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Dienstag, 18. Juni 2024

Stägeli uuf, Stägeli ab, juhee (Tagebuch 9)

 Januar 2024

    Der alte Mann wurde immer mal wieder für seinen nach wie vor kräftigen Haarwuchs belobigt, und er antwortete dann jeweils mit dem Hinweis, dass sein Vater schon in der Rekrutenschule eine Glatze gehabt hätte. Er aber habe zur Verhinderung desselben Schicksals schon als Bub Hirse gegessen und jeden Tag seinen Kopf mit einem teuren Haarwasser massiert.
    Doch seit einigen Jahren lebt er woanders. Dort ist sein Haarwasser unbekannt. Und trotzdem wächst sein Haar so, als ob er es noch immer mit diesem Produkt behandeln würde. Und jetzt fragt er sich, ob er sein Leben lang Geld für etwas ausgegeben hat, das er eigentlich gar nicht benötigt hätte.
 
April 2024
In der Panaderia BROT, Quinta Camacho
 
Im Bild das zweite Frühstück: als seniler Bettflüchtling stehe ich morgens zwischen fünf und halbsechs auf. Zu den Mittagsnachrichten von SRF (Zeitunterschied im Sommer: 7 Stunden) striegle ich die Katze (sie schnurrt dazu), gebe ihr Futter und bereite dann für mich selbst etwas Porridge zu mit einem geraffelten Apfel und dem Geschlabber einer Granadilla vermischt. Dazu Tee und Lutein in Form einer Tablette zur Eindämmung meiner Makuladegeneration. Zeitungslektüre und anschließend allerlei Verrichtungen, bis im Radio das Altersquiz „Dreivonfünf“ vorbei ist und das Haus langsam erwacht. - später, sehr viel später und nach einer Dusche Morgenspaziergang zur Bäckerei Brot, die tatsächlich so heisst. Die Damen dort kennen mich, ich muss gar nichts bestellen. Das Bild zeigt, was mir automatisch aufgetischt wird für 16.450 COP (ca 4 Franken, je nach Tageskurs). Das leckere, angewärmte und vor allem knusprige Croissant lässt mich vergessen, dass ich eigentlich ein paar Kilos abnehmen möchte. Und dort lese ich dann, was das Zeugs hält. Momentan bin ich an einer Geschichte über die Unabhängigkeitsbewegung von Indonesien mit dem Titel Revolusi. Autor ist der belgische Historiker David Van Reybrouck, der seinerzeit eine spannende, wenn auch niederschmetternde Geschichte über den Kongo verfasst hat. Seine Erzählweise ist faszinierend, eine Mischung aus Oral History-Nacherzählungen (er sucht meist uralte Zeitzeugen auf, die wiederum von ihren Großeltern erzählen, was dann eine Zeitspanne von weit über 100 Jahre umfassen kann) und saftig vorgetragenen hard facts und Dokumenten. Sein Buch vermittelt mir einen Einblick in die Historie einer Weltgegend, die ich zwar seinerzeit bereist habe, deren Werdung und Platzierung auf der politischen Weltbühne mir jedoch bis jetzt verschlossen geblieben ist. Jetzt aber gewinne ich eine Ahnung davon, was die Holländer über die Jahrhunderte und was während des Zweiten Weltkrieges die Japaner diesem Inselreich angetan haben, und wie grausam und blutrünstig die Indonesier selbst ihre Unabhängigkeit erstritten haben. In einem schon fast trancenähnlichen Zustand verlasse ich jeweils eine Stunde später das Brot und kaufe im Supermarkt gegenüber den fürs Mittagessen noch benötigten Salat und ev noch ein paar Rollen Toilettenpapier ein (ab zwei Gästen bei uns ist der Verbrauch signifikant).
 
Nussknacker in HongKong

 
     Damals war die Stadt HongKong noch eine Hoffnungsträgerin, pflegte demokratische Rechte und hielt Distanz zu Festland-China. Ich behalte frühere Begegnungen dort an Kongressen, Kunstausstellungen und privaten Treffen in bester Erinnerung. Jetzt allerdings verspüre ich keine Lust mehr, nochmals dorthin zu reisen.
    Die exotischste meiner vielen Begegnungen war wohl, als ich in den Nullerjahren in einer Bar einen jungen Mann kennenlernte, der absoluter Falco-Narr war. Er arbeitete tagsüber als Klempner und fuhr mit seinem Motorrad zu seiner Kundschaft, um Wasserschäden zu beheben und tropfende Wasserhähne zu flicken. Abends aber legte er bei sich in seinem engen Zimmer irgendwo in Kowloon Falco-CDs auf. Er kannte alle seine Songs auswendig und sang sie mir, vermutlich ohne ein Wort davon zu verstehen, vor. Sein chinesisch eingefärbtes Nachsingen der Spur nach war köstlich, wobei mir Falcos Originalösterreichisch genauso viel Mühe bereitet hätte. Doch mich rührte seine Fixierung auf diesen österreichischen Popstar, und beim „Der Kommissar geht um“ und bei „Rock Me Amadeus“ summte ich sogar mit und legte mit meinen Kenntnissen über Mozart nach, denn von ihm wusste er eigentlich nichts. Er wusste aber, dass Falco tragisch ums Leben kam, und er meinte, gerade deshalb müsse man dessen Erbe am Leben erhalten.
    Ein anderes westliches Erbe wurde damals in den grossen Malls von HongKong gepflegt. Klassische Musik, automatisch auf einem Flügel dargebracht. Im Gegensatz zum Falco-Fan stimmte mich diese Art von Musikpraxis aber eher traurig. Wenn doch wenigstens ein paar Ballerinen dazu im Tütü getanzt hätten! Wäre auch ein spannenderes Video geworden also dieses hier. So aber zerlief in der grossen Durchgangshalle dieser Mall die schwächelnde Interpretation dieser wunderbaren Komposition Tschaikowskis wie lauwarmer Brie…
 
 
Musik für einen Gast 
 
    Eine Trouvaille: Facebook-Freundin Claudia Bissig-Schuler schickt mir diesen Link zu. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, je in dieser Kult-Radiosendung "Musik für einen Gast" aufgetreten zu sein. Und jetzt dies: Fernseh-Legende Heidi Abel im Gespräch mit mir. Wir schreiben 1982. Beim Wiederhören fällt mir auf, dass gewisse Narrative über mein Leben bis heute Bestand haben, und die damals ausgewählte Musik berührt mich auch heute noch. Bin ich also seither stehen geblieben? Wie sähe meine Musikauswahl heute aus? Die Rolling Stones zum Beispiel sind ja immer noch zugange, aber ich höre mir ihre neueren Songs nicht mehr an. Also doch kleine Verschiebungen und Veränderungen im Laufe meines Lebens...
    Es war damals die Zeit, als Walter Keller und ich die Zeitschrift "Der Alltag - Sensationsblatt des Gewöhnlichen" herausbrachten und ich Führungen durchs Quartier Schwamendingen organisierte. So werde ich plötzlich mit einem längst vergangenen und abgelegten Lebensabschnitt konfrontiert, der so weit weg ist und doch so nah.            Vielen Dank, Claudia. Und zum Schluss wieder meine kleine Eitelkeit: Eigentlich schreibt sich mein Vorname mit einem O. Also Nikolaus... Und noch dies: im Gespräch räsonierte ich, dass ich wohl meinen Lebensabend nicht in Lateinamerika verbringen werde. Jetzt aber verlebe ich frischfröhlich seit sieben Jahren meinen Lebensabend wieder in Kolumbien. Mittlerweile würde ich mir bei der Musikauswahl auch einen Salsa wünschen. 
 
Katzenküsse
 

    Der SoziologeNorbert Elias (1897-1990) mit seinem Standardwerk «Der Prozess derZivilisation» und mit anderen seiner Publikationen gehörte zu einem meiner wichtigsten «Influencers» während meiner Studienzeit. Ich bewunderte seine Denkweise, die Art seiner Schlussfolgerungen, seine erwählte Sprache. So war es nicht weiter verwunderlich, dass ich ihn kennenlernen wollte, was mir Ende der 70er Jahre mit einer Reise nach Frankfurt am Main auch gelang, wo er an der dortigen Universität eine Zeitlang als Gastprofessor wirkte. Wir führten in einem Café, wo er sich auch mit Studierenden zu treffen pflegte, ein ausgedehntes Gespräch, bei welchem er mir auch verriet, dass er täglich schwimmen gehe. Und auf meine Frage, ob es ihn reue, keine Familie gegründet zu haben, meinte er, dazu einfach keine Zeit gefunden zu haben (auf dieselbe Frage pflegte ich früher zu antworten, das Schicksal hätte es anders mit mir gewollt). 
    In Frankfurt machte ich auch ein paar Fotos von ihm, die ich für ein Porträt über ihn verwenden wollte. Doch der Text missriet mir gründlich. Ich kam wohl über meine Schwärmerei und meine Bewunderung für sein Schaffen nicht hinaus, blieb heillos stecken in der Rolle eines unkritischen Followers. Der zuständige Redaktor jedenfalls lehnte meinen Artikel rundwegs ab und empfahl mir, das Thema bleiben zu lassen.

    Während der Text irgendwann aus meinem Blickfeld entschwand, begleiten mich die Fotos bis heute. Sie treten in meiner Bilderkiste in regelmässigen Abständen an die Oberfläche, so auch diesmal, wo Cual, unsere Katze, sie entdeckte und abzulecken begann. Ich versuchte ihr zu erklären, sie sei mit ihren Katzenküssen gerade dabei, diesem grossen Denken ihre Referenz zu erweisen. Ihr aber schmeckte wohl einfach das chemisch durchwirkte Fotopapier. – Ich weiss nicht, ob Elias Katzen mochte. Dies zu fragen hatte ich seinerzeit vergessen.

 

Trittligasse 

Die Trittligasse ohne Trittli. Der Schock meines heutigen Spaziergangs auf den Spuren meiner Vergangenheit in der Zürcher Altstadt. Klar, sie werden die Trittli wieder einsetzen, wenn die Tiefbauarbeiten fertig sind. Und doch: so nackt kam mir die Gasse vor. Was Treppen alles bewirken können!

    Hier unten an der Ecke übrigens küsste ich zum ersten Mal ein Mädchen. Ich glaube, es hiess zum Nachnamen Niesper, Vorname vergessen. Christiane? Beim Küssen dachte ich, aha, so fühlt sich das also an. Die Lust hingegen hielt sich in Grenzen. Wahrscheinlich passierte bei ihr Ähnliches: Fortsetzung gab es jedenfalls keine. Doch die Ecke bleibt als Erinnerungsort bestehen, ist aufgeladen mit diesem initialen Augenblick, verkörpert die Basis aller weiteren Küsse, die später durchaus auch als lustvolle Erlebnisse verbucht werden konnten, als zuweilen leidenschaftlich-süchtigmachend sogar, bis hin, Jahrzehnte später, zur Erfahrung mit Max, dass man auch bei ungespültem Mund und ungeputzten Zähnen lustvoll küssen kann. Man muss einfach ganz nah dran bleiben und der Nase keine Gelegenheit geben, sich da reinzumischen…

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©Nikolaus Wyss

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Sonntag, 27. August 2023

Stägeli uuf, Stägeli ab juhee (Tagebuch 7) - Bruchstücke ohne Jahresangabe

Mit Mutzi, ca. 1960
10. Juli
    Meine Ratlosigkeit beim Anblick eines halbtoten Vogels, welchen unsere Königin geschnappt und malträtiert hat. Jetzt liegt er zitternd am Boden und die junge Katze ist sowas von stolz. Auf den finalen Biss allerdings hat sie keine Lust. Muss ich jetzt die Tat selber vollziehen?  Wie macht man sowas?
    Feige verziehe ich mich für eine Weile und überlege, was zu tun sei und ob überhaupt etwas zu tun sei. Ich erinnere mich an meine Jugendzeit an der Winkelwiese, wo Mutzi zu wiederholten Malen halbtote Amseln heimbrachte und sie uns stolz präsentierte. Meine Mutter hielt dafür eine mit Stroh ausstaffierte Schuhschachtel bereit, um den erschöpften Tieren Unterschlupf zu bieten. Nach ein paar Stunden oder nach der ersten Nacht starben sie aber jeweils weg. So auch hier: Als ich nach einer Stunde nachschaute, war der Vogel tot, und ich schickte mich an, den Körper in eine Plastiktüte einzuwickeln und zu entsorgen. Die Federn wischte ich auf, während mich die Katze dabei ganz genau beobachtete. Ich tröstete mich beim Gedanken, dies sei halt die Natur, mich gehe es nichts an. 

 

13. September

    Was die Gründung der Kunsthalle Zürich angeht, so ist das damals wohl der Initiative des Kunstmalers Thomas Müllenbach zu verdanken. Ich war zu dieser Zeit Thomas’ Nachbar in Schwamendingen, und weil ich damals schon bei einigen Initiativen und Gründungen mitgemacht und sie z.T. auch angestossen hatte, fragte er mich, wie man sowas denn anstelle. Da habe ich ihm dabei geholfen, wobei das Glück insofern mitspielte, als Kunstsammler und Rechtsanwalt Peter Bosshard selig damals für seine einzigartige Sammlung in Rapperswil Müllenbach-Bilder kaufte und so des öfteren, zusammen mit seiner Frau Elisabeth, an der Hüttenkopfstrasse 12 auftauchte. Er zeigte in seiner besonnenen und schon fast zögerlichen Art Interesse und rutschte, weil er nicht definitiv nein sagte, eigentlich wie von selbst ins Vorhaben rein. Das einzige Problem bei ihm bestand in seiner limitierten Verfügbarkeit. Bosshard entwarf beispielsweise die Statuten, aber er liess dazu einen um den anderen Termin verstreichen und kabelte Entschuldigungen aus Übersee. Ich wunderte mich auch, wie viel er in diesem dann doch endlich vorliegenden, aber doch eher schludrig verfassten Dokument offen liess und der wilden Interpretation anheimstellte. Doch man liess sich von der Gewissheit leiten, dass auch präziser verfasste Statuten zu Streitereien führen, und man traute ihm als brillanten Juristen zu, allfällige Unklarheiten in Verhandlungen und mit spitzer Zunge im Interesse der Kunsthalle zu lösen. In diesen Statuten, eventuell auch im Gründungsprotokoll, sollte man nachlesen können, wie damals die Gründung einer Kunsthalle Zürich begründet wurde. Mir liegen hier in der Ferne diese Dokumente nicht vor.
    Inhaltlich ging es wohl darum, einen Kunstraum zu schaffen, wo sich zeitgenössische Kunst entfalten konnte, ich glaube aber, auch Lokalstolz und Prestigedenken spielten eine nicht zu unterschätzende Rolle, denn auch ohne Kunsthalle hätte es ja in Zürich eigentlich schon genügend Entfaltungsmöglichkeiten für aktuelle Kunst gegeben (von der Roten Fabrik übers Helmhaus, den Strauhof bis zu den Ausstellungen in Oerlikon). Es war wohl eher so, dass das viel kleinere Bern seit langem schon eine Kunsthalle hatte (seit 1918) und das nicht viel grössere Basel auch (seit 1872), beide verknüpft mit Ausstellungen namhafter Künstler und reputierter Kuratoren. Bern profitierte immer noch vom Ruf Franz Meyers und Harry Szeemanns, und in Basel wirkte zu jener Zeit Jean-Christophe Ammann. Da kam sich der von Bonn zugezogene Müllenbach im viel grösseren Zürich doch etwas einsam und provinziell vor, zumal er seine liebe Mühe hatte mit dem damaligen, eher konventionell orientierten Kunsthaus-Direktor Felix Baumann. Ich glaube also, Kulturpolitisches und der Städtevergleich waren durchaus auch Treiber des Vorhabens. - Denn welcher Art diese zur Ausstellung gebrachte Kunst in Zürich sein sollte, war in meiner Erinnerung kein Thema im Vereinsvorstand. Die Wahl des Kurators und dessen Definitionsmacht, was und welche Künstler in eine Kunsthalle ausgestellt gehören, genügte. War anfangs auch nicht so von grosser Bedeutung, war der Verein ja vorerst ambulant unterwegs und bespielte verschiedene Räume mit grossen Pausen dazwischen und grossen Geldsorgen auch. - Gut erinnere ich mich an meine sonntäglichen Hütedienste am Steinwiesplatz.
    Sobald sich eine Konkretisierung einer Ausstellungsstätte und die Festanstellung von Mendes Bürgi sich abzeichnete, verabschiedete ich mich von der Kunsthalle…
    Ich freute mich natürlich riesig, dass irgendwann später Daniel Baumann die Leitung der Kunsthalle Zürich übernehmen konnte. Ich durfte nämlich vor nunmehr 54 Jahren bei ihm das Amt eines Göttis übernehmen. Er sieht heute fast noch so jung aus wie damals, als wir zusammen eine Reise nach Paris unternahmen. Damals sammelte er CocaCola-Flaschen unterschiedlichster Herkunft...
 

Rätselhafte Jahre

4. Mai
    Das unvollständige Datum: Zu ihrer Zeit als Redaktorin benutzte meine Mutter fürs Briefeschreiben meistens die Schreibmaschine. Ich nehme an, sie schrieb diese im Büro. Es waren fast immer A5-Blätter. Im Pensionsalter wechselte sie dann zur Handschrift. Dadurch wurden ihre Briefe unlesbarer.
    Aus der Distanz von Jahrzehnten beschäftigt mich allerdings etwas Anderes: Ich kann ihre Briefe nur sehr ungenau einem bestimmten Jahr zuordnen. Ob einer aus dem Jahre 1975 stammt oder aus 1981 erschliesst sich erst aus dem Kontext, und auch dieser ist nicht immer eindeutig. Es scheint, als ob sie ihren Briefen keine historische Bedeutung beigemessen hätte. Wäre die Nennung des Jahres für sie mit zu viel Pathos verbunden gewesen? Sie schrieb ganz aus dem Moment und für den Moment. Die Inhalte bezogen sich auf die letzten Begegnungen und auf die Zweifel und Erfolge ihres Sohnes. Und sie beinhalteten Klatsch über Verwandte, Freunde und Bekannte jetzt, am 14. September oder am 19. Oktober. Das hatte zu genügen.
Konnte sie sich überhaupt vorstellen, dass ich ihre Briefe aufbewahrte, sei es aus Respekt oder weil sie mir tatsächlich etwas bedeuteten, oder weil ich mir vornahm, sie später wieder einmal zu lesen, dann, wenn sie vielleicht schon tot sein würde? 
    Bei mir lagen die Briefe bis zu deren Ablieferung ins Schweizerische Literaturarchiv in Bern stossweise und ungeordnet in Schachteln herum. Gedacht für später. Traf dieses Später je einmal ein? Meine Mutter ist jetzt immerhin schon seit über 20 Jahren tot. 
    Ja, ich las einige davon nochmals vor ihrem Verschwinden im Archiv. Nicht systematisch und wissenschaftlich, sondern nach dem Zufallsprinzip. Wühlen, hervorklauben, lesen, wieder weglegen, weiter wühlen, innehalten, sich erinnern, sich ein paar Gedanken dazu machen, etwas schreiben, weiter wühlen, übergehen, erschöpft liegen lassen, noch einmal lesen, fantasieren, rot werden…
    Nun werden die Briefe im Lager nur noch mit weissen Handschuhen angefasst, Vorstufe zum Heiligen. Bern liegt fern.

17. Mai
    Schweizer Nationalcircus Knie auf dem Zürcher Sechseläuteplatz Zürich. Ich ergatterte gestern noch den letzten der 1500 Sitzplätze. Sass bei der Abschrankung zum Orchester und überblickte nur die Hälfte der Manege, bekam aber mit, wie ein herumfliegender Papagei sich in den Schnüren, die vom Chapiteau herunterhingen, verhedderte und vor unseren Augen abstürzte.
    Das Orchester hatte eine Art Weichspüler vorgeschaltet. Die Bässe dröhnten zwar überlaut, doch im mittleren und oberen Klangbereich vermisste ich Brillanz und Intonationsschärfe. Lag vielleicht daran, dass da gar keine Bläser mehr im Einsatz waren. Der Sound kam aus der Konserve, ergänzt mit einem Schlagzeuger und einem Mann an der Gitarre. Das Mischpult generierte zum grössten Teil diese  Konservenmusik. Daran änderte auch der Harlekin nichts mit seinen gelegentlichen Saxophon-Einsätzen aus dem Publikum zum Heraufbeschwören alter romantischer Zeiten. Hätten sie doch zur Erinnerung ein paar Löwen, Zebras, Elefanten und Dromedars in die Manege gebracht. Doch nur noch gerade Pferde dürfen an den klassischen Zirkus erinnern. In Zürich liegt sogar eine parlamentarische Motion auf dem Tisch, in Zukunft dem Zirkus sämtliche Tiere zu verbieten... 
    Zum Schluss des Abends die Übergabe an die 159. Knie-Generation. Dieser Moment war insofern bemerkenswert, als ich meinte, einem historischen Akt beizuwohnen. Fakt aber ist, dass in jeder Aufführung diese Übergabe stattfindet, als Teil des Programms. 288mal oder so. Mit meinen Tränen der Rührung fiel ich auf die Einmaligkeit des Ereignisses total herein. 

1. Juni

    Es ist so, als ob ich mich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten dem unvermeidlichen Ende nähere. Da ist mein Körper, der mit seinen Falten und seiner unappetitlichen Schwabbeligkeit schon resigniert hat, mit seinen Schmerzen und seiner Unbeweglichkeit mir deutlich zu verstehen gibt, dass ich jetzt im letzten Abschnitt meines Lebens angekommen bin. Er nimmt das unabwendbare Schicksal hin und lebt mir vor, was jetzt noch ansteht. Er verwandelt meine Gestalt in eine lächerliche Figur, die zuweilen froh wäre, abtreten zu können. Ich sage mir, zieh doch wenigstens deinen Bauch ein, und ich bedaure, meinem Körper nicht mehr Unterhalt zukommen gelassen zu haben.
    Ganz anders aber mein Geist, der immer noch von Liebesnächten und anderweitigem Erfolg träumt, vom Durchbruch dorthin, wo der Honig fliesst und stets genug Geld vorhanden ist, um mir jede Köstlichkeit zu leisten, genug Anerkennung, von allen wohlwollend beachtet zu werden. Wo ich umgeben bin von dienstfertigen, attraktiven Menschen, die mir alle Wünsche von den Lippen lesen und diese alsogleich umsetzen in Tat.
    Noch bevor andere über meine Unverbesserlichkeit lachen, sperre ich meine Gedanken in den Giftschrank, betrachte sie durchs Glas und sollte froh sein, den Schlüssel verlegt zu haben. Nur nachts in meinen Träumen finde ich ihn, öffne die Tür, nehme sie heraus, schmücke mich damit von Kopf bis Fuss. Und siehe da, wer steht hier vor dem Spiegel? Ein alter Mann, glücklich und dankbar.
    Nicht immer, leider, vermag ich mich an die Träume der vergangenen Nacht erinnern. 

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©Nikolaus Wyss

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Donnerstag, 20. April 2023

Liebe CUAL. Viele Grüsse aus Palermo

     Schau CUAL, ich wollte dir einen Brief schreiben, habe ihn dann aber nicht abgeschickt, weil ja Lesen nicht gerade keine Stärke ist.

    Das ist höflich ausgedrückt. Ich kann deine Sprache nicht lesen, so wenig, wie du mein Miauen verstehst.

    Das ist auch höflich ausgedrückt. Leidest du darunter, dass ich dich nicht immer verstehe?

    Ich muss die Grenzen zwischen uns zur Kenntnis nehmen. Ich kenne Frustration durchaus. Es gehört aber mittlerweile zu unserem Alltag, diese Grenzen zu pflegen. Das tust du auch mit deiner Partnerin.

    Immerhin sprechen wir miteinander, loten die Grenzen aus, befinden uns in ständigem Kontakt. Und wenn wir streiten, lassen wir immer durchblicken, dass das Ziel eine einvernehmliche Lösung sein muss.

    Wow, das tönt nach Paartherapie.

    Das tönt nach Vernunft und Respekt, meine Liebe. 

    Was mir auffällt: von Vernunft mir gegenüber spüre ich bei dir nicht gerade viel.

    Was meinst du damit?

    Es ist doch unvernünftig, mir morgens und abends Fressen zu geben und nicht dann, wenn ich wirklich Hunger habe.

    Oh, interessant. Ich dachte, du seist an einer gewissen Regelmässigkeit interessiert. Das macht mich doch berechenbar. So kannst du auf mich zählen.

    Ich stelle mich auf meinen Magen ein, das ist alles. Wenn ich zuweilen kotze, so habe ich nachher Hunger, da wird das Warten bis zum Abend zur Qual.

    Aber du frisst ja zum Teil dein Gekotze wieder auf. Das sollte doch reichen fürs erste.

    Ich mache das nur, damit du nicht so viel aufwischen musst. 

    Oh, wirklich? Das ist aber nett.

    Ich bin ein durchaus soziales Wesen...

    Darf ich dir jetzt meinen Brief vorlesen, den ich dir geschrieben habe?

    Wenn es dir ein Bedürfnis ist, bitte schön.

    Ok. Hier ist er: 

    "Liebe Cual. Ich befinde mich gerade in Sizilien. Heute bin ich in der Altstadt von Palermo einer Katze begegnet, von der ich dir unbedingt Grüsse ausrichten muss. Es schien, als ob sie von dir gewusst hätte. Sie hat mich so angestarrt, wie du das zu tun pflegst. Doch als ich für eine Foto mein Handy zücken wollte, versteckte sie sich sofort hinter diesen Steinen. Ich erwischte nur noch das, was du auf dem Bild hier siehst. 

    Die scheue Begegnung mit deiner Artgenossin blieb mir auf dem Weg zum Bahnhof, wo ich mir ein Billett nach Catania erstand, die ganze Zeit in Erinnerung. Einerseits, weil du mir dabei in den Sinn gekommen bist und ich mich fragte, wie es dir dort drüben in unserem Haus in Bogotá ergeht, und andrerseits, weil dieses Tier hier in Sizilien mir einmal mehr vor Augen führte, wie unterschiedlich derselbe Lebensraum von uns Kreaturen genutzt wird. Für mich war der Ort, wo ich diese Katze antraf, ein Marktplatz. Lärmig, farbig, voller Düfte, mit Menschen, die um Preise feilschten und reife Orangen drückten, ein Broccoli mit der anderen verglichen, Nüsse begutachteten, Kräuter beschnupperten und getrocknete Tomaten, eingelegt in mit Knoblauch durchdrungenem Olivenöl, kauften. Auf der anderen Seite des Platzes die Kleider, vermutlich billiger chinesischer Ramsch, Socken, Sneakers, Jupes, Unterwäsche... und mittendrin ein kaum beachteter Zoo von streunenden Hunden und Katzen, Vögeln, Ratten, Würmern, Ungeziefer, die alle auf ihre Weise an diesem Markt teilnahmen und das Leben erst zu dem machten, was man Leben nennt. Doch es brauchte einen zweiten Blick dafür, es brauchte die Erscheinung dieser Katze, welche mir diese Dimensionen der Diversität des Ortes wieder einmal vor Augen führte.

    Ich stellte mir dabei die Frage, wie denn du, CUAL, unser Haus, dein Heim, wahrnimmst. Ob es aus denselben Ecken, Räumen, Wänden und Farben besteht, wie wir sie wahrnehmen und beleben. Manchmal kommt mir vor, dass du Gespenster siehst, die wir nicht sehen. Du machst plötzlich Luftsprünge, oder du beisst mich aus heiterem Himmel, und mit zunehmendem Alter bist du die reine Rätschbäse. Was du nicht alles zu erzählen weisst von Dingen, die uns entgehen, weil nur du sie erkennst und davon berichten willst.

    Erzähl doch mal nach meiner Rückkehr von deiner Umgebung, die wohl nur zum Teil meiner Umgebung entspricht, obwohl wir denselben Lebensraum in Anspruch nehmen. Wie würde deine Führung durch unser Haus aussehen? Worauf würdest du uns aufmerksam machen, was ich mit eigenen Augen nicht sehe?"

    Das ist süss. Das hast du mir geschrieben? Ich bin ganz gerührt. Und dann hast du plötzlich aufgehört zu schreiben? Ist dir die Lust vergangen, den Brief zu einem Ende zu bringen?

    Ich habe mich plötzlich darauf besonnen, dass die Geschichten hier in meinem Blog mit dir eigentlich dialogisch sind und nicht monologisch. So habe ich mir gedacht, der Brief soll Bestandteil eines Gesprächs zwischen uns sein und nicht einfach ein Brief, der für sich alleinsteht. 

    Aha, eine ästhetisch-literarische Überlegung also.

    Naja, das ist etwas hoch gegriffen. Aber es hat doch etwas mit Stil zu tun.

    Da sind wir schon wieder anders: ich kenne den Begriff Stil nicht. Ich habe keine Alternative zu dem, was ich wirklich tue. Mein Stil ist, Katze zu sein und nicht plötzlich eine Fliege, oder ein Hund.

    Mein Stil befindet sich auch nicht auf der Linie Affe oder Nicht-Affe. Ich bin in jedem Fall Nikolaus. Aber ich meine doch Entscheidungen treffen zu können, die konsistent zu vorangegangenen Entscheidungen sind, oder eben nicht. Und das ist Stil oder eben stillos.

    Das ist mir zu kompliziert. Lass mich doch auf dem YouTube-Kanal Vögel gucken. Da habe ich mehr davon als von unserem Dialog.

    Hm.

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©Nikolaus Wyss

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Freitag, 3. Februar 2023

Ist Schnurren Liebe? - Mit CUAL im Gespräch

CUAL will mich nicht verstehen
 Du liebst mich nicht mehr.

Wie kommst du darauf?

Du schubst mich von deinem Schoss.

Das hat doch nichts mit Liebe zu tun. 

Wenn du mich lieben würdest, dürfte ich hocken bleiben.

Wenn ich, wie heute, schwarze Hosen anhabe, meine Liebe, dann sind meine Hosenbeine in kürzester Zeit voller Haare.

Da kann doch ich nichts dafür. Dass sie dich stören, ist Zeichen genug, dass deinen Gefühlen mir gegenüber enge Grenzen gesetzt sind. Wenn du mich lieben würdest, hättest du keine Probleme mit meinen Haaren. 

Halt halt. Du gehst von einem Liebesbegriff aus, welcher der Alltagspraxis nicht standhält. Die besten Liebesbeziehungen anerkennen gegenseitig die Grenzen des Gegenübers. Respekt davor macht ihre Liebe erst gross und dauerhaft. 

Blablabla. In welchem Psychobuch hast du das wieder gelesen? - Auch wenn dich meine Haare stören, gibt es keinen Grund, mich runter zu schubsen. Du kannst ja die Hosen später wieder sauber lecken. Das mache ich schliesslich auch mit meinem Fell. Meinst du, es sei angenehm, all die Haare auf meiner Zunge zu spüren? Aber ich mache es. Aus Liebe für dich... 

Du raspelst Süssholz. 

Tatsache.

Nein, nichts Tatsache. Du säuberst dein Fell, auch wenn ich ausser Hause bin. Beim Einkaufen oder in Europa zum Beispiel. 

Wenn du nicht da bist, bin ich entweder einsam und das Lecken lenkt mich etwas davon ab. Oder Danika und ihre Freunde sind da, die wissen eine hübsche und saubere CUAL mehr zu schätzen als du. Dort lecke ich mich sogar, wenn ich auf deren Schoss sitze.

Aber auch diese bekommen deine Haare ab.

Deren Freude überwiegt. Ich darf bei ihnen hocken bleiben. Und ich schnurre voller Dankbarkeit.

Du darfst bleiben, weil sie Angst vor dir haben. Wenn man dich nämlich wegschubst, zeigst du Krallen. Sieh dir doch all die Kratzer an, die du bei deinen Abhängen schon auf meinen Händen hinterlassen hast. 

Die teile ich nur aus, weil du mich nicht akzeptierst, wie ich bin.

Ich mag auf meinen Hosen einfach keine Haare ablecken. Basta. Verstehst du das nicht? Wenn du dich auf meinem Schoss bequem machst, schnurrst du übrigens auch.

Da siehst du nur, wie wenig du von meinen Liebesbezeugungen hältst. Du schickst mich weg, obwohl ich für dich schnurre. 

Du schnurrst nicht, weil du mich liebst, du schnurrst, weil es dir wohl ist auf meinem Schoss.

Ich sehe da keinen Unterschied. Mein Schnurren bezeugt, dass es mir wohl ist auf deinem Schoss. Richtig. Ich schnurre aber auch, um deine Aufmerksamkeit zu gewinnen, dir zu sagen, wie lieb ich dich habe. Ich schnurre aus Dankbarkeit und Liebe. 

Wie romantisch das klingt. Dabei ist dir jeder recht, der dich auf seinem Schoss sitzen lässt.

Du vergisst vielleicht, dass ich nicht auf jedermanns Schoss Platz nehme. Es gibt Leute, denen ich nicht über den Weg traue. Ich riech das schon von weitem.

Mir gegenüber hast du ja auch Vorbehalte. Wenn ich dich zum Beispiel auf den Arm nehmen möchte, so wehrst du dich wie wild.

Ich mag das nicht.

Siehst du! - Die Katze meiner Kindertage hingegen liebte es, in meinen Armen gewiegt zu werden. Wenn ich im Bett lag, so leckte sie sogar meine Haare und versuchte, dabei zu schnurren. Manchmal verschluckte sie sich dabei.

Hahaha, wie lustig. Wie hiess das Viech?

Mutzi. Wir fanden sie in Roncchi am Rande eines schmutzigen Tümpels, allein, von der Mutter verlassen. Sie miaute jämmerlich mit ihrem Stimmchen.

Das ist meine Geschichte. Wie wagst du, dieselbe Geschichte einer anderen Katze anzudichten?

Es gibt viele Katzenkinder, die von ihren Eltern verlassen werden. Manchmal kommen sie auch nicht zurück, weil sie auf der Strasse überfahren worden sind. 

Wo liegt Roncchi?

Roncchi ist ein Badeort in Italien, wo ich mit meiner Mutter in der Pension Ideale in den Ferien weilte. Da war ich vielleicht sechs oder sieben. Von Roncchi aus sah ich zum ersten Mal auch das Meer.

Mutzi ist also eine Latina? Was für ein grässlicher Name. Ist das italienisch?

Ich gab ihr diesen Namen. Ich fand ihn damals offenbar passend.

Wie seid ihr übrigens zu meinem Namen gekommen? Ich kann ihn selber kaum aussprechen, so blöd ist er.

Ich sage dir deshalb auch "Psps" und nicht CUAL. - Danika wollte, dass du CUAL heisst. Mit diesem Namen kann man bei unseren Gästen spasseshalber etwas Verwirrung stiften, wenn diese fragen, wie du heisst. Wenn wir dann mit CUAL antworten, meinen sie, wir hätten die Frage nicht verstanden und fragen nochmals nach. CUAL heisst auf Spanisch "welche/s/r". Ist das nicht lustig?

Ich habe nicht gern, wenn man sich lustig über mich macht. 

Ja, Humor ist bei euch Katzen wirklich ein Problem.

Es ist eine Sache der Würde.

Hoppla, jetzt heizt du aber ein.

Ich sage einfach, was Sache ist.

Vorschlag: Ich versuche, dich nicht mehr auf den Arm zu nehmen, und du bist mir nicht böse, wenn ich dich wegschubse, wenn ich schwarze Hosen trage.

Habe ich eine Alternative?

Sonst versuche ich weiter, dich auf den Arm zu nehmen, schubse dich aber gleichwohl weg von meinem Schoss.

So ist das Leben hier. Lieblos unerträglich.

Und wer gibt dir täglich das Fressen?

Hör doch auf. Das ist reiner Machtkampf zwischen einer unschuldigen Katze und einem blöden Macho.

So ist das Leben. Undankbar und voller Kratzer.

Leck mich doch!

Leck dich selber!

* * *

[Ein nächstes Mal werde ich mich mit CUAL über unsere Frustrationstoleranz unterhalten. Guten Abend. N.W.]

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© Nikolaus Wyss

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Hier hat sich CUAL auch schon zu Wort gemeldet:

- CUAL übers Glücklichsein 

- CUAL als Click-Wunder 

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Und hier sind sämtliche Veröffentlichungen auf diesem Blog wohlgeordnet abrufbar

 


 


  

  


Sonntag, 22. Januar 2023

Am I the #luckiestguyalive? Und was meint unsere Katze CUAL dazu?

Meine Freundin Milena pflegt ihre Posts auf Instagram mit dem Hashtag "luckiestgirlalive" zu begleiten. Als glücklich verheiratete, bestandene, erfolgreiche Frau und Mutter zweier erwachsener Söhne sich als "girl" zu bezeichnen, ist natürlich der amerikanischen Kultur geschuldet. Sie wohnt schliesslich in San Francisco. Dort wurde ich als 50jähriger von der Kassiererin im Supermarkt auch schon mit "honey" begrüsst, mit Schätzchen oder Liebling also. Was mich hier aber mehr interessiert, ist der Superlativ "luckiest", das glücklichste Mädchen. Auch dies ist sehr amerikanisch. Dort bezeichnet man sich ungeniert als sehr reich oder als sehr glücklich, während in der Schweiz zum Beispiel solche Superlative statt Mitfreude und Bewunderung eher Neid und Missgunst hervorrufen. Oder zumindest Fragen, ob man angesichts des Elends in dieser Welt überhaupt befugt oder gut beraten sei, von sich so etwas zu behaupten. Es könnte ja als respektlos und provokativ gegenüber denjenigen aufgefasst werden, denen das Glück nicht so hold ist. Zudem gibt es bestimmt noch an Glück reichere Menschen, die aber nicht so angeben! Bescheidenheit ist schliesslich eine Zier...

    "...doch besser lebt sich's ohne ihr." Grammatikalisch ziemlich falsch, doch, wenn man gnädig sein will, immerhin witzig, will diese Redewendung die Ungenierten und Unbekümmerten ermutigen, zu ihrem Glück zu stehen. Der Satz siedelt sich nahtlos im Umfeld einer weiteren Redewendung an, welche der streitbare, einflussreiche und umstrittene Schweizer Politiker Christoph Blocher gerne im Munde führt: "Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert." - Der alte Polterer hat natürlich gut reden mit seinen Milliarden im Hintergrund.

    Ich fahre jetzt nicht fort mit einem moralischen Exkurs über mangelnde Empathie bei Angebern, über Rücksicht und Mitleid, über das Unglück des Glücks, wenn es in falsche Hände gerät und Argwohn provoziert, ganz im Sinne von Schillers Willhelm Tell: "Es kann der Glücklichste nicht in Frieden leben, wenn es dem neidischen Nachbarn nicht gefällt", auch wenn im Stück eigentlich vom Frömmsten und vom bösen Nachbarn die Rede ist. - Was soll's, dem Sinn nach stimmt's...

    Nein, ich fahre vielmehr fort mit der Frage, wo ungefähr ich, übers Ganze gesehen, mein eigenes Glück ansiedeln würde. Reicht es zum "luckiestguyalive" (den "boy" lasse ich jetzt mal beiseite), oder doch eher nur zum "luckyman", oder wenigstens zum zufriedenen Pensionär? Oder muss ich es wie mein Vater halten, der zum Schluss seines Lebens traurig resümierte: "Ich bin mit meinem Lebensglück in den roten Zahlen steckengeblieben." - Diese traurige Bilanz, das war Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts, beeindruckte und bedrückte mich sehr. Denn er galt in seinen jungen Jahren, so erzählte er es mir wenigstens, als Hoffnungsträger, als talentierter, gescheiter, ja brillanter Jurist, der auch den musischen Seiten des Lebens zugetan war. Er schrieb Gedichte, musizierte auf seinem zweimanualigen Cembalo und tauschte sich im Zürcher Café Odeon mit der literarischen Oberklasse der damaligen Zeit aus, wo auch die intellektuellen Freigeister des NZZ-Feuilletons, des Schauspielhauses, der Tonhalle und der Universität ihren Milchkaffee schlürften und Zeitungen aus aller Welt lasen. Offenbar erfüllte er aber die in ihn gesetzten Hoffnungen, an die er selbst glaubte, und welche Richtschnur seiner Karriere hätte werden sollen, später nicht, rutschte ab in die schlüpfrigen Gefilde eines Winkeladvokats und Scheidungsanwalts und in die stinkenden Schlammschlachten der Politik. Leider machte er auch als Vater nicht die beste Figur.

    So nahm ich mir an seinem Sterbebett vor, am Schluss meines eigenen Lebens nicht zum selben Ergebnis zu gelangen, zumindest was meinen eigenen Beitrag zum Glück angeht. Klar, Unbeeinflussbares, wie das Schicksal und die politische Grosswetterlage etwa, reden auch noch ein Wörtlein mit. 

    War ich nicht, wie mein Vater, auch mit vielen Talenten für ein abwechslungsreiches, buntes Leben ausgestattet, galt als origineller und vielleicht auch etwas eigensinniger Kopf, in den man Hoffnungen setzen durfte? - In Erinnerung aber bleibt mir, trotz meines eigenen Vorsatzes an Vaters Sterbebett, eigentlich eher, dass ich extrem faul war und aus meinen musischen und intellektuellen Talenten erstaunlich wenig machte. Ich verbrachte Stunden, Tage, Wochen, ja, Monate mit Nichtstun, streunte unglücklich in Herrensaunen herum, schrieb Klagelieder in meine Tagebüchlein und träumte von einem anderen Leben, das mich von aller Mühsal befreien würde. Trotz Vaters Schlussbilanz war ich nicht imstande, irgend etwas Gescheiteres für mein eigenes Glück zu unternehmen. So kam ich im Laufe meines Lebens allzu oft zum Schluss, der Apfel sei nicht weit genug vom Stamm gefallen. Im Rückblick sind diese Auszeiten wohl als Depressionen zu werten, gut versteckt hinter irgendwelchen Ausreden und Selbsttäuschungen. Dass ich es trotzdem schaffte, über die Runden zu kommen und mich heute zufrieden, ja, glücklich zu wähnen, ist wohl...

    Gerade jetzt, in diesem Moment, ich lüge nicht, ist CUAL, unsere Katze, ausgerutscht. Dazu muss man wissen, dass sie den ganzen lieben Tag um mich herumstreicht und meine Aufmerksamkeit einfordert. Auch dann, wenn ich grad am Computer sitze. (Manchmal macht sie es sich auf der Tastatur bequem und produziert unendlich lange, unentzifferbare Buchstabenfolgen, die ich dann wieder mühsam löschen muss.) Auf meinem Schreibtisch liegen allerlei Papiere, Kabel zum Laden des Laptops und des Tablets und noch zu bezahlende Rechnungen herum. Dazu kommen Berge von vor Unglücklichsein triefenden Tagebüchlein aus den unterschiedlichsten Abschnitten meines Lebens. Ich nahm mir nämlich kürzlich vor, sie probehalber neu zu lesen und sie anderswie zu gruppieren. Monatsweise. Das heisst, alle Texte, die ich über die Jahre in einem Januar niedergeschrieben habe, möchte ich dahingehend überprüfen, ob sie, zu einem Lauftext zusammengefasst, einen neuen Sinn ergeben könnten. Einen Monatssinn sozusagen. Dasselbe würde ich dann auch mit den vielen Februaren versuchen, und so fort. Ich bin jedenfalls gespannt, was dabei herausschaut, wenn der Januar 1973 mit dem Januar 1998 verbunden wird (und alle dazwischen natürlich auch), und ob sich irgendein Sinn erschliesst zwischen meinen Februar-Einträgen von 2012 bis 2021. Und so fort. 

    Unsere Katze also wollte sich vorhin gerade auf ein blaues Tagebüchlein setzen, worauf dieses ins Rutschen geriet. Heft und Katze landeten krachend am Boden. Unwillkürlich musste ich über CUALS Missgeschick lachen, doch die Katze tat so, als ob gar nichts geschehen wäre. Sie leckte sich sofort das Fell, als ob sie das an dieser Stelle schon immer beabsichtigt hätte. 

    CUAL: Was guckst du blöd? Lachst du auf meine Kosten? Ist dies jetzt das Glücksgefühl, von dem du eigentlich reden möchtest, es aber nicht wagst, weil es unanständig ist, sich auf Kosten anderer lustig zu machen?

    Sorry, aber dein Sturz und deine Reaktion darauf entbehren nicht einer gewissen Komik. 

    Ich mag mich aber jetzt nicht auf diese Art von Diskussion einlassen. Soll CUAL sich doch weiter ihr Fell lecken. Ich hingegen wende mich dem zu Boden gefallenen Büchlein zu und lese auf der aufgeschlagenen Seite folgenden Eintrag vom 7. Januar 2011: ... Ich staune über meinen Fleiss und das damit zusammenhängende Glücksgefühl. Die Worte Cornelias, seine Erfüllung, sein Glück zu suchen und zu finden in dem, was man hat, und nicht nachzutrauern von Verpasstem und sich nicht in Vergleich zu stellen mit denen, die Sichtbareres und Prestigereicheres wie Häuser, Autos, Positionen geerbt oder mit Glück bekommen oder sich erarbeitet haben (was ja noch keine Aussage über deren Glück zulässt). - Es geht also um das Akzeptieren und Gutheissen des selbst gelebten Lebens und der eigenen Aktivitäten, sie sind die einzige Quelle für mein eigenes Glück. Ich kann nur wirken (auf mich wie auch auf andere) mit dem, was mich ausmacht, mit meinem individuellen Leben. Das nimmt enorm viel Druck weg und macht frei...

    Wie gelegen mir dieses Zitat doch kommt. Ich lese es CUAL vor, damit sie von ihrem Beleidigtsein ablässt.

    Und? meint sie darauf, wie kann ich mich mit anderen Katzen überhaupt vergleichen, wenn ich die ganze Zeit hier eingesperrt bleibe?

    Du hast ja Schiss, vors Haus zu treten, und wenn du trotzdem deine Pfoten einmal vor die Tür setzst, so miaust du nach zehn Sekunden und willst wieder hereinkommen.

    Ich will auf etwas anderes hinaus, Nikolaus. Das Glück stellt sich nicht nur bei der Abstinenz von Vergleichen ein. Ich habe jeden Tag Glücksgefühle, die aus mir selber kommen.

    Eben. Wenn du dich zum Beispiel saubergeleckt oder etwas zu fressen bekommen hast, so empfindest du Glücksgefühle, auch ohne miesepeterisch zu denken, ob andere Katzen vielleicht mit noch besserem Katzenfutter, noch frischerem Fisch oder mit 100 statt nur mit 85 Gramm Hackfleisch verköstigt werden. 

    Du nennst das meine "heure bleue", wenn ich wie wild im Wohnzimmer herumrenne und euch alle verrückt mache, weil ich den Überzug des Sofas zerkratze. Und wenn ich auf deinem Schoss hocke, so beginne ich zu schnurren. Ich kann gar nicht anders.

    Das sind die spontan auftretenden, momentanen Glückswallungen. Ich weiss aber nicht zu sagen, ob die Kumulation täglicher Glücksanwandlungen etwas darüber aussagt, ob man sich grundsätzlich glücklich schätzen darf. Oder ob es auch beim Unglücklichsein einfach kleine Lichtblicke und bescheidene Glücksmomente gibt, ohne dass sich diese auf die Gesamtverfassung auswirken.

    Das Glück, von dem ich rede, ist spontan. Richtig. Ich habe glückliche Momente, auch wenn ich eingesperrt bin, auch wenn es mir nicht vergönnt ist, Kinder zu bekommen...

    ... du hast Katzengesellschaft stets abgelehnt. Wir sind deine einzigen Bezugswesen. Wir wollten dir einen Katzengespahnen schenken. Mein Gott, war das ein Drama! Du hast das kleine Kätzchen beinahe totgeprügelt...

    Lass mich in Ruhe damit. Dieses kleine Wesen, das ihr mir zumuten wolltet, mit seinen das ganze Gesicht beherrschenden Kugelaugen war eine Bedrohung unseres Hauses und verkörperte für mich das reine Unglück. Und wenn wir Katzen Unglück wittern und unser Revier in Gefahr sehen, so schlagen wir halt heftig und furchtlos zu, bis wir die Gefahr gebannt haben und wieder unserem Glück frönen können. So ist das bei uns. Das kannst du in Tausenden von Youtube-Filmchens überprüfen.

    Ich weiss, ich weiss. Dann darfst du dich aber auch nicht beklagen, dass du allein geblieben bist. 

    Kannst du schnurren?

    Nein.

    Dann weisst du gar nicht, was Glück ist.

    Das ist jetzt etwas krass. Ich fühle mich aussergewöhnlich oft glücklich hier, auch wenn ich nicht schnurre. Gemessen an meinen vielen früheren Tagebucheintragungen in der Schweiz aus dem letzten Jahrhundert, die überfüllt sind mit Klagen, Depressionsbezeugungen, Kummer und Gejammer, überkommen mich hier in Kolumbien immer wieder auf eine Weise Glücksgefühle, auf die ich aufgrund meines bisherigen Gefühls und Lebenswandels nie zu hoffen wagte. Ich habe, seit ich hier bin, auch aufgehört, Tagebüchlein zu schreiben. Das ist, bei mir wenigstens, ein starkes Anzeichen fürs Glücklichsein. Dafür schreibe ich hier Blogeinträge. Die machen mich glücklich, selbst wenn sie nur von wenigen zur Kenntnis genommen werden.

    Und ich dachte, ich sei es, die dich glücklich macht.

    Du machst mich jedenfalls, auch wenn ich mich oft über dich ärgere, nicht unglücklich, CUAL. Und du führst mich dazu, mit dir ungeniert und unbedacht zu diagolisieren. So, wie du unsere Möbel zerkratzst, kratze ich an meiner Vernunft und fühle mich glücklich dabei.  

    Also der #luckiestguyalive? 

    So eine Bezeichnung würde mich wieder in die Situation versetzen, mich mit anderen zu vergleichen, um zu diesem Befund zu kommen.

    Du bist blöd. Du kannst dich doch unvergleichlich glücklich fühlen.

    Ja schon, aber dann lassen wir das "luckiest" doch beiseite. Es soll nicht zu einem Wettbewerb des Glücks ausarten. Der einzige Massstab, dem das Glück unterliegt, ist das Unglück, das Pech.

    Gestern? Als dir ein Weinglas zu Boden fiel?

    Ich glaube, dass das Glück manchmal auch seine Opfer einfordert. Das Glück macht sich erst so richtig bemerkbar, wenn es sich aufgrund von Entscheidungen, Schicksalsschlägen oder, wie bei mir gestern, von Ungeschicklichkeiten manifestiert.

    Ein zerschlagenes Glas und Weintropfen auf dem ganzen Boden machen dich glücklich?

    Ein zerbrochenes Weinglas wiegt schwerer und richtet grössere Schäden an, wenn man es als Unglück ansieht. Bei mir aber ist es eine Anekdote nur, um mir zu zeigen, dass es mir eigentlich nichts anhaben kann. Wir sagen auf Deutsch: Scherben bringen Glück. Da bin ich glaub' ich auf dem richtigen Weg.

    Stellt sich also Glück ein, wenn du regelmässig ein Weinglas zu Boden fallen lässt?

    Du bist mühsam, CUAL. Das Glück kann man nicht erzwingen. Es stellt sich nur ein, wenn es ihm selber passt, und wenn man bereit ist, es als solches wahrzunehmen und willkommen zu heissen. 

    Das heisst, ein zerbrochenes Weinglas kann sowohl Glück wie auch Unglück bedeuten?

    Es ist in der Tat eine Sache der Interpretation. Nehme ich den Vorfall als Unglück wahr, oder kann er mir nichts anhaben? Im letzteren Fall bleibt nur, die Scherben aufzulesen und dabei aufzupassen, sich selber nicht in den Finger zu schneiden.       

    Dann ist Milenas Behauptung, #theluckiestgirlalive zu sein, ihre Entscheidung, sich in dieser Welt so positionieren zu wollen. Es soll den anderen nicht das Urteil überlassen werden, ob man es wirklich ist?

    Ich staune über deine Intelligenz. 

    Für dich bin ich nur eine gefrässige Katze, ich weiss. Das könnte mich unglücklich machen, aber ich behaupte mal, trotz allen Widrigkeiten #theluckiestcatalive zu sein. Das erleichtert ungemein und prägt die Welt um mich herum mit anderen, fröhlicheren Farben. 

    Jetzt, wo ich langsam in Fahrt komme, läutet es unten an der Tür. Die Katze, neugierig wie sie ist, springt auf und rennt hinunter. Fertig lustig. Vielleicht ist es aber auch ein Glück, sich ins Thema nicht noch weiter zu verstricken.

@Nikolaus Wyss

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Es gibt schon einen früheren Beitrag mit unserer Katze CUAL. Hier nachzulesen. Und einen späteren. Hier nachzulesen

Im übrigen freue ich mich immer, Rückmeldungen und Grüsse zu bekommen und danke schon jetzt dafür. Hier meine weiteren thematisch geordneten Blog-Einträge und Videos, abrufbar mit einem Click.


 




Donnerstag, 10. November 2022

Alles falsch - Und was unsere Katze namens CUAL dazu meint (auch wenn sie weder Choupette heisst noch ein Labrador ist)

Foto: Alejandro Ardila

Qualität-Management ist das Gebot der Stunde. Doch was ist Qualität? In unserem Hochschulbetrieb in Luzern verstand man darunter zuallererst das Beherrschen und Anwenden betrieblicher Prozesse. Jede Angelegenheit, jedes Vorgehen, jeder Lösungsweg anstehender Probleme oder Entscheidungen, alles musste sein schriftlich-schematisiertes, fixiertes Plätzlein bekommen. Die Belegschaft hatte sich dieses Regelwerk in ihrem Alltag und im Interesse einer transparenten und gerechten Produktivität zu verinnerlichen. Der magische Begriff, der den Massstab setzte für die Qualität der Vorkehrungen, hiess und heisst wohl immer noch EVALUATION. Wenn alle zufrieden waren mit dem Betrieb, wenn keine rufschädigenden Zwischenfälle zu verzeichnen waren und sich keine Klagen häuften, so konnte ich mich als Rektor für eine Weile dem gesunden Schlaf hingeben. Bei Geknorze aber, bei unliebsamen Vorkommnissen, Irregularitäten und bösen Rückmeldungen galt es Überstunden zu leisten, um die zum Vorschein gekommenen Schwachstellen auszumerzen oder zumindest dem Qualitätsverantwortlichen wegen seiner Versäumnisse auf die Finger zu klopfen... 

Die bei den regelmässigen und gross angelegten Umfragen erreichte Punktzahl entschied dann über die Art des Labels, das man für diese qualitativen Anstrengungen verliehen bekam. Erfüllten wir die notwendigen Punkte, konnten wir fortan für eine Anzahl von Jahren alle Drucksachen und Homepages mit dem Label der Exzellenz schmücken. Bis der Evaluationstürk irgendwann wieder von vorne anfing. Die Erwartung war natürlich, dass wir während der Gültigkeitsdauer damit andere Institutionen ausstechen, was, so die Hoffnung, zu besseren Aufträgen, zu höherer Reputation und damit zu gescheiteren und talentierteren StudienabgängerInnen führen sollte. In unserer der Kunst und dem Design verpflichteten Hochschule bestand allerdings der immanente Konflikt darin, dass künstlerische Qualität und innovatives Design oft gerade in der Verletzung von Regeln und unter Missachtung von Prozessen entstanden. Brave Studierende reüssieren nicht, so die damals vorherrschende Meinung. Kreativität entstehe erst im Widerstand gegenüber Herkömmlichem und Autoritärem und könne deshalb prozessual kaum verordnet werden. Das brachte unsere Kunsthochschule in eine paradoxe Situation. Standen wir doch als Garantin für Kreativität und Innovation in der Pflicht, junge Menschen dazu anzustacheln, exakt das nicht zu tun, was wir von ihnen prozessual eigentlich einfordern hätten müssen. Unsere Schule empfing deshalb die Qualitätsvorgaben der vorgesetzten Stellen immer mit Argwohn und behandelte sie stets mit spitzen Fingern und im felsenfesten Glauben, dass wir eh besser sind als das, was in blöden Evaluationen zum Vorschein kommt. Die Überraschung bestand dann jeweils darin, dass man trotz grosser Vorbehalte gegenüber diesen institutionellen Vorgaben gar nicht so schlecht abschnitt wie erwartet. Lief da etwa etwas schief?   

Seit ich in Kolumbien lebe, schreibe ich ab und zu Blog-Einträge. Es ist langsam an der Zeit, mein Schreiben zu evaluieren. Denn bis dato machte ich mir über die Wirkungsweise und Verbreitung meiner Texte wenig Gedanken. Ich schrieb aus Launen heraus, aus einem inneren Bedürfnis. Es war mir angenehm, unter dieser Adresse hier einen Platz für meine Überlegungen, Erlebnisse, Erinnerungen und Beobachtungen zu haben. Und natürlich freute ich mich, wenn diese bei der einen oder anderen Person Anklang fanden und zuweilen sogar Rückmeldungen veranlassten. Als ich die ersten hundert Beiträge zusammengeschrieben hatte, das war Ende 2018, machte ich einmal eine Zusammenstellung der Clicks auf die bis dahin veröffentlichten Beiträge. Da ich insgesamt zufrieden war mit den Ergebnissen damals, liess ich weitere Hinterfragungen meiner Beiträge bleiben. 

Heute aber, vier Jahre später, fällt mir auf, dass mir seither meine Beiträge keine weiteren Kreise erschlossen haben. Clickmässig dümpeln sie vor sich hin. Sie werden zwar von treuen Leserinnen und Lesern regelmässig belobigt, aber sie erzeugen keinen weiteren Traffic. So heisst das doch, oder? Bin ich an meine Grenzen gestossen? Oder habe ich in meiner Schreibkunst nachgelassen? Oder ist die Leserschaft meiner langsam überdrüssig? - Ich machte mir also in letzter Zeit diesbezüglich Gedanken, weil das Ziel, damit dereinst jeden Tag eine Tasse Kaffee zu verdienen, in weite Ferne gerückt ist. Zuweilen wird zwar, ohne mein Dazutun, zu einzelnen Texten noch Werbung geschaltet. Das sieht dann aber wie folgt aus: Geschätzte Einnahmen heute bis jetzt 0.00 CHF, gestern 0.00 CHF, letzte 7 Tage 0.01 CHF, aktueller Monat 0.01 CHF... 

Nun, es ist natürlich ein Spiel, und ich verzichte aufgrund dieser schäbigen Einnahmen weder auf meine - alternativ finanzierte - tägliche Tasse Kaffee noch aufs Schreiben. Ich klage auch nicht. Ich stelle lediglich fest, dass Wachstum und Erfolg anders aussehen, und es veranlasste mich gestern, im Sinne des Qualitätsmanagements, eine Evaluation durchzuführen. Natürlich will ich damit meine kleine Leserschaft nicht belästigen und verzichte auf eine Umfrage. Doch ich begann mir zu überlegen, woran es an meinen Texten mangelt. Vorallem aber: wie machen das erfolgsgewöhnte Blogger, die oftmals nicht einmal den Akkusativ beherrschen, denen aber Heerscharen von Leserinnen und Lesern zufliegen und durch ihre Clicks täglich viele Liter Kaffee in deren Tassen spülen. Ganz abgesehen vom SUV vor ihren Häusern, von dem ich nicht einmal träume, und abgesehen vom Kleingeld, um sich damit den Kauf einer Wohnung in Paris und New York zu leisten? 

Ich grub mich also in die Tiefen freizügiger Ratschläge professioneller Blogger ein und verglich sie mit meinen Leistungen. Das Resultat in Kurzform: ich mache alles falsch. Was und wie ich bis anhin publiziert habe, hat schon mutwilligen Charakter, mich dem Erfolg endgültig zu verschliessen. 

Ratschlag eins: monothematisch und auf den Punkt gebracht. Ich: Mäandernd, ausufernd, gespickt mit Kraut und Rüben. (Gut, monothematisch bin ich insofern, als sich alles irgendwie um meine Person dreht. Doch das gilt hier in diesem Kontext nichts, so lange ich nicht Kardashian heisse). 

Ratschlag zwei: regelmässig posten. Ich: nach Lust und Laune (habe nicht immer etwas zu sagen).

Ratschlag drei: Keyword-Recherche, bevor man mit Schreiben beginnt, damit man mich dann findet im Netz. Ich: noch nie gemacht. Was ist das überhaupt? Was könnten denn meine Keywörter sein? Hilfe!

Ratschlag vier: Geile Titel und geile Zwischentitel. Ich: nur selten gelungen, trotz meiner journalistischen Vergangenheit. Doch das sind 30 Jahre her. Was heute einen geilen Titel ausmacht, weiss ich gar nicht.

Und so weiter. Kann ja jeder selber nachschauen, was dort alles noch steht, woran ich mich nicht halte, und was man sonst noch zu berücksichtigen hätte für die tägliche Tasse Kaffee. 

Merkwürdig genug: die gestrige Lektüre dieser Ratschläge zeitigte für mich persönlich ein unverhofftes Resultat. Sie hat mich nämlich unmittelbar befreit von der Zwangsvorstellung, eigentlich erfolgreicher sein zu müssen und es nur aus lauter Dummheit nicht zu sein. Denn die Freiheit meiner Gedanken und die Eigenwilligkeit ihres Ausdrucks halte ich eigentlich für wichtiger als die Chance, mir damit eine Tasse Kaffee leisten zu können. Ja, ich fühle mich umso reicher, je weniger ich mich einem erfolgsversprechenden Diktat unterzuordnen habe. Ratschläge und Evaluationen sind gut zur Klärung eigener Werte, die ich privilegierterweise pflegen darf, weil ich von meiner Pension leben darf und zum schieren Überleben nicht auf Blog-Einnahmen angewiesen bin. Im Gegensatz zur überwältigenden Mehrheit der Menschen hier in diesem Lande, die sich für wenige Pesos für alles Mögliche verdrehen müssen. Was für ein Luxusleben ich doch führe! 

Luxus aber führt zuweilen zu Übermut. Der besteht heute bei mir darin, für einmal doch einen Ratschlag aus dem Netz auszuprobieren. Ein Experte, der dort verschiedene Blogs hostet, inspirierte mich dazu. Er berichtet nämlich, er hätte als Experiment eine Zeitlang einen Blog bespielt, der sich ausschliesslich um seinen Labrador gedreht habe. Und dieser Labrador sei in Kürze sehr populär geworden und hätte Tausende von Followers angezogen und viele tausend Tassen Kaffee generiert. Die meisten, so er, suchten sowieso nur Rat im Netz und nicht so etwas, was ich zu bieten habe. Jeder hingegen, der einen Labrador besitze oder sich überlege, sich ein solches Tier zuzutun, will doch etwas über diese Rasse, deren Gewohnheiten und Eigenheiten wissen. Und deshalb werde auf alles und jedes geklickt, was unter diesem Namen läuft. 

Leider haben wir keinen Labrador im Haus und können deshalb die Erfolgswelle dieses Blog-Spezialisten nicht beerben. Wie wär's denn mit unserer Katze? Klar, sie kommt an Karl Lagerfelds Choupette nicht ran. Sie ist weder eine blauäugige französische Birma-Katze noch modelt sie für Opel. Unsere Katze ist vielmehr eine Strassenmischung aus Buenaventura, ein Waisentier, dort vor vier Jahren winzigklein verlassen und halb verhungert am Wegrand aufgefunden, aufgelesen und auf einer langen Busfahrt nach Bogotá versetzt, wo sie jetzt mit ihren Launen, mit ihrem Hunger und ihrer Aufsässigkeit unser Haus dominiert. Die Gesellschaft eines Kamerädchens hatte sie fauchend abgelehnt. Charakteristisch für sie ist ihr liebenswürdiges Wesen, das sich aber in Sekundenbruchteilen, also ohne Vorwarnung, zu einem bissigen Monster verwandeln kann. Unerklärlich, geheimnisvoll, beängstigend. Sie heisst CUAL, und ich fragte sie vorhin, ob sie eventuell bereit wäre, ab und zu mit einem Kommentar meine Blog-Einträge zu bereichern, natürlich in der Hoffnung, damit neue Kreise zu erschliessen. Ihre Antwort war typisch: nur wenn sie Frischfleisch bekomme und nicht weiter diese verstaubten Trockensnacks. Also ging ich um die Ecke zu unserem Metzger Koller, einem Appenzeller, der vor 39 Jahren hierher eingewandert ist und wohl die besten Schüblinge und Longanizas in ganz Lateinamerika herstellt, und kaufte ihr 100g Hackfleisch vom Rind. Ready?

CUAL: Was bezweckst du mit diesem Text hier?

Das sage ich ja. Ich überlege mir, wie ich meine Texte qualitativ verbessern und so einem grösseren Publikum zugänglich machen kann.

Du bringst etwas durcheinander, du alter Sack. Du benützest das falsche Instrument. Statt Qualitätsmanagement musst du besseres Marketing machen. Das ist alles. Es liegt nicht an deinen Texten, es liegt an mangelndem und unprofessionellem Marketing. Lass deine Texte ruhig so, wie sie sind.

Du hast ja keinen gelesen. Was veranlasst dich zu deinem Rat?

Dieses verdammte Trockenfutter. Da steht auf der Verpackung alles Mögliche drauf. Es sei gut gegen meinen Haarausfall, gut für die Verdauung, das beste Produkt auf dem Markt. Und dementsprechend teuer ist es auch. Und du Schwachkopf kaufst diesen Ramsch und meinst, mir damit noch einen Gefallen zu tun. Doch schau mich an. Ich belege ganze Möbelstücke mit meinem Haar, und Magenkrämpfe begleiten mich jeden zweiten Tag. Ich sah dich noch nie begeistert, wenn du mein Gekotze aus dem Teppich wegkratzen musst. Was sagt dir das? Gutes Marketing! Keine Qualität!

Echt jetzt?

Mit mir kommst du auf mehr Clicks. Das kann ich dir vorweg schon sagen. Du wirst mit deinen Texten in meinem Schatten stehen.

Du meinst, Qualität und Marketing-Gedöns gehen nicht zusammen?

Hallo, ich bin auch Qualität, nicht nur eine Marketing-Tussi. Du musst mit deinen Texten dafür sorgen, dass ich für viele Sympathieträgerin werde. Ich habe darin ja schon Erfahrung. Alle, die zu uns ins Haus kommen, finden mich süss und wollen mich streicheln. Ja, Besucherinnen vergessen beim Streicheln meines Felles sogar ihre Katzenhaar-Allergie. 

Du schlägst also vor, dass ich zu deinem Texter werde? 

Ich werde die Hauptperson sein und du der Stichwortgeber. Das war schon bei Choupette der Fall. Der Unterschied zu Choupette ist lediglich, dass du nicht Karl Lagerfeld heisst. Das ist ein Handycap. Und ohne ihn komme ich auch nicht zu den Grossaufträgen, welche dir genug Kaffee in die Tasse spülen würden.

Dann bleibt also alles doch beim alten und deine Präsenz nützt mir gar nichts?

Ich sage dir nur eins: ohne mich wirst du auf deinen vorliegenden Text hier lediglich ein paar mitleidige Rückmeldungen bekommen von Leserinnen und Lesern, die dich trösten wollen, weil du in einem Beachtungsloch steckst. Doch damit gewinnst du weder einen Blumentopf noch eine grössere Leserschaft.

Kluges Tier.

Mit mir hingegen gibst du dir immerhin die Chance, deinen engen Leserkreis zu durchbrechen, sagen wir, mit 1000 Clicks mehr pro Publikation.

Dafür lohnt sich der Aufwand aber nicht. Da bleib ich lieber bei meinem angestammten Stil. Ohne dich.

Halt, Halt. 10'000 Clicks mehr?

Tönt schon ein bisschen besser. 

Machen wir es doch so: Pro 10'000 Clicks kriege ich 1kg Rindfleisch. Deal?

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© Nikolaus Wyss

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 Ich freue mich immer über Kommentare und Grüsse. Danke. Hier noch: Weitere Beiträge auf einen Click