Donnerstag, 20. April 2023

Liebe CUAL. Viele Grüsse aus Palermo

     Schau CUAL, ich wollte dir einen Brief schreiben, habe ihn dann aber nicht abgeschickt, weil ja Lesen nicht gerade keine Stärke ist.

    Das ist höflich ausgedrückt. Ich kann deine Sprache nicht lesen, so wenig, wie du mein Miauen verstehst.

    Das ist auch höflich ausgedrückt. Leidest du darunter, dass ich dich nicht immer verstehe?

    Ich muss die Grenzen zwischen uns zur Kenntnis nehmen. Ich kenne Frustration durchaus. Es gehört aber mittlerweile zu unserem Alltag, diese Grenzen zu pflegen. Das tust du auch mit deiner Partnerin.

    Immerhin sprechen wir miteinander, loten die Grenzen aus, befinden uns in ständigem Kontakt. Und wenn wir streiten, lassen wir immer durchblicken, dass das Ziel eine einvernehmliche Lösung sein muss.

    Wow, das tönt nach Paartherapie.

    Das tönt nach Vernunft und Respekt, meine Liebe. 

    Was mir auffällt: von Vernunft mir gegenüber spüre ich bei dir nicht gerade viel.

    Was meinst du damit?

    Es ist doch unvernünftig, mir morgens und abends Fressen zu geben und nicht dann, wenn ich wirklich Hunger habe.

    Oh, interessant. Ich dachte, du seist an einer gewissen Regelmässigkeit interessiert. Das macht mich doch berechenbar. So kannst du auf mich zählen.

    Ich stelle mich auf meinen Magen ein, das ist alles. Wenn ich zuweilen kotze, so habe ich nachher Hunger, da wird das Warten bis zum Abend zur Qual.

    Aber du frisst ja zum Teil dein Gekotze wieder auf. Das sollte doch reichen fürs erste.

    Ich mache das nur, damit du nicht so viel aufwischen musst. 

    Oh, wirklich? Das ist aber nett.

    Ich bin ein durchaus soziales Wesen...

    Darf ich dir jetzt meinen Brief vorlesen, den ich dir geschrieben habe?

    Wenn es dir ein Bedürfnis ist, bitte schön.

    Ok. Hier ist er: 

    "Liebe Cual. Ich befinde mich gerade in Sizilien. Heute bin ich in der Altstadt von Palermo einer Katze begegnet, von der ich dir unbedingt Grüsse ausrichten muss. Es schien, als ob sie von dir gewusst hätte. Sie hat mich so angestarrt, wie du das zu tun pflegst. Doch als ich für eine Foto mein Handy zücken wollte, versteckte sie sich sofort hinter diesen Steinen. Ich erwischte nur noch das, was du auf dem Bild hier siehst. 

    Die scheue Begegnung mit deiner Artgenossin blieb mir auf dem Weg zum Bahnhof, wo ich mir ein Billett nach Catania erstand, die ganze Zeit in Erinnerung. Einerseits, weil du mir dabei in den Sinn gekommen bist und ich mich fragte, wie es dir dort drüben in unserem Haus in Bogotá ergeht, und andrerseits, weil dieses Tier hier in Sizilien mir einmal mehr vor Augen führte, wie unterschiedlich derselbe Lebensraum von uns Kreaturen genutzt wird. Für mich war der Ort, wo ich diese Katze antraf, ein Marktplatz. Lärmig, farbig, voller Düfte, mit Menschen, die um Preise feilschten und reife Orangen drückten, ein Broccoli mit der anderen verglichen, Nüsse begutachteten, Kräuter beschnupperten und getrocknete Tomaten, eingelegt in mit Knoblauch durchdrungenem Olivenöl, kauften. Auf der anderen Seite des Platzes die Kleider, vermutlich billiger chinesischer Ramsch, Socken, Sneakers, Jupes, Unterwäsche... und mittendrin ein kaum beachteter Zoo von streunenden Hunden und Katzen, Vögeln, Ratten, Würmern, Ungeziefer, die alle auf ihre Weise an diesem Markt teilnahmen und das Leben erst zu dem machten, was man Leben nennt. Doch es brauchte einen zweiten Blick dafür, es brauchte die Erscheinung dieser Katze, welche mir diese Dimensionen der Diversität des Ortes wieder einmal vor Augen führte.

    Ich stellte mir dabei die Frage, wie denn du, CUAL, unser Haus, dein Heim, wahrnimmst. Ob es aus denselben Ecken, Räumen, Wänden und Farben besteht, wie wir sie wahrnehmen und beleben. Manchmal kommt mir vor, dass du Gespenster siehst, die wir nicht sehen. Du machst plötzlich Luftsprünge, oder du beisst mich aus heiterem Himmel, und mit zunehmendem Alter bist du die reine Rätschbäse. Was du nicht alles zu erzählen weisst von Dingen, die uns entgehen, weil nur du sie erkennst und davon berichten willst.

    Erzähl doch mal nach meiner Rückkehr von deiner Umgebung, die wohl nur zum Teil meiner Umgebung entspricht, obwohl wir denselben Lebensraum in Anspruch nehmen. Wie würde deine Führung durch unser Haus aussehen? Worauf würdest du uns aufmerksam machen, was ich mit eigenen Augen nicht sehe?"

    Das ist süss. Das hast du mir geschrieben? Ich bin ganz gerührt. Und dann hast du plötzlich aufgehört zu schreiben? Ist dir die Lust vergangen, den Brief zu einem Ende zu bringen?

    Ich habe mich plötzlich darauf besonnen, dass die Geschichten hier in meinem Blog mit dir eigentlich dialogisch sind und nicht monologisch. So habe ich mir gedacht, der Brief soll Bestandteil eines Gesprächs zwischen uns sein und nicht einfach ein Brief, der für sich alleinsteht. 

    Aha, eine ästhetisch-literarische Überlegung also.

    Naja, das ist etwas hoch gegriffen. Aber es hat doch etwas mit Stil zu tun.

    Da sind wir schon wieder anders: ich kenne den Begriff Stil nicht. Ich habe keine Alternative zu dem, was ich wirklich tue. Mein Stil ist, Katze zu sein und nicht plötzlich eine Fliege, oder ein Hund.

    Mein Stil befindet sich auch nicht auf der Linie Affe oder Nicht-Affe. Ich bin in jedem Fall Nikolaus. Aber ich meine doch Entscheidungen treffen zu können, die konsistent zu vorangegangenen Entscheidungen sind, oder eben nicht. Und das ist Stil oder eben stillos.

    Das ist mir zu kompliziert. Lass mich doch auf dem YouTube-Kanal Vögel gucken. Da habe ich mehr davon als von unserem Dialog.

    Hm.

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©Nikolaus Wyss

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