Posts mit dem Label Tourismus werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Tourismus werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Mittwoch, 15. April 2020

Der ambulante Dichter


Als man noch keinen Mundschutz tragen musste und sich auf den Strassen noch zwangslos und straffrei bewegen konnte, kam ich mit Gästen wieder einmal beim Strassendichter Jesús Espicasa vorbei. In der Nähe der Plaza Bolivar im Zentrum Bogotás schlägt er jeweils bei schönem Wetter in einer von Touristen bevölkerten Seitenstrasse sein Randstein-Büro auf und bietet Gebrauchslyrik an. Ich weiss nicht, ob man bei ihm auch Gedichte zu einer spezifischen Lebenssituation bestellen kann. Ich selber bin jeweils wunschlos, setze mich neben ihn und warte einfach auf seine Eingebungen, die ich jeweils mit einem kleinen Geldbetrag abgelte. Diesmal brachte er das folgende zu Papier, das ich später zu Hause von Google Translator übersetzen liess:
* * *
Mach weiter, Meister, mach weiter, schau mir weiter in die Augen
Vielleicht findest du etwas.

Das Leben ist eine Party
Ein Schiff ohne Ruder und ohne Horizont:
Du musst nur gehen
Wohin der Wind dich treibt ...

Kostenlos ...
Zum Reisen brauchst du nur das, was dich vor Kälte schützt
Einen Bleistift und das Blatt, auf das du schreibst -
Den Rest bietet dir die Straße ...

Ich werde es dir sagen, mein lieber Reisender
Du kennst die Gefahren des Denkens -
Fliege
...
Fliege mit den tropischen Winden
Aber guck nicht in meine Augen
Diese Augen sind die Hölle
Doch derjenige, der lebt, weiß es nicht
Und noch viel weniger: er will es nicht wissen

Kinder der Poesie, die Kunst ruft euch!

Jesús Espicasa
* * *
Nun gut, die Zeilen lassen etwas Interpretationsspielraum offen, aber die Erinnerungen an ihn und an seine dunklen Augen werden mich immer und sicher durch alle Winde führen.



© Nikolaus Wyss

Weitere Beiträge auf einen Click  

Donnerstag, 5. April 2018

Ein Tag in London

Blick in einen Saal des Victoria&Albert-Museums
Museen wie das British Museum oder das Victoria and Albert Museum, kurz V&A, sind zu grossen Teilen Schaulager. Sie zeigen, was sie haben. Das ist viel, sehr viel, zu viel. Es obliegt dann dem geneigten Besucher auszuwählen, was ihn davon wirklich interessiert. Was interessiert mich denn wirklich? Allein die Frage ermüdet mich ziellosen, ungeführten Touristen, der doch nur schon darauf stolz ist, überhaupt den Weg ins Museum gefunden zu haben. Nochmals eine römische Statue, hier noch eine etruskische Halskette, dort ein weiteres reich verziertes Ornament auf einem chinesischen Türsturz, hier drüben der hundertste mit arabischen Gravuren veredelte Säbel. Dann ein 500-jähriger Teppich aus dem Iran im Dunkel, der nur alle halbe Stunde für fünf Minuten dem Licht ausgesetzt werden darf, dann eine letzte Ausgrabung. Von wo war diese nur schon? Mesopotamien? Kurdistan? Südostanatolien? Mir versagt angesichts der Fülle das Urteilsvermögen. Ist dieser Gegenstand schön oder einfach nur interessant und deshalb bestaunenswert? Meine Neugierde erstarrt.

Gleichwohl: Solche Monstermuseen nach altem Schrot und Korn sind für interessierte, rüstige Einheimische und für Schulklassen attraktiv, da der Eintritt in die Sammlungen gratis ist. Man kann so oft vorbeischauen, wie es einem beliebt, und sich ohne Hetze mit dem einen oder anderen Ausstellungsgegenstand vertraut machen, bis man geneigt ist, ihn zum eigenen Sammelgut zu zählen. Ich beobachte zum Beispiel ein begeistertes Paar, das einem anderen Paar fein ziselierten Goldschmuck aus dem Jugendstil zeigt, als ob sich die beiden denselben täglich selbst um den Hals hängen oder über die Hand streifen würden.

Wer sich die Ausstellungsgegenstände emotional aneignet und für seine Lieblingsexponate eine virtuelle Vitrine anlegt, schafft die Übergänge von den Ägyptern zu den Kelten, von den Wikingern zu den Kopten spielend und wird eines Tages, beim 37. Besuch vielleicht, bei den Masken der Yoruba landen, bei einem goldenen Ohrringpaar der Mayas oder bei einem griechischen Tempelfries, und diese zu den anderen Sammelstücken seines persönlichen Schaukastens legen.

Erinnerung: Habe ich nicht als einsamer Jugendlicher beim 15. Zoobesuch und nach Liebäugeln mit den Affen, Elefanten und Seeottern gemeint festzustellen, dass mich das eine Zebra wiedererkannt hat? Ich erklärte es hierauf zu meinem Lieblingstier und Freund, bis ich es, beim 19. Zoobesuch vielleicht, aus der Herde heraus nicht mehr wiederzuerkennen vermochte. Mein neuer Freund kam nicht zum Zaun, um mich zu begrüssen. War ihm etwas zugestossen? Oder waren mein Auge und mein Herz doch nicht so untrügerisch?

Zu meinen Museumsbesuchen gehört auch, dass ich in der Regel den Ausgang nicht mehr finde und auf Hilfe des freundlichen Personals angewiesen bin. Dieses führt mich dann durchs museale Labyrinth zu einer Pforte, durch die ich zweieinhalb Stunden zuvor ganz bestimmt nicht hereingekommen bin. Also umkreise ich jetzt im Nieselregen von aussen den riesigen Komplex, bis ich dort anlange, wo ich das Gebäude auch betreten habe, um im Untergeschoss den Rucksack wieder in Empfang zu nehmen.

Nach dem Verlassen des V&A befinde ich mich an der Exhibition Road. Auf der anderen Strassenseite lädt das Natural History Museum zum Besuch ein. Dort geht es in einer Spezialausstellung um Vulkane und Erdbeben. Auf einer beweglichen Plattform und unter Sicherheitsvorkehrungen kann ich nachvollziehen, was Erdstösse mit einem zu machen imstande sind. Ich denke an mein neu erworbenes Haus in Bogotá und bete insgeheim, es möge vor solchen Erschütterungen verschont bleiben.

Der Geräuschpegel im Gebäude ist nicht nur wegen der simulierten Erdbeben und Vulkanausbrüche um ein Vielfaches höher als im gegenüberliegenden V&A. Ohrenbetäubend ist das Kreischen der Kinder, die sich um die unzähligen Knöpfe balgen, die zum Drücken einladen. Vorteilhaft fällt mir deshalb mitten in diesem Lärm eine wohlerzogene Kinderschar in blauen Schuluniformen auf, weil sie so ruhig und konzentriert den Ausführungen einer Museumspädagogin lauscht. Ich schiesse ein Foto, worauf gleich zwei Aufseherinnen auf mich zustürzen und die sofortige Vernichtung der Aufnahme fordern. Und schon bin ich in diesem Hallen als hinterhältiger Päderast identifiziert.

Für mich ist klar: Hier kann ich nicht älter werden und muss den Tatort sofort verlassen. Ich wechsle zum Science Museum hinüber, stelle dort allerdings fest, dass ich für die vielen Dampfloks und Flugzeuge zu müde bin. Einzig der Geschichte der deutschen V2-Rakete vermag ich noch etwas Aufmerksamkeit zu schenken. Ich erfahre, dass im Zweiten Weltkrieg die englische Presse die zerstörerischen Einschläge der Raketen im Norden Londons konsequent totschwieg. Die Briten wollten damit die Deutschen im Ungewissen lassen, ob deren Raketen überhaupt die erhoffte Wirkung gezeitigt haben. War dies nun obrigkeitlich verordnete Zensur oder schlicht eine nationale Pressesolidarität als Beitrag zur Verteidigung des Vaterlandes?

Dann Spaziergang durch die Kensington Gardens in Richtung Hotel. Welch königlich-städtebauliche Leistung, solche Grünräume mitten in dieser Millionenstadt ins 21. Jahrhundert herübergerettet zu haben. Ich erweise der in marmorweiss gehaltenen Statue Königin Victorias meine Referenz und verspreche ihr, noch gleichentags ihrem allzu früh verstorbenen Gatten Albert auf meinem Weg zum Konzert einen Besuch abzustatten.

Der späte Lunch beim Chinesen am Queensway verläuft zwar unter extrem unhöflicher Bedienung – eigentlich möchte ich aufstehen und unverrichteter Dinge das Lokal wieder verlassen –, doch die knusprige Ente ist dafür zu lecker. Anschliessend Mittags- und Verdauungsschlaf im Hotel.

Good evening, sage ich dann später beim Einnachten zu König Albert, dessen Memorial ich vor dem Betreten der Royal Albert Hall passiere, ich soll dir von deiner Gattin Victoria Grüsse ausrichten. Dein früher Tod schmerzt sie noch heute. Ich sagte zu ihr, ich würde heute Abend in ein Konzert gehen, das in deiner Halle stattfinde, deren Einweihung du aber wegen deines allzu frühen Todes nicht mehr erleben durftest. Der König bleibt stumm. Nun gut. Mein Englisch ist auch nicht das Beste.

Die Briten bespielen ihr Konzerthaus noch heute regelmässig in einer Weise, als ob es sich um die feierliche Einweihung von 1871 handeln würde. Mit Pomp und Trara, Kanonendonner, Verstärkeranlagen, 150-köpfigem Chor, mit dem Royal Philharmonic Orchestra, mit Balletteinlagen, Laserlichtshow und Theaternebel finden sommers die Proms statt, und jetzt im Winter die nicht weniger spektakulären Classical Spectaculars. Da werden bekannte Stücke von Tschaikowski bis Verdi, von Rossini über Orff bis Puccini in bombastischer Weise zurechtgebogen, dass einem Hören und Sehen vergehen. Und als Krönung kommt zum Schluss noch die inoffizielle Nationalhymne der Briten, der erste Marsch aus Edward Elgars Pomp and Circumstance, und alle stehen dazu auf, schwingen die Fähnchen Grossbritanniens und singen den Refrain: Land of Hope and Glory, Mother of the Free, / How shall we extol thee, who are born of thee? / Wider still and wider shall thy bounds be set; / God, who made thee mighty, make thee mightier yet ... Ausgerechnet jetzt, auf dem Kulminationspunkt des Schrumpfungsprozesses des Vereinigten Königreiches, jetzt, wo sich Grossbritannien auch noch von Europa abkoppelt. Ich komme mir schon als Verräter vor, dass ich hier nicht mitmache. Nicht einmal Ergriffenheit packt mich, keine Tränen der Rührung kullern. Am ehesten ist ein mitleidiges Schmunzeln zu erkennen, das mein Gesicht durchzieht. So hoch wie jetzt scheint mir die Fallhöhe zwischen britisch-romantischem Grossmachtstreben und Realität noch nie gewesen zu sein.
Heimfahrt im Taxi: Beim Bezahlen kommt mir der Spruch wieder in die Hände, der im fortune cookie des unfreundlichen Chinesen gesteckt hatte: You will be called in to fulfill a position of high honor and responsibility. Ausgerechnet ich, der noch kaum je so glücklich bin wie jetzt in Pension, without any high honor and responsibility.

Samstag, 4. November 2017

Vorwürfe am Wegrand


Dieses verwackelte Bild eines Wartehäuschens, das ich auf der Strecke zwischen Chiang Mai und Chiang Khong vom fahrenden Bus aus schoss, gemahnt mich an das ultimative Scheitern eines Vorhabens, das mich fast 50 Jahre lang auf all meinen Überlandreisen umtrieb. Immer wieder waren mir Wartehäuschen auf der Strecke ins Auge gestochen: in Algerien, Mali, Ghana, Nigeria, Kenia, Tansania, in Indien, China, Malaysia, Indonesien, Thailand, Vietnam, in Kolumbien, Brasilien, Peru, Chile, auf dem Balkan, im hohen Norden, in der Schweiz, wo auch immer. In ihren unterschiedlichsten Formen gewähren sie Schutz für die, die auf die nächste Transportmöglichkeit warten. Oft nehmen die Bedachungen Gestaltungsformen der örtlichen Baukultur auf. Auf der einen Strecke scheinen sie alle aus einem Guss zu sein, hingestellt von einer kundenfreundlichen Busfirma oder vom Transportministerium der Provinz. Auf anderen Strecken wiederum entsprechen sie jeweils dem lokalen Gusto, dem vorhandenen Konstruktionsvermögen und den zur Verfügung stehenden Mitteln. Improvisiert hier, mit beschattenden Palmblättern überdacht, komfortabel dort mit Windschutz und Sitzbänken ausgestattet.
Mein Vorhaben hätte darin bestanden, eine Bild-Dokumentation der unterschiedlichsten Wartehäuschen auf der ganzen Welt anzulegen, ergänzt mit Porträtaufnahmen von Wartenden und Notizen über meine Begegnungen am Strassenrand. Wie lange warten Sie schon? Wohin fahren Sie und zu welchem Behufe? Wieviel kostet die Fahrt? Wo wohnen Sie? Et cetera. Es hätte ein Kompendium weltumspannender Wartekultur und überraschender Geschichten werden können. Vielleicht etwas schräg im Ansatz, doch durchaus interessant, aufschlussreich und unterhaltsam im Resultat. Als Buch oder, heutzutage, als Website.
Gezuckt hat es mich jeweils, den Chauffeur zu bitten anzuhalten und mich aussteigen zu lassen, um das Schicksal des Wartens mit Ortsansässigen zu teilen. Was soll mich die fahrplanmässige Ankunftszeit meines Reisebusses am Zielort kümmern? Schliesslich holt mich niemand dort ab, umarmt und küsst mich. Im Normalfall musste ich mir dort immer selbst zuerst eine billige Absteige suchen und den weiteren Verbleib organisieren. Was hätte es mich gekostet, ein paar Tage später erst am Zielort einzutreffen, dafür aber einen Kratten voller Wartehäuschen-Materialien gesammelt zu haben für mein Vorhaben?
Aber nein, mir fehlte der Mut. In den entscheidenden Momenten erwies ich mich als feige, als Verräter meiner eigenen Idee. All die Jahre habe ich es nie fertiggebracht, meinem Vorhaben den notwendigen Raum zu gewähren. Immer bin ich weitergefahren und habe mir höchstens noch überlegt, am nächsten Tag mit einem Motorrad dorthin zurückzukehren, was ich natürlich nie in die Tat umsetzte. Ich brachte die Geduld, mich auf die Wartehäuschen einzulassen, nicht auf. Dabei hätten mich diese Objekte wohl viel weitergebracht, als ich es mit meinen reibungslosen Busreisen geschafft habe. Sie hätten mich vor witterungsmässiger Unbill beschützt, mich am Kosmos der Einheimischen teilhaben lassen und mich an Erfahrungen und Material reich gemacht. So aber kam ich zwar pünktlich am Zielort an – und die Wartehäuschen blieben auf der Strecke.
Mit der Zeit wurde mir jedes Objekt dieser Art, dessen ich ansichtig wurde, zur Qual. Es verkörperte den Vorwurf eines nicht eingelösten Versprechens. Diese Erscheinungen am Strassenrand verleideten mir mit der Zeit sogar das Busreisen. Natürlich hätte ich das nie zugegeben und nannte eher Rückenschmerzen oder die engen Sitzverhältnisse als Rechtfertigung, fast vollständig von Busfahrten abzusehen. Der wahre Grund meiner steigenden Reiseunlust aber ist, dass ich nicht weiter von diesen Wartehäuschen verhöhnt werden wollte. Sie erinnerten mich schmerzvoll an mein Unvermögen, einen Plan, den ich für gut befunden hatte, in Angriff zu nehmen und umzusetzen.
Das verwackelte Bild, das Ausgangspunkt dieses Textes bildet, steht nun dafür. Und so wird es bleiben.

© Nikolaus Wyss

Weitere Beiträge auf einen Click