schmeissen, auch wenn eine solche Idee meilenweit weg war von meinen eigenen Vorstellungen einer verheissungsvollen Zukunft. Wir machten ein Budget, gingen auf Einkaufstour und erstanden Reinigungscremen, Grundierungspasten, Pinselchen, Make-up-Döschen in allen Farben, Wimperntusche, Nagellack, Reinigungslotionen, Feilen, Farbstifte für die Augenbrauen und Perücken unterschiedlichster Qualität. Meiner offensichtlich noch nicht gezähmten Abenteuerlust gefiel es, meinem Portefeuille unsinniger Beteiligungen, wie zum Beispiel an einer Hühnerfarm ausserhalb Nairobis, an einem Nightclub an den Gestaden des Nigers und an einer brasilianischen Tanzgruppe mit Federboas und sehr beweglichen Hintern in der Schweiz, noch eine an einer Schönheitsfarm in Südafrika hinzuzufügen. So freundeten Kenzo und ich uns leidenschaftlich an, wir stritten uns auch, hatten aber Gefallen an der gemeinsamen Sache.
Die Fahrt durch den Tierpark erfüllte leider dann unsere Erwartungen nicht. Wir klapperten Piste um Piste ab, machten Spitzkehren und wagten uns auch auf ziemlich holprige Wege vor, wo es hiess, wir sollten uns vor frei herumlaufenden Löwen in Acht nehmen. Wir fragten entgegenkommende Parkbesucher, ob sie denn eine Herde oder doch wenigstens ein einzelnes Tier gesichtet hätten. Doch ausser auf frischen Elefantendung stiessen wir auf keine Erfolg versprechenden Spuren.
Es müssen Stunden vergangen sein, bis wir beschlossen, die Rückkehr nach Port Elizabeth anzutreten. Leicht frustriert und durch Hunger und Durst auch leicht gereizt, fuhren wir durch die zuvor so belebende Landschaft zurück. Kenzo begann zu mosern, reklamierte, dass ich an einem der wenigen Restaurants am Strassenrand vorbeigefahren sei, statt anzuhalten und zum Dinner zu laden. Ich gab zurück und bemerkte etwas unvorsichtig, die Gaststätte hätte nicht gerade appetitlich ausgesehen, worauf Kenzo ein weiteres Brikett ins Feuer legte und meinte, ich hätte eben Vorbehalte gegenüber seiner einheimischen Küche. Ein Wunder, dass er mich nicht noch einen Rassisten schalt. Ich versuchte ihm zu erklären, dass es auch in der Schweiz Restaurants gebe, die ich freiwillig nie betreten würde, was Kenzo nicht zu beruhigen vermochte, im Gegenteil. So brachen wir einen handfesten Streit vom Zaun, und dem armen Mike auf dem Rücksitz kam nichts besseres in den Sinn, als erneut Rihannas Song abzuspielen in der schwindenden Hoffnung, wir Streithähne würden ob der Musik von der lächerlichen Auseinandersetzung ablassen. Nun fiel mir aber auf, dass im Gegensatz zum Titel, der die Liebe als gefunden beschrieb, das Lied doch sehr nervös tönte, überstürmisch, kokaindurchmischt, crackig, silver-crystalline, rastlos, und dass es eigentlich schlimm endete. Die Orgelstösse stachelten jetzt unsere bereits eskalierte Gemütslage an, sodass sich im entscheidenden Moment das Ventil verstopfte, das unseren Überdruck hätte ablassen können, um wieder aufs Niveau wohlwollender Vernunft zurückzukehren. Wir wurden laut und warfen uns gemeine, wohlfeile Schlötterlinge zu.
Als wir in Port Elizabeth ankamen, war die Stimmung so am Arsch, dass ich an einer Strassenecke das Auto abrupt zum Stehen brachte und mit scharfen Worten die beiden Freunde rauswarf. Ohne Adieu zu sagen.
Damals stand die Idee eines vollständigen Bruchs nicht im Raum. Nur allein wollte ich sein, jetzt, diesem Kindskopf entflohen. Ich checkte selbstmitleidig ins noble Radisson Blu vorne am Meer ein und liess mir ein opulentes Mahl aufs Zimmer bringen. Der Blick aufs weite Wasser und ein wunderbarer Sonnenuntergang beruhigten mein Gemüt. Die Aussicht, diesem jugendlichen Tyrannen entkommen zu sein, stimmte mich fröhlich und mild.
Ein paar Monate später meldete sich Kenzo per E-Mail mit der Frage, ob ich mich in der Zwischenzeit wieder beruhigt hätte. Er brauche Geld, die Geschäfte mit dem Salon würden schlecht laufen. Er betreibe jetzt daneben noch eine Hühnerfarm. Futtermittel sei aber teuer. Auch die Auflagen der Gesundheitsbehörden kosteten Geld.
Ich weiss bis heute nicht, was wohl die adäquateste Reaktion auf seine Forderung gewesen wäre. Ich jedenfalls schickte ihm den geforderten Betrag, teilte ihm aber gleichzeitig mit, dass dies das letzte Mal gewesen sei. Ich würde hiermit den Kontakt zu ihm abbrechen.
So kam es dann auch. – Doch etwas neugierig bin ich ja schon, was aus dem Salon und all den Hühnern noch geworden ist.

© Nikolaus Wyss

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Donnerstag, 5. April 2018

Ein Tag in London

Blick in einen Saal des Victoria&Albert-Museums
Museen wie das British Museum oder das Victoria and Albert Museum, kurz V&A, sind zu grossen Teilen Schaulager. Sie zeigen, was sie haben. Das ist viel, sehr viel, zu viel. Es obliegt dann dem geneigten Besucher auszuwählen, was ihn davon wirklich interessiert. Was interessiert mich denn wirklich? Allein die Frage ermüdet mich ziellosen, ungeführten Touristen, der doch nur schon darauf stolz ist, überhaupt den Weg ins Museum gefunden zu haben. Nochmals eine römische Statue, hier noch eine etruskische Halskette, dort ein weiteres reich verziertes Ornament auf einem chinesischen Türsturz, hier drüben der hundertste mit arabischen Gravuren veredelte Säbel. Dann ein 500-jähriger Teppich aus dem Iran im Dunkel, der nur alle halbe Stunde für fünf Minuten dem Licht ausgesetzt werden darf, dann eine letzte Ausgrabung. Von wo war diese nur schon? Mesopotamien? Kurdistan? Südostanatolien? Mir versagt angesichts der Fülle das Urteilsvermögen. Ist dieser Gegenstand schön oder einfach nur interessant und deshalb bestaunenswert? Meine Neugierde erstarrt.

Gleichwohl: Solche Monstermuseen nach altem Schrot und Korn sind für interessierte, rüstige Einheimische und für Schulklassen attraktiv, da der Eintritt in die Sammlungen gratis ist. Man kann so oft vorbeischauen, wie es einem beliebt, und sich ohne Hetze mit dem einen oder anderen Ausstellungsgegenstand vertraut machen, bis man geneigt ist, ihn zum eigenen Sammelgut zu zählen. Ich beobachte zum Beispiel ein begeistertes Paar, das einem anderen Paar fein ziselierten Goldschmuck aus dem Jugendstil zeigt, als ob sich die beiden denselben täglich selbst um den Hals hängen oder über die Hand streifen würden.

Wer sich die Ausstellungsgegenstände emotional aneignet und für seine Lieblingsexponate eine virtuelle Vitrine anlegt, schafft die Übergänge von den Ägyptern zu den Kelten, von den Wikingern zu den Kopten spielend und wird eines Tages, beim 37. Besuch vielleicht, bei den Masken der Yoruba landen, bei einem goldenen Ohrringpaar der Mayas oder bei einem griechischen Tempelfries, und diese zu den anderen Sammelstücken seines persönlichen Schaukastens legen.

Erinnerung: Habe ich nicht als einsamer Jugendlicher beim 15. Zoobesuch und nach Liebäugeln mit den Affen, Elefanten und Seeottern gemeint festzustellen, dass mich das eine Zebra wiedererkannt hat? Ich erklärte es hierauf zu meinem Lieblingstier und Freund, bis ich es, beim 19. Zoobesuch vielleicht, aus der Herde heraus nicht mehr wiederzuerkennen vermochte. Mein neuer Freund kam nicht zum Zaun, um mich zu begrüssen. War ihm etwas zugestossen? Oder waren mein Auge und mein Herz doch nicht so untrügerisch?

Zu meinen Museumsbesuchen gehört auch, dass ich in der Regel den Ausgang nicht mehr finde und auf Hilfe des freundlichen Personals angewiesen bin. Dieses führt mich dann durchs museale Labyrinth zu einer Pforte, durch die ich zweieinhalb Stunden zuvor ganz bestimmt nicht hereingekommen bin. Also umkreise ich jetzt im Nieselregen von aussen den riesigen Komplex, bis ich dort anlange, wo ich das Gebäude auch betreten habe, um im Untergeschoss den Rucksack wieder in Empfang zu nehmen.

Nach dem Verlassen des V&A befinde ich mich an der Exhibition Road. Auf der anderen Strassenseite lädt das Natural History Museum zum Besuch ein. Dort geht es in einer Spezialausstellung um Vulkane und Erdbeben. Auf einer beweglichen Plattform und unter Sicherheitsvorkehrungen kann ich nachvollziehen, was Erdstösse mit einem zu machen imstande sind. Ich denke an mein neu erworbenes Haus in Bogotá und bete insgeheim, es möge vor solchen Erschütterungen verschont bleiben.

Der Geräuschpegel im Gebäude ist nicht nur wegen der simulierten Erdbeben und Vulkanausbrüche um ein Vielfaches höher als im gegenüberliegenden V&A. Ohrenbetäubend ist das Kreischen der Kinder, die sich um die unzähligen Knöpfe balgen, die zum Drücken einladen. Vorteilhaft fällt mir deshalb mitten in diesem Lärm eine wohlerzogene Kinderschar in blauen Schuluniformen auf, weil sie so ruhig und konzentriert den Ausführungen einer Museumspädagogin lauscht. Ich schiesse ein Foto, worauf gleich zwei Aufseherinnen auf mich zustürzen und die sofortige Vernichtung der Aufnahme fordern. Und schon bin ich in diesem Hallen als hinterhältiger Päderast identifiziert.

Für mich ist klar: Hier kann ich nicht älter werden und muss den Tatort sofort verlassen. Ich wechsle zum Science Museum hinüber, stelle dort allerdings fest, dass ich für die vielen Dampfloks und Flugzeuge zu müde bin. Einzig der Geschichte der deutschen V2-Rakete vermag ich noch etwas Aufmerksamkeit zu schenken. Ich erfahre, dass im Zweiten Weltkrieg die englische Presse die zerstörerischen Einschläge der Raketen im Norden Londons konsequent totschwieg. Die Briten wollten damit die Deutschen im Ungewissen lassen, ob deren Raketen überhaupt die erhoffte Wirkung gezeitigt haben. War dies nun obrigkeitlich verordnete Zensur oder schlicht eine nationale Pressesolidarität als Beitrag zur Verteidigung des Vaterlandes?

Dann Spaziergang durch die Kensington Gardens in Richtung Hotel. Welch königlich-städtebauliche Leistung, solche Grünräume mitten in dieser Millionenstadt ins 21. Jahrhundert herübergerettet zu haben. Ich erweise der in marmorweiss gehaltenen Statue Königin Victorias meine Referenz und verspreche ihr, noch gleichentags ihrem allzu früh verstorbenen Gatten Albert auf meinem Weg zum Konzert einen Besuch abzustatten.

Der späte Lunch beim Chinesen am Queensway verläuft zwar unter extrem unhöflicher Bedienung – eigentlich möchte ich aufstehen und unverrichteter Dinge das Lokal wieder verlassen –, doch die knusprige Ente ist dafür zu lecker. Anschliessend Mittags- und Verdauungsschlaf im Hotel.

Good evening, sage ich dann später beim Einnachten zu König Albert, dessen Memorial ich vor dem Betreten der Royal Albert Hall passiere, ich soll dir von deiner Gattin Victoria Grüsse ausrichten. Dein früher Tod schmerzt sie noch heute. Ich sagte zu ihr, ich würde heute Abend in ein Konzert gehen, das in deiner Halle stattfinde, deren Einweihung du aber wegen deines allzu frühen Todes nicht mehr erleben durftest. Der König bleibt stumm. Nun gut. Mein Englisch ist auch nicht das Beste.

Die Briten bespielen ihr Konzerthaus noch heute regelmässig in einer Weise, als ob es sich um die feierliche Einweihung von 1871 handeln würde. Mit Pomp und Trara, Kanonendonner, Verstärkeranlagen, 150-köpfigem Chor, mit dem Royal Philharmonic Orchestra, mit Balletteinlagen, Laserlichtshow und Theaternebel finden sommers die Proms statt, und jetzt im Winter die nicht weniger spektakulären Classical Spectaculars. Da werden bekannte Stücke von Tschaikowski bis Verdi, von Rossini über Orff bis Puccini in bombastischer Weise zurechtgebogen, dass einem Hören und Sehen vergehen. Und als Krönung kommt zum Schluss noch die inoffizielle Nationalhymne der Briten, der erste Marsch aus Edward Elgars Pomp and Circumstance, und alle stehen dazu auf, schwingen die Fähnchen Grossbritanniens und singen den Refrain: Land of Hope and Glory, Mother of the Free, / How shall we extol thee, who are born of thee? / Wider still and wider shall thy bounds be set; / God, who made thee mighty, make thee mightier yet ... Ausgerechnet jetzt, auf dem Kulminationspunkt des Schrumpfungsprozesses des Vereinigten Königreiches, jetzt, wo sich Grossbritannien auch noch von Europa abkoppelt. Ich komme mir schon als Verräter vor, dass ich hier nicht mitmache. Nicht einmal Ergriffenheit packt mich, keine Tränen der Rührung kullern. Am ehesten ist ein mitleidiges Schmunzeln zu erkennen, das mein Gesicht durchzieht. So hoch wie jetzt scheint mir die Fallhöhe zwischen britisch-romantischem Grossmachtstreben und Realität noch nie gewesen zu sein.
Heimfahrt im Taxi: Beim Bezahlen kommt mir der Spruch wieder in die Hände, der im fortune cookie des unfreundlichen Chinesen gesteckt hatte: You will be called in to fulfill a position of high honor and responsibility. Ausgerechnet ich, der noch kaum je so glücklich bin wie jetzt in Pension, without any high honor and responsibility.

Dienstag, 3. April 2018

Post aus Nkawkaw

Beim Chief von Nkawkaw mit Filmemacher Christoph Kühn

In den 80ern des vergangenen Jahrhunderts ging ich verschiedenen Jobs nach. Unter anderem redigierte ich die Monatszeitschrift Jugi/Ajiste. Sie lag zweisprachig in allen Jugendherbergen des Landes auf und wurde Mitgliedern auch nach Hause geschickt. Eine der Rubriken, die ich dort betreute, hiess Brieffreundschaften. Dabei fiel mir auf, dass viele Anfragen von Buben und jungen Männern aus Ghana stammten und dort wiederum aus einem Nest namens Nkawkaw, das man «Ngoggo» ausspricht. Sie alle suchten in der Schweiz Mädchen in ihrem Alter, um sich mit ihnen brieflich auszutauschen. Diese Beobachtung machte mich neugierig, und an einem freien Tag verfasste ich einen Brief an diese Burschen. Ich wollte herausfinden, wie es kommt, dass ausgerechnet aus einem einzigen Ort so viele Anfragen generiert wurden und ob diese auch von Erfolg gekrönt waren.
Es ging nicht lange, da erhielt ich von allen Angeschriebenen Antwort, worin sie mir Namen und Adressen von Mädchen nannten, die ihnen auf ihre Anfragen hin geschrieben hatten und mit denen sie seither in Kontakt standen. Carmen Neuenschwander aus Rupperswil zum Beispiel, Elsbeth Schuppisser aus Liestal, Sandra Näf aus Wil, Maya Burri aus Dietlikon, Esther Aregger aus Rheinau und so fort. Zum Schluss verfügte ich über 35 Adressen von jungen Frauen zwischen 15 und 19 aus dem ganzen Schweizer Mittelland.
Ich suchte darauf den Kontakt zu ihnen und liess mir von ihren Afrika-Verbindungen erzählen. Die meisten, so schien es mir, waren froh, dass ihre Brieffreunde ziemlich weit weg wohnten. Die Mädchen schwankten zwischen Neugier und Abgrenzung und waren zuweilen irritiert, wenn sich die Angaben, die sie aus Nkawkaw bekamen, nicht immer als ganz konsistent erwiesen. Manchmal unterschrieb ein Bursche plötzlich mit einem anderen Namen, oder in jedem Brief wechselte die Anzahl der Geschwister. Es waren durchwegs flexible und kaum durchschaubare Familienverhältnisse, mit denen sich die Schweizerinnen konfrontiert sahen. Alle Mädchen waren sich aber darin einig, dass diese Brieffreundschaften wesentlich zur Verbesserung ihrer Englischkenntnisse beigetragen hätten. Lust allerdings, nach Nkawkaw zu reisen und einen dieser Jungs persönlich kennenzulernen, konnte ich nur bei einer ausmachen. Die Idee wiederum, den Brieffreund einmal in die Schweiz einzuladen, wahr wohl noch abwegiger und wäre schon am Widerstand der Eltern gescheitert, dafür Reisegeld zur Verfügung zu stellen.
In mir aber reifte die Idee zu einem Dokumentarfilm, der die zwei korrespondierenden Welten mit ihren so unterschiedlichen Lebenskonzepten und Zukunftsvorstellungen zum Inhalt gehabt hätte. Ich hätte Mädchen von ihrem Schweizer Alltag und von ihren Wünschen erzählen lassen und die Buben von ihrer Realität und ihren Hoffnungen in Ghana. Und dann hätte ich diese Filmteile jeweils den anderen vorgeführt und deren Reaktionen aufgenommen. So wäre ein filmischer Kulturzusammenprall entstanden, der wohl zu allerlei Diskussionen angeregt hätte.
Ich erzählte Filmemacher Christoph Kühn davon, und wir entschlossen uns, auf eigene Kosten eine Recherchereise nach Ghana zu unternehmen.
Die erste Handlung bei unserer Ankunft in Nkawkaw war der Besuch beim Chief des Ortes. Der Ältestenrat, dem dieser vorstand, stürzte sich unseretwegen in zeremonielle Roben und bereitete uns einen ehrenvollen Empfang. Für uns waren es die ersten afrikanischen Erfahrungen, und wir hatten uns vorgängig beraten lassen, zum Beispiel, dass wir unsere Worte niemals direkt an den Chief richten dürften. So unterhielten wir uns übers Eck. Die rechte Hand des Chiefs fungierte als Übersetzer ins Twi, der Sprache der Aschanti. Wir übergaben kleine Geschenke aus der Schweiz. Waren es Kugelschreiber? Sackmesser? Ich weiss es nicht mehr. Bei dieser Hitze wohl kaum Schokolade. Unser Anliegen jedenfalls stiess auf Wohlwollen. Wir tranken Schnaps und vergassen auch nicht, zuerst mit ein paar Tropfen auf den festgestampften Lehmboden die anwesenden Götter und Geister zu besänftigen.
Nach der formellen Zusammenkunft konnten wir uns dann mit dem leutseligen Chief in bestem Englisch unterhalten, und das Ganze erinnerte mich plötzlich ein bisschen an die Sitzungen unseres Bundesrates, während denen sich alle formell siezen, um dann in der Kaffeepause das Gespräch fröhlich per Du fortzusetzen.
Wir sammelten in den folgenden Tagen in Nkawkaw fleissig Informationen, liessen uns von vielen Familien einladen, bei welchen ein Sohn mit einer Schweizerin in Kontakt stand – manchmal teilten sich Brüder auch eine Brieffreundin – und assen immer wieder Fufu an scharfer Sauce. Dank der Grosszügigkeit unseres Fahrers Akora machten wir auch Ausflüge, die uns einmal nach Kumasi führten und das andere Mal zur Gedenkstätte eines Vertreters der Basler Mission namens Fritz Ramseyer, der im 19. Jahrhundert an der ghanaischen Goldküste gepredigt hatte und von den Aschanti vier Jahre gefangen gehalten wurde. Auf der Strecke gabelten wir auch Passanten auf und liessen sie mit uns mitfahren. Doch plötzlich stoppte Akora das Fahrzeug und hiess eine alte Frau aussteigen. Und zwar sofort. Als wir nachfragten, was vorgefallen sei, sagte er, er habe durch den Rückspiegel ihren bösen Blick erkannt. Doch er beruhigte uns gleich darauf. Er sei schliesslich christlichen Glaubens und solche schwarze Magie könne ihm nichts anhaben.
Wir tranken Palmwein und kämpften mit Durchfall, besuchten den wuseligen lokalen Markt und überlegten uns bereits Kameraeinstellungen und Travellings den bunten Marktständen entlang. Stets begleiteten uns ein paar Jungs, die uns Einblick in ihre Lebenswelt gewährten und uns erklärten, wie wichtig der Respekt gegenüber einer älteren Person sei. Wir versuchten, mit Notizen und Fotografieren unsere Beobachtungen und Erfahrungen für ein späteres Treatment zu Papier zu bringen. Am Schlussabend dann luden wir alle, die uns bei unserer Arbeit behilflich gewesen waren, zu einem Essen ein. Doch niemand wollte sich an unseren Tisch setzen. Einsam mussten Christoph und ich an unseren Hühnerbeinen nagen, während die zwei Dutzend Geladenen an der Wand standen und behaupteten, sie hätten schon gegessen, und uns einfach zuschauten. Erst als wir den Mund sauber gewischt und unsere fettigen Finger gewaschen hatten, nahmen unsere Gäste Platz und verspeisten die gebratenen Hähnchen in einem Schwupp. Später an diesem Abend ging es noch in eine Open-Air-Disco, wo wir vor den Augen der Einheimischen ganz allein einen Tanz zum Besten geben mussten. Mein Herz sackte dabei in die Hosen. Der einzige Trost: Meiner Meinung nach tanzte Christoph noch schlechter als ich.
Zurück in der Schweiz, reichten wir unseren Vorschlag bei der Dokumentarfilmabteilung des Schweizer Fernsehens ein. Der damalige Leiter beschied uns darauf kurz und bündig, er halte unseren Ansatz für rassistisch und lehne deshalb das Gesuch ab.

© Nikolaus Wyss

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Sonntag, 1. April 2018

Auf der Bettkante


Ganz unten im Büchergestell meiner Mutter befand sich ein Buch aus der Feder eines amerikanischen Arztes, der sich intensiv mit der weiblichen Sexualität befasst hatte. Es war wohl ein Besprechungsexemplar, vom Verlag der Redaktorin gratis zugeschickt in der Hoffnung, es fände in den Zeitungsspalten der Frauenseite seinen Niederschlag. Ich entdeckte das Buch, als ich vielleicht zwölf war, und ich las die einschlägigen Stellen so viele Male, bis ich sie mehr oder weniger auswendig wusste. Meine Unterhosen wurden regelmässig feucht, wenn von den unabdingbaren Vorbereitungen auf die erste Nacht die Rede war. Ich las auch, dass die Frau ihre Periode bei der Wahl des Hochzeitstages beherzigen solle. Blut erschwere wegen der dadurch erwirkten psychischen Belastung des Mannes in den meisten Fällen die Begattung. Ich erfuhr auch von der Notwendigkeit, sich vorher gründlich zu reinigen und sich vor der Begierde des Mannes, die sich in einem mächtigen, steifen Glied manifestiere, dem sich die Frau im entscheidenden Moment ausgesetzt sehe, in Acht zu nehmen. Es sei wichtig, etwas Widerstand gegenüber den Zudringlichkeiten des Partners zu leisten, um nicht als Flittchen zu gelten. Das Buch hielt auch Tipps bereit, wie man den peinlichen Augenblick der schieren Nacktheit mit einer unverfänglichen Konversation oder unter Zuhilfenahme eines Bettlakens überbrücken könne. Auch die Kussarten und die erogenen Zonen wurden aufgezählt und die Tatsache angesprochen, dass eine Jungfrau das erste Mal wohl kaum Spass empfinden wird, darüber hinaus jedoch besorgt sein sollte für Ersatzwäsche oder zumindest für ein Frotteetuch, sollten sich nach dem Sexualakt Blutspuren auf dem Leintuch abzeichnen, was eigentlich ein gutes Zeichen sei. Dieses Blut, im Gegensatz zum anderen, sei der Beweis, dass die Frau zum Zeitpunkt des ersten Males noch Jungfrau gewesen sei. Des Weiteren gehörten zu den Tipps auch Angaben zum geeigneten Mobiliar. Der Doktor empfahl, sich ein Bett anzuschaffen, das am Fussende auf der Höhe der Matratzenoberkante eine stabile Verstrebung aufweise, damit der kopulierende Gatte dort seine Füsse abstützen könne und so über genügend Stosskraft verfüge, seinen Pflichten zu obliegen.

Ich erwähne dies alles nur, weil mir noch heute jedes Mal obige Lektüre in den Sinn kommt, wenn ich auf Inseraten oder in einem Geschäft eines Bettes ansichtig werde. Verfügt es über eine stabile Fusskante? Oder droht dem Käufer ein Desaster, weil er ohne Stützhilfe auf der abschüssigen Matratze abgleiten und so den Geschlechtsakt vermasseln könnte?