Sonntag, 27. August 2023

Stägeli uuf, Stägeli ab juhee (Tagebuch 7) - Bruchstücke ohne Jahresangabe

Mit Mutzi, ca. 1960
10. Juli
    Meine Ratlosigkeit beim Anblick eines halbtoten Vogels, welchen unsere Königin geschnappt und malträtiert hat. Jetzt liegt er zitternd am Boden und die junge Katze ist sowas von stolz. Auf den finalen Biss allerdings hat sie keine Lust. Muss ich jetzt die Tat selber vollziehen?  Wie macht man sowas?
    Feige verziehe ich mich für eine Weile und überlege, was zu tun sei und ob überhaupt etwas zu tun sei. Ich erinnere mich an meine Jugendzeit an der Winkelwiese, wo Mutzi zu wiederholten Malen halbtote Amseln heimbrachte und sie uns stolz präsentierte. Meine Mutter hielt dafür eine mit Stroh ausstaffierte Schuhschachtel bereit, um den erschöpften Tieren Unterschlupf zu bieten. Nach ein paar Stunden oder nach der ersten Nacht starben sie aber jeweils weg. So auch hier: Als ich nach einer Stunde nachschaute, war der Vogel tot, und ich schickte mich an, den Körper in eine Plastiktüte einzuwickeln und zu entsorgen. Die Federn wischte ich auf, während mich die Katze dabei ganz genau beobachtete. Ich tröstete mich beim Gedanken, dies sei halt die Natur, mich gehe es nichts an. 

 

13. September

    Was die Gründung der Kunsthalle Zürich angeht, so ist das damals wohl der Initiative des Kunstmalers Thomas Müllenbach zu verdanken. Ich war zu dieser Zeit Thomas’ Nachbar in Schwamendingen, und weil ich damals schon bei einigen Initiativen und Gründungen mitgemacht und sie z.T. auch angestossen hatte, fragte er mich, wie man sowas denn anstelle. Da habe ich ihm dabei geholfen, wobei das Glück insofern mitspielte, als Kunstsammler und Rechtsanwalt Peter Bosshard selig damals für seine einzigartige Sammlung in Rapperswil Müllenbach-Bilder kaufte und so des öfteren, zusammen mit seiner Frau Elisabeth an der Hüttenkopfstrasse 12 auftauchte. Er zeigte in seiner besonnenen und schon fast zögerlichen Art Interesse und rutschte, weil er nicht definitiv nein sagte, eigentlich wie von selbst ins Vorhaben rein. Das einzige Problem bei ihm bestand in seiner limitierten Verfügbarkeit. Bosshard entwarf beispielsweise die Statuten, aber er liess dazu einen um den anderen Termin verstreichen und kabelte Entschuldigungen aus Übersee. Ich wunderte mich auch, wie viel er in diesem dann doch endlich vorliegenden, aber doch eher schludrig verfassten Dokument offen liess und der wilden Interpretation anheimstellte. Doch man liess sich von der Gewissheit leiten, dass auch präziser verfasste Statuten zu Streitereien führen, und man traute ihm als brillanten Juristen zu, allfällige Unklarheiten in Verhandlungen und mit spitzer Zunge im Interesse der Kunsthalle zu lösen. In diesen Statuten, eventuell auch im Gründungsprotokoll sollte man nachlesen können, wie damals die Gründung einer Kunsthalle Zürich begründet wurde. Mir liegen hier in der Ferne diese Dokumente nicht vor.
    Inhaltlich ging es wohl darum, einen Kunstraum zu schaffen, wo sich zeitgenössische Kunst entfalten konnte, ich glaube aber, auch Lokalstolz und Prestigedenken spielten eine nicht zu unterschätzende Rolle, denn auch ohne Kunsthalle hätte es ja in Zürich eigentlich schon genügend Entfaltungsmöglichkeiten für aktuelle Kunst gegeben (von der Roten Fabrik übers Helmhaus, den Strauhof bis zu den Ausstellungen in Oerlikon). Es war wohl eher so, dass das viel kleinere Bern seit langem schon eine Kunsthalle hatte (seit 1918) und das nicht viel grössere Basel auch (seit 1872), beide verknüpft mit Ausstellungen namhafter Künstler und reputierter Kuratoren. Bern profitierte immer noch vom Ruf Franz Meyers und Harry Szeemanns, und in Basel wirkte zu jener Zeit Jean-Christophe Ammann. Da kam sich der von Bonn zugezogene Müllenbach im viel grösseren Zürich doch etwas einsam und provinziell vor, zumal er seine liebe Mühe hatte mit dem damaligen, eher konventionell orientierten Kunsthaus-Direktor Felix Baumann. Ich glaube also, Kulturpolitisches und der Städtevergleich waren durchaus auch Treiber des Vorhabens. - Denn welcher Art diese zur Ausstellung gebrachte Kunst in Zürich sein sollte, war in meiner Erinnerung kein Thema im Vereinsvorstand. Die Wahl des Kurators und dessen Definitionsmacht, was und welche Künstler in eine Kunsthalle ausgestellt gehören, genügte. War anfangs auch nicht so von grosser Bedeutung, war der Verein ja vorerst ambulant unterwegs und bespielte verschiedene Räume mit grossen Pausen dazwischen und grossen Geldsorgen auch. - Gut erinnere ich mich an meine sonntäglichen Hütedienste am Steinwiesplatz.
    Sobald sich eine Konkretisierung einer Ausstellungsstätte und die Festanstellung von Mendes Bürgi sich abzeichnete, verabschiedete ich mich von der Kunsthalle…
    Ich freute mich natürlich riesig, dass irgendwann später Daniel Baumann die Leitung der Kunsthalle Zürich übernehmen konnte. Ich durfte nämlich vor nunmehr 54 Jahren bei ihm das Amt eines Göttis übernehmen. Er sieht heute fast noch so jung aus wie damals, als wir zusammen eine Reise nach Paris unternahmen. Damals sammelte er CocaCola-Flaschen unterschiedlichster Herkunft...
 

Rätselhafte Jahre

4. Mai
    Das unvollständige Datum: Zu ihrer Zeit als Redaktorin benutzte meine Mutter fürs Briefeschreiben meistens die Schreibmaschine. Ich nehme an, sie schrieb diese im Büro. Es waren fast immer A5-Blätter. Im Pensionsalter wechselte sie dann zur Handschrift. Dadurch wurden ihre Briefe unlesbarer.
    Aus der Distanz von Jahrzehnten beschäftigt mich allerdings etwas Anderes: Ich kann ihre Briefe nur sehr ungenau einem bestimmten Jahr zuordnen. Ob einer aus dem Jahre 1975 stammt oder aus 1981 erschliesst sich erst aus dem Kontext, und auch dieser ist nicht immer eindeutig. Es scheint, als ob sie ihren Briefen keine historische Bedeutung beigemessen hätte. Wäre die Nennung des Jahres für sie mit zu viel Pathos verbunden gewesen? Sie schrieb ganz aus dem Moment und für den Moment. Die Inhalte bezogen sich auf die letzten Begegnungen und auf die Zweifel und Erfolge ihres Sohnes. Und sie beinhalteten Klatsch über Verwandte, Freunde und Bekannte jetzt, am 14. September oder am 19. Oktober. Das hatte zu genügen.
Konnte sie sich überhaupt vorstellen, dass ich ihre Briefe aufbewahrte, sei es aus Respekt oder weil sie mir tatsächlich etwas bedeuteten, oder weil ich mir vornahm, sie später wieder einmal zu lesen, dann, wenn sie vielleicht schon tot sein würde? 
    Bei mir lagen die Briefe bis zu deren Ablieferung ins Schweizerische Literaturarchiv in Bern stossweise und ungeordnet in Schachteln herum. Gedacht für später. Traf dieses Später je einmal ein? Meine Mutter ist jetzt immerhin schon seit über 20 Jahren tot. 
    Ja, ich las einige davon nochmals vor ihrem Verschwinden im Archiv. Nicht systematisch und wissenschaftlich, sondern nach dem Zufallsprinzip. Wühlen, hervorklauben, lesen, wieder weglegen, weiter wühlen, innehalten, sich erinnern, sich ein paar Gedanken dazu machen, etwas schreiben, weiter wühlen, übergehen, erschöpft liegen lassen, noch einmal lesen, fantasieren, rot werden…
    Nun werden die Briefe im Lager nur noch mit weissen Handschuhen angefasst, Vorstufe zum Heiligen. Bern liegt fern.

17. Mai
    Schweizer Nationalcircus Knie auf dem Zürcher Sechseläuteplatz Zürich. Ich ergatterte gestern noch den letzten der 1500 Sitzplätze. Sass bei der Abschrankung zum Orchester und überblickte nur die Hälfte der Manege, bekam aber mit, wie ein herumfliegender Papagei sich in den Schnüren, die vom Chapiteau herunterhingen, verhedderte und vor unseren Augen abstürzte.
    Das Orchester hatte eine Art Weichspüler vorgeschaltet. Die Bässe dröhnten zwar überlaut, doch im mittleren und oberen Klangbereich vermisste ich Brillanz und Intonationsschärfe. Lag vielleicht daran, dass da gar keine Bläser mehr im Einsatz waren. Der Sound kam aus der Konserve, ergänzt mit einem Schlagzeuger und einem Mann an der Gitarre. Das Mischpult generierte zum grössten Teil diese  Konservenmusik. Daran änderte auch der Harlekin nichts mit seinen gelegentlichen Saxophon-Einsätzen aus dem Publikum zum Heraufbeschwören alter romantischer Zeiten. Hätten sie doch zur Erinnerung ein paar Löwen, Zebras, Elefanten und Dromedars in die Manege gebracht. Doch nur noch gerade Pferde dürfen an den klassischen Zirkus erinnern. In Zürich liegt sogar eine parlamentarische Motion auf dem Tisch, in Zukunft dem Zirkus sämtliche Tiere zu verbieten... 
    Zum Schluss des Abends die Übergabe an die 159. Knie-Generation. Dieser Moment war insofern bemerkenswert, als ich meinte, einem historischen Akt beizuwohnen. Fakt aber ist, dass in jeder Aufführung diese Übergabe stattfindet, als Teil des Programms. 288mal oder so. Mit meinen Tränen der Rührung fiel ich auf die Einmaligkeit des Ereignisses total darauf hinein. 

1. Juni

    Es ist so, als ob ich mich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten dem unvermeidlichen Ende nähere. Da ist mein Körper, der mit seinen Falten und seiner unappetitlichen Schwabbeligkeit schon resigniert hat, mit seinen Schmerzen und seiner Unbeweglichkeit mir deutlich zu verstehen gibt, dass ich jetzt im letzten Abschnitt meines Lebens angekommen bin. Er nimmt das unabwendbare Schicksal hin und lebt mir vor, was jetzt noch ansteht. Er verwandelt meine Gestalt in eine lächerliche Figur, die zuweilen froh wäre, abtreten zu können. Ich sage mir, zieh doch wenigstens deinen Bauch ein, und ich bedaure, meinem Körper nicht mehr Unterhalt zukommen gelassen zu haben.
    Ganz anders aber mein Geist, der immer noch von Liebesnächten und anderweitigem Erfolg träumt, vom Durchbruch dorthin, wo der Honig fliesst und stets genug Geld vorhanden ist, um mir jede Köstlichkeit zu leisten, genug Anerkennung, von allen wohlwollend beachtet zu werden. Wo ich umgeben bin von dienstfertigen, attraktiven Menschen, die mir alle Wünsche von den Lippen lesen und diese alsogleich umsetzen in Tat.
    Noch bevor andere über meine Unverbesserlichkeit lachen, sperre ich meine Gedanken in den Giftschrank, betrachte sie durchs Glas und sollte froh sein, den Schlüssel verlegt zu haben. Nur nachts in meinen Träumen finde ich ihn, öffne die Tür, nehme sie heraus, schmücke mich damit von Kopf bis Fuss. Und siehe da, wer steht hier vor dem Spiegel? Ein alter Mann, glücklich und dankbar.
    Nicht immer, leider, vermag ich mich an die Träume der vergangenen Nacht erinnern. 

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©Nikolaus Wyss

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