Dienstag, 6. August 2019

Ciao Mäni


Niklaus Wyss 1936-2019 
(Foto: Walter H. Scott, Boston Symphony Orchestra Archives)
Ich war für Niklaus Wyss der Andere, und er war für mich der Mäni. So rief ihn nicht nur seine Mutter, die meine Gotte war, er war auch für alle anderen, seine Geschwister, die ganze Familie und seine Freunde einfach der Mäni. Den Ursprung dieses Namens kenne ich nicht. Bei diesen Wyssens war es einfach üblich, Familienangehörigen, Freunden und Nachbarn Übernamen zu verleihen. Für meine Gotte und ihre Familie zum Beispiel war ich mein Leben lang der Göiss oder Göissi, weil ich vermutlich als kleiner Bub meinen Namen nicht korrekt aussprechen konnte: statt Chläusi Göissi. Auch Mäni nannte mich zunächst Göiss, bevor er zum Anderen wechselte, obwohl mich dies irgendwie störte, schliesslich unterscheidet sich mein Vorname von dem seinen durch einen wesentlichen Vokal. Ich heisse Nikolaus. Ich bin nicht einfach der andere Niklaus. Ein O Eitelkeit darf ich mir wohl erlauben ...
Mäni war der zweitälteste von vier Söhnen. Sie sind für mich Cousins dritten Grades, wenn wir überhaupt noch von Verwandtschaft sprechen können. Als Jüngster war ich bei ihnen wohlgelitten. Ich erinnere mich gut und gerne an gemeinsame Wintertage in ihrem Ferienhaus in Valbella. Die vier Brüder hatten alle etwas mit Musik am Hut. Der älteste spielte in seiner Jugend die Posaune, der zweitjüngste die Trompete, und der Jüngste hatte das Zeug zum Sänger. Nur bei Mäni erinnere ich mich nicht mehr, was er spielte. Die Geige? Das Klavier? – Während aber die anderen drei schliesslich bürgerliche Berufe ergriffen, entschied sich Mäni für ein Musikstudium und wurde Dirigent.
Anlässlich einer Reise anfangs der 1960er-Jahre besuchten meine Mutter, mein Cousin Tobias und ich Mäni in Rom, wo er bei der Dirigentenlegende Franco Ferrara Kurse belegte. Das Resultat seines Studiums zeigte sich wenig später in der Philharmonic Hall des Lincoln Centers in New York City, wo er am 13. Dezember 1964 aus der Hand von Leonard Bernstein einen Award des Dimitri-Mitropoulos-Wettbewerbs entgegennehmen durfte und eine Assistenzstelle bei Seiji Ozawa bekam, der zu jener Zeit das Toronto Symphony Orchestra leitete.
Für mich hatte es Mäni damit geschafft. Ich bereitete mich auf Fragen vor, ob ich denn mit dem weltberühmten Dirigenten Niklaus Wyss verwandt sei. Den Verwandtschaftsgrad upgradete ich schon mal von drei auf zwei. – Merkwürdig fand ich nur, dass er nach drei vereinbarten Jahren Assistenz in Toronto dem Meisterdirigenten Ozawa nach San Francisco folgte und unter dessen Fittichen Assistent blieb, statt mit der eigenen Karriere durchzustarten. Offensichtlich konnten es die beiden so gut miteinander, dass sie aneinander kleben blieben, auch wenn für Mäni eher die unbeliebten modernen Abende und die Jugendkonzerte abfielen, während sich Ozawa für Mahler, Bruckner und die anderen Giganten symphonischer Kompositionen zuständig erklärte.
Von Kolumbien herkommend, besuchte ich anfangs der 1970er-Jahre Mäni einmal in San Francisco. Er wohnte damals an der Buchanan Street in einer Einliegerwohnung und hatte eine sehr hübsche, rassige Freundin, die mich Jahre später einmal in Zürich besuchte und mich wohl ähnlich verwöhnte, wie sie dies mit dem Anderen zu tun pflegte. Verwandtschaft bindet scheints, und ich liess es gerne mit mir geschehen. Doch von Mäni war in den folgenden Jahren nicht mehr so viel die Rede. Ich gewann den Eindruck, dass er, nach weiteren Jahren in San Francisco, um Engagements kämpfen musste und deshalb sein Tätigkeitsgebiet auch auf Provinzen in China ausweitete, wo er, so die Familiensaga, ein gern gesehener Gastdirigent war. Kam er in die Schweiz und gab selbst ein Konzert, so trommelte meine Gotte jeweils ihr ganzes Umfeld zusammen, um gemeinsam die Tonhalle aufzusuchen. Billette gab es immer genug.
Mit der Zeit aber verlor ich Mäni aus den Augen. Erst viele Jahre später erhielt ich einen Brief von ihm, worin er um ein klärendes Gespräch bat. Es war die Zeit, als ich mit dem Schwamendinger Opernchor Sommertheateraufführungen in der Ziegelhütte produzierte. Mäni sah plötzlich seinen Namen in Gefahr, weil dieser mit meinem eigenen, in seinen Augen unseriösen Tun hätte in Verbindung gebracht werden können. In meiner Antwort schlug ich vor, doch gemeinsam einmal etwas Lustiges auf die Beine zu stellen. Eine Reaktion darauf blieb aus. Was ich machte, war offensichtlich nicht sein Stil. Bei dieser Gelegenheit aber erfuhr ich, dass er seinen Wohnsitz zurück ins Zürcher Elternhaus verlegt hatte, wo seine Mutter allmählich in ein biblisches Alter vorrückte und Handreichungen ihres unverheiratet gebliebenen Sohnes wohl gerne annahm.
Und dann kam das Zittern. Unter vorgehaltener Hand flüsterte man sich in der Verwandtschaft zu, Mäni leide unter Parkinson. Mir war sofort klar, dass dies das endgültige Aus seines musikalischen Wirkens bedeuten würde, wobei ich den Verdacht nicht loswurde, dass dieses Ende eigentlich schon früher eingetroffen war, als er Jahre zuvor an den mütterlichen Herd zurückkehrte.
Ich sah mich aber nicht veranlasst, Trost zu spenden oder sonst wie behilflich zu sein. Dazu befand ich mich von ihm zu weit entfernt, und ich sah in seiner Bedürftigkeit auch die Pflicht seiner Brüder, für ihn einzustehen. Als ich aber einmal meine 100-jährige Gotte, die mittlerweile in ein Alters- und Pflegeheim gewechselt hatte, besuchen ging, sass im selben Raum vornübergebeugt ein alter Mann, und ich musste zweimal hinschauen, um in ihm Mäni zu erkennen. Später an diesem Tag begleitete ich ihn noch zur Tramstation, was eine ganze Weile in Anspruch nahm. Er wohnte jetzt nicht mehr in der elterlichen Wohnung, sondern in einer kleinen Bleibe in Zürich-Schwamendingen. Trotz seiner Hinfälligkeit schien er mir aber voller Hoffnung, schon bald wieder aufrecht gehen zu können. Er wollte mich im Glauben wissen, dass ich seine Zuversicht teile, was mir allerdings schwerfiel.
Als ich nach Schlieren zog und meine Gotte schon eine Weile tot war, fing ich an, Mäni regelmässig zu besuchen. Ich brachte ihm jeweils vom Thai oder vom Chinesen ein paar Speisen und Singha-Bier, und von der nahen Migros Crèmeschnitten und Ofechüechli, und wir verspeisten gemeinsam das Mitgebrachte und versorgten die Resten zum Aufwärmen im Kühlschrank. Den von ihm im ganzen Zimmer verstreuten Reis pflegte ich feinsäuberlich aufzuputzen. Doch unsere Unterhaltung kam nie so richtig in die Gänge und verblieb auf der Ebene der freundlichen, unverbindlichen Konversation. Nie hörte ich ihn klagen über sein Schicksal, und dies schien mir zunehmend das Problem zu sein, das uns trennte.
Ich glaube, die Begegnungen zwischen uns wären um einiges lockerer ausgefallen, wenn ich Mäni hätte fluchen hören, sein Schicksal beklagen, Verzweiflung markierend. Ich hätte so gerne zustimmen mögen, um ihn zu trösten und ihm beizupflichten, wie ungerecht diese Welt doch sei. Doch er hatte Contenance und amerikanische Zuversicht so verinnerlicht, dass sie ihm zum undurchdringbaren Verlies wurden. Seine Absicht, dem Gegenüber trotz sichtbarer, schwerwiegender Einschränkungen keine Sorgen zu bereiten, provozierte nach und nach eine unüberbrückbare Distanz. Wir starben einander weg noch vor der Zeit. Am 27. Juli 2019 war es dann aber doch so weit.
Ciao Mäni.


© Nikolaus Wyss

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Samstag, 3. August 2019

Unerfüllte Begierden

Blick vom Wachturm aus über Forio, Ischia


Neapel ist nicht meine Stadt. Das habe ich neulich herausgefunden. Mein Unbehagen gründete aber nicht auf dem Umstand, dass der Vesuv jederzeit ausbrechen oder die Phlegräischen Felder plötzlich explodieren könnten. Auch nicht auf den Pizzen, die anderswo durchaus besser schmecken als in der Stadt des Originals. Auch über den öffentlichen Verkehr liesse sich klagen, über die laute und ruppige U-Bahn zum Beispiel, aber nein. Es war vielmehr diese den Italienern oft zugesprochene dramatische Überheblichkeit, die so tut, als ob das Erbe dieser Stadt ihr eigenes Verdienst wäre. Ich machte ein ziemlich steiles Gefälle aus zwischen dem Wichtigtun der Bewohnerinnen und Bewohner und dem in meiner Einschätzung dafür nicht gerechtfertigten Zustand der Stadt. Die Neapolitaner ignorieren sowohl die stinkenden Abfallberge als auch die Baufälligkeit ihrer Häuser, und diejenigen, die sie nicht ignorieren, machen ein allzu grosses Aufhebens darum, ohne aber aufs Wegwerfen weiterer Bierbüchsen oder Plastikflaschen zu verzichten oder an den Häusern auch nur die kleinsten Renovationsarbeiten durchzuführen. Rücksichtslos und mit einer Selbstverständlichkeit ohnegleichen fahren sie auf ihren Rollern durch die engen Gassen und haben Spass daran, Touristen zu erschrecken. Sie geben uns zu verstehen, dass sie ihr Territorium zwar mit der Mafia teilen müssen, aber nicht mit uns, den Besucherinnen und Besuchern. Sie reklamieren für sich Eigenbedarf, was ich an sich gut fände, wenn sie denn damit auch etwas anzufangen wüssten, indem sie ihre Stadt so herausputzten, wie es dem zur Schau gestellten, überheblichen Stolz angemessen wäre. Doch am Schluss des Tages sind es dann doch wieder wir Touristen, und nur wir, welche die Kassen klingeln lassen und dafür sorgen, dass diese Könige der bröckelnden Fassaden ungeniert weiter ihr lautes und inadäquates Theaterstück namens Napoli aufführen können.
Grund genug, dieser Stirnrunzeln verursachenden Stadt für einen Tag den Rücken zu kehren mit einem Ausflug in die eigene Vergangenheit, zur Insel Ischia nämlich, wo ich im zarten Alter von etwa zehn oder elf Jahren mit meiner Mutter ein paar schöne und herzerwärmende Ferientage verbringen durfte. Auf der Fahrt im Schnellboot nach Forio kam mir in den Sinn, dass es auf dieser Insel wohl das erste Mal passiert war, dass meine Mutter sich und ich mich in denselben jungen Kerl verguckten. Er war Hilfskellner in einem dieser Restaurants entlang der Via Matteo Verde, wo wir am ersten Abend Einkehr hielten. Von diesem Moment an war uns klar, wo wir uns in den folgenden Tagen verköstigen würden. Wir beide hatten nichts anderes mehr im Sinn als zu Giuseppe, Carlo oder Eros, oder wie auch immer der Junge mit seinen wimpernumflorten blauen Augen, seiner feinporigen Haut und seiner anmutigen Gestalt auch heissen mochte, essen zu gehen. Sein einnehmendes Wesen würzte am Mittag die Pizza und am Abend die Antipasta und das gebratene Hühnchen an neapolitanischer Sauce und sättigte uns aufs Beste. Ich erinnere mich gerne an die komplizenhaften Gefühle zwischen meiner Mutter und mir, wenn wir unsere Anwesenheit mit einer Nachspeise und einem Espresso noch etwas zu verlängern wussten und uns schon aufs Wiedersehen einige Stunden später freuten. Plötzlich spielte das Ersparte keine grosse Rolle mehr. Dieser Engel raubte uns den Verstand und die dazugehörigen Liren, auch wenn er selbst davon wohl gar nichts mitbekam. Das Schöne an diesen täglichen, kulinarisch genügend begründeten Begegnungen war das Unausgesprochene. Wir gaben uns mit der Verfeinerung des Augenblicks zufrieden und waren glücklich dabei.
In Erinnerung an jene Zeit bleibt mir auch noch die plötzliche Knallerei am Tag der Dorfheiligen. Zur Mittagsstunde explodierten unzählige Böller über der Basilica di Santa Maria di Loreto, und mich überkam ein fou rire, weil mir ein Feuerwerk, das man am Tag nicht sehen und nur hören kann, so sinnlos vorkam.
Die Hitze bei meinem Besuch, 60 Jahre später, temperierte meine Entdeckerlust. Kaum im Hafen von Forio angekommen, mangelte es mir an Motivation herauszufinden, wo wir damals logierten, und ich war mir auf meinem gemächlichen Spaziergang durch die engen Gassen auch gar nicht mehr so sicher, ob sich ein Augenschein überhaupt lohnen würde. Meine Erinnerungen klammerten sich eh nur an dieses Restaurant im Zentrum mit diesem wundersamen Überirdischen, der jetzt, wenn er überhaupt noch lebt, steinalt wäre und ein oder zwei Dutzend Enkel und Urenkel um sich scharen dürfte.
Stattdessen nahm ich einen alten Wachturm am Rande des Städtchens als Zielpunkt ins Visier in der Hoffnung, von dort aus wenigstens einen Rundblick über Forio zu gewinnen. Beim Anstieg wurde ich aber von einer attraktiven Frau reiferen Alters gestoppt. Sie sass ganz alleine vor diesem Festungsturm, ass ihren gebratenen Fisch und trank dazu ein Glas Weisswein. Sie beschied mir auf gut Italienisch, dass es sich hier um ein Privatgrundstück handle, das von Unbefugten zu betreten verboten sei, worauf ich mich in meinem schlechtesten Italienisch geflissentlich entschuldigte, was die Dame wiederum auf die Idee brachte, es mit mir auf Deutsch zu versuchen. Erfolgreich. Es stellte sich heraus, dass sie aus Karlsruhe stammte, wo ihr verstorbener Mann Bundesrichter gewesen war. Seit seinem Tod übersommerte sie regelmässig auf Ischia in diesem für Feriengäste umgebauten Turm. Nach ein paar Anstandsinformationen meinerseits durfte ich ihre Sommerresidenz dann doch betreten. Keck liess sie mir beim Treppensteigen in den oberen Stock den Vortritt mit der Bemerkung, Herren dürften den Damen doch nicht unter den Rock blicken, was ich als untrügliches Zeichen einer rasanten Erwärmung des Kommunikationsklimas deutete. Irgendwann fragte sie mich, ob es sich lohne, Kolumbien zu besuchen und meinte dabei wohl mich. Ich hatte es also in der Hand, sie dazu zu ermutigen oder ihr davon abzuraten. Im Wissen darum, dass sie schon die ganze Welt bereist hatte, von Bali bis Südafrika, von Norwegen bis Australien, von Rostock bis Neukaledonien, riet ich ihr von einem solchen Vorhaben ab. Ich meinte, in ihren Augen zwar eine gewisse Enttäuschung auszumachen, doch sie betonte gleichzeitig, wie sehr sie doch meinen ehrlichen Rat zu schätzen wisse.
Vor der Rückreise nach Neapel blieb mir dann noch eine Stunde Zeit, die ich am Hafen unten im Schatten einer belanglosen Gelateria mit WLAN verbrachte. Auf einer Dating-App klickte mich Antonio an. Den Fotos nach zu schliessen ein hinreissend gutaussehendes Fotomodell mit Waschbrettbauch und kantigem Gesicht. So etwa könnte dieser Kellner damals auch ausgesehen haben. Der perfekte Schwiegersohn aller Mütter, im Falle Antonios allerdings mit der gut versteckt gehaltenen Eigenschaft, heimlich auf alte Männer zu stehen. Antonio schlug mir ohne Umschweife vor, die Nacht mit ihm zu verbringen, da seine Freundin glücklicherweise gerade auf dem Festland weile. Er verstand nicht, wie ich ein solches Angebot ausschlagen konnte, als ich ihm zu erklären versuchte, dass ich am selben Abend eine Eintrittskarte für die Oper in Neapel hätte. Was für eine Enttäuschung für den erfolgsverwöhnten Träger von Calvin-Klein-Unterwäsche, Gaultier-Hosen und Sakkos von Versace, nachzuschlagen in den einschlägigen Modejournalen.
Immerhin inspirierte mich Antonio zum Gedanken, dass es vielleicht doch die unerfüllten Sehnsüchte und Begierden sind, die den Reiz des Lebens ausmachen. Ich jedenfalls war sehr zufrieden mit diesem Tag. Die Idee versöhnte mich auf der Rückfahrt nach Neapel sogar ein bisschen mit den Neapolitanerinnen und Neapolitanern, deren lächerliches Gehabe als Essenz unerfüllter Sehnsüchte interpretiert werden kann. Die Stadt ist zwar nicht so, wie sie zu sein hätte, aber wir tun wenigstens so, als ob sie es wäre.




Freitag, 26. Juli 2019

Ein strahlender Tag

In der Klinik hatten sie vergessen, diese Kleber zu entfernen. Ich entdeckte sie abends beim Zähneputzen. Souvenirs eines strahlenden Tages.
Gestern strahlte ich. Ich erhellte damit den nächtlichen Himmel Bogotás und brachte Johan zum Weinen. Und das kam so.
In der kleinen Geschichte dieses heiteren Tages spielen zwei Kliniken eine entscheidende Rolle. In der ersten musste ich mir vor kurzem die Nieren untersuchen lassen. Auf nüchternem Magen, mit Kontrastmitteln und Luftanhalten in der Röhre. Gestern dann machte ich mich auf, die Resultate der Untersuchung abzuholen. Auf dem Weg dorthin rief mich M. an. M. , muss man wissen, ist ein Durch-und-durch-Literat, schreibt auf Französisch Gedichte und weiss über jeden Autor, über jede Autorin irgendeinen amüsanten Klatsch. Mit seinem Anruf wollte er seiner Begeisterung über die Lektüre meiner Blogs Ausdruck verleihen. Er erzählte mir auf meinem Gang zur Klinik, was er alles von mir entdeckt und gelesen habe und wie gut ihm meine Geschichten gefallen würden. Wieso ich die Texte nicht in Buchform veröffentliche? - Mit dieser ermunternden Plauderei gereichte mein Spaziergang zum Triumphmarsch, und die Leute um mich herum wunderten sich wohl, wie ich allmählich auf Zweimeterfünfzig heranschwoll, als ob ich gerade den Nobelpreis für was auch immer gewonnen hätte. Oder sonst eine Million Franken. 
Nach M. kamen die Nieren-Resultate. Soweit ich es dem Mediziner-Kauderwelsch entnehmen konnte, lag zu meiner grossen Erleichterung nichts Beunruhigendes vor, worauf ich auf dem Rückweg keinen Anlass sah, von meinen Zweimeterfünfzig herabzusteigen. Zu Hause dann verkündete ich Johan mein Glück, worauf er in Jubel ausbrach und mich herzte wie noch nie zuvor. Auch er veranlasste mich offensichtlich nicht, wieder auf Normalgrösse zu schrumpfen.
Es ging aber gleich weiter. Gleichentags erwartete mich eine andere Klinik, welche auf Herz- und Kreislaufkrankheiten spezialisiert ist. Schon 24 Stunden vorher musste ich mich mit dem Verzicht auf Kaffee, Tee und Coca-Cola darauf vorbereiten. Wieder wurde ich mit einer Nummer versehen und mit einem Kleber am Revers, und ich staunte aufs Neue, wie perfekt hier die Abläufe und die professionelle Handhabung der Patientenanliegen geregelt sind. Klar, ich geniesse in Kolumbien Privilegien, die einem Durchschnitts-Kolumbianer verschlossen bleiben, und ich erlebe in den alltäglichsten Dinge, wie angenehm es ist, das nötige Kleingeld zur Hand zu haben, und dies erst noch zu einem günstigeren Preis als bei einer allgemeinen Krankenkasse in der Schweiz, und günstig im Verhältnis zu meiner doch sehr bescheidenen Pension sowieso. 
Nach der Anmeldung durchlief ich fensterlose Flure, wo an jeder Seitentüre Radioaktivitätswarnzeichen angebracht waren. Dann bat man mich, ein Papier zu unterschreiben, das besagte, dass ich jetzt mit strahlenden Substanzen abgefüllt werde, und dass dabei die Sterberate kleiner als 1:10000 sei. Mir wären eine oder zwei Nullen im Überlebensfall noch lieber gewesen. Die Substanzen in meinen Adern erhitzten meinen Körper, und ich bekam eine Ahnung davon, wie ein Kernkraftwerk funktioniert. Und dann ging es ab in die Röhre. Auch hier: stillhalten. Atmen durfte ich. Immerhin.
Anschliessend beschied man mir, die Bilder seien unbrauchbar, zu grosse Interferenzen seien im Spiel, was in meinem Verständnis nichts anderes hiess, als dass ich eine allzu grosse radioaktive Dosis verabreicht bekommen habe. Man empfahl mir einen Spaziergang und das Trinken von Wasser. Worauf dasselbe Procedere in der Röhre noch einmal vollzogen wurde, diesmal zur Zufriedenheit der Assistentin. Um fünf Uhr kam ich gerade noch rechtzeitig nach Hause, um Vanessa, unsere Putzfrau, und ihre bildhübsche Tochter Vanery zu verabschieden.
Ein voller, strahlender Tag, zu dessen Feier ich Johan ins Rio einlud, unser bevorzugtes Speiselokal um die Ecke. Dort erfuhren wir zwar, dass der peruanische Koch mittlerweile sein eigenes Restaurant einige Strassen weiter oben eröffnet habe, dass aber sein Lehrbub genausogut koche, ganz nach den Rezepturen des weitergezogenen Chefs. So war es denn auch, und ich gestand Johan beim Salmon-Tartar und dem zweiten Gin tonic, wie sehr mich seine Freude über meine guten Nierenresultate gefreut hätten. Da brach er in Tränen aus und sagte, er hätte sich grosse Sorgen um mich gemacht, was wiederum mir die Tränen in die Augen schoss. Als wir vom Rio ins Freie traten, schien mir, als ob es um mich herum heller sei als sonst. Für einen Augenblick wenigstens.
* * * 
P.S. Wie sich heute herausstellt, fielen die Resultate der Herz-Untersuchung ebenfalls zufriedenstellend aus. Bestimmt haben die heftige radioaktive Strahlung, das gestrige Nierenglück und die Zweimeterfünfzig zum guten Resultat beigetragen... 
© Nikolaus Wyss

 

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Dienstag, 23. Juli 2019

Ein Freund aus Kolumbien


Mir widerfuhr neulich in Deutschland, was mir in Kolumbien häufig passiert: Meine Herkunft interessiert, und die Kenntnisnahme wird stets mit anerkennenden, staunenden Worten und von Interesse zeugenden Fragen begleitet.
Ich hielt mich also für ein paar Wochen in Deutschland auf. Im Zentrum standen Wiederbegegnungen mit alten Freunden. Wir unternahmen Ausflüge, gingen gemeinsam essen, machten Besuche und nahmen an Veranstaltungen teil. Bei solchen Aktivitäten begegnete ich immer wieder deren Freunde, denen ich regelmässig als Freund aus Kolumbien vorgestellt wurde. Das war so überhaupt nicht abgesprochen. Doch meine Freunde schienen Spass daran zu haben, ihren Freunden einen Überseefreund vorstellen zu können, und sie rechneten sich wahrscheinlich aus, damit mehr Aufmerksamkeit zu erzielen, als wenn ich als Schweizer Pensionär dahergekommen wäre. Die Kenntnisnahme meiner „Herkunft“ provozierte jedenfalls anerkennendes Staunen. Die einen entschuldigten sich für ihr mangelhaftes Spanisch, worauf ich sofort zu verstehen gab, dass ich der deutschen Sprache mächtig sei. Andere erkundigten sich freundlich, ob das Land besser sei als der Ruf, der ihm vorauseilt, und fanden es mutig, dorthin auszuwandern.
Mein Kolumbien-Ruf verdichtete sich an einem Abend bei den Berliner Philharmonikern zu einem vielseitigen, und gleichzeitig verstörenden Erlebnis. Wir hörten eine Haydn-Symphonie, das 4. Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven und die 5. Symphonie von Robert Schumann. Am Pult: Daniel Barenboim, am Klavier: Maria João Pires, die kurzfristig für den erkrankten Radu Lupu einsprang. Da meine Berliner Freundin früher bei der Philharmonie in leitender Stellung arbeitete, hat sie auf Lebenszeit für alle Konzerte Anrecht auf zwei Gratiskarten, und in ihrem Schlepptau durfte ich von ihren Privilegien profitieren. In der Pause und nach dem Konzert begleitete ich sie in die Künstlergarderoben und konnte auch die zarte Hand von Frau João Pires drücken und ihr gratulieren zum gelungenen Auftritt. Als Freund aus Kolumbien liess sie mich sofort wissen, dass sie im Oktober in Bogotá zugegen sei, was ich mir natürlich sofort vormerkte. Dann arbeiteten wir uns auch zum in Argentinien geborenen Maestro Barenboim vor, und als Freund Kolumbiens liess ich verlauten, wie gut mir der Abend gefallen habe. Er aber verstand, dass mir Kolumbien so gut gefalle und antwortete mit leerem, glasigem Blick, ja, schönes Land. Dann kamen Geiger und Hornisten dran, und irgendwann stiessen wir auch auf den Bassisten Edicson Ruiz aus Venezuela, von welchem meine Begleiterin erzählte, dieser sei in seiner Jugend in einem Slum von Caracas vor der Wahl gestanden, sich entweder einer kriminellen Gang anzuschliessen oder im Rahmen des einmaligen Sozial-Musik-Projektes El Sistema von José Antonio Abreu, das Cello zu erlernen. Später wechselte er zum Bass und gelangte mit einem Stipedium nach Europa. Jetzt spielt er seit vielen Jahren in der Philharmonie. Dem Freund aus Kolumbien gegenüber fühlte er sich natürlich verpflichtet, sofort auf Spanisch zu wechseln. Nun muss man wissen, dass Venezolaner beim Sprechen kaum ihre Lippen bewegen und in einer Geschwindigkeit daherreden, dass einem Hören und Sehen vergeht. So geschah, was geschehen musste. Ich verstand nichts, antwortete – welche Schmach – auf Deutsch, und kam mir in diesem Moment so unheimlich nackt und überführt vor.

© Nikolaus Wyss

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Dienstag, 16. Juli 2019

Dein Platz, liebe Mutter

Die Esplanade Laure Wyss umgittert: der Rasen braucht noch seine Zeit. Aufnahme Juni 2019

Liebe Mutter
Es ist ja schon eine Zeit lang her, seit ich dir das letzte Mal geschrieben habe. Vor 20 Jahren vielleicht? Damals hast du im fortgeschrittenen Alter noch e-mailen gelernt. Rund um deinen nigelnagelneuen Mac lagen Zettelchen, auf denen du dir die einzelnen Handgriffe notiert hast. Affenschwanz: G/@, links alt/option; Internet: Safari aktivieren, www-Adresse in oberste Leiste und so weiter. Manchmal wusstest du aber nicht mehr, wofür dieser Affenschwanz überhaupt nötig war, und so wollten deine Sendschreiben einfach nicht losgehen. Da war dir der Fax vertrauter. Dort konntest du ohne viel Federlesens Handschriftliches versenden. Einige dieser Fernschreiben habe ich noch aufbewahrt. Allerdings sind sie bis zur Unleserlichkeit verblichen.
Mit meinem heutigen Schreiben möchte ich dich über die Eröffnungsfeier der Esplanade Laure Wyss orientieren, die deine Heimatstadt Biel/Bienne am 17. August 2019 veranstalten will. Vielleicht hast du ja Lust, ein bisschen über der Veranstaltung zu schweben und zu beobachten, wie dein Platz von der Bevölkerung aufgenommen wird.
Ja, du hast es geschafft – auch wenn es wohl nicht unbedingt dein Ehrgeiz war, in Biel deinen Platz zu bekommen. Dein Sinn stand wohl eher nach Zürich ... Es war aber der Wille einiger politisch engagierter Frauen, die sich seit Jahren dafür einsetzen, in Biel die Rolle der Frau in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft sichtbar und erlebbar zu machen. Sie gründeten den Frauenplatz Biel und organisierten im Vorfeld des Frauenstreiks Führungen durch die Stadt und weisen nun mit der bevorstehenden Eröffnung deines Platzes einen erheblichen Erfolg auf.
Da ich selbst am Eröffnungstag nicht zugegen sein werde, hatte Gemeinderätin Barbara Schwickert die Liebenswürdigkeit, mich zusammen mit deiner Nichte Elisabeth und deinem Neffen Tobias mit seiner Frau Annemarie zu einer Vorbesichtigung einzuladen. Sie kam in Begleitung des Leiters Hoch- und Neubau, Werner Zahnd. Treffpunkt war unter dem Vordach des Kongresshauses, und wir hatten uns dafür wohl den heissesten Tag des Jahres ausgesucht.
Diese langgezogene Esplanade ist ein Dreiteiler. Der erste Teil der Flucht bildet das Flachdach eines unterirdischen Parkhauses: eine Betonfläche mit neckischen Vertiefungen, wo sich Pfützen bilden dürfen. Dann kommt, einem Riegel gleich, die Coupole. Dieser Gaskessel ist das älteste autonome Jugendzentrum der Schweiz, wo seit über 50 Jahren Konzerte, Versammlungen und Veranstaltungen stattfinden. Als Journalist musste ich einmal eine Reportage machen über diesen Chessu. Das ist aber lange her. In Erinnerung bleibt mir nur noch das Gefühl der Klaustrophobie.
Und dahinter fängt dann dein Teil an, liebe Mutter: eine Rasenfläche mit ein paar bepflanzten Hügelchen, zum Zeitpunkt der Besichtigung eine noch recht fragile Fläche, an deren linkem Rand eine Häuserfassade dominiert mit spitzen Balkonen. Ich befürchte, sie würde dir nicht gefallen. Auf meinen Führungen durch Schwamendingen, wo wir auch immer wieder scheusslichen Fassaden begegnet sind, pflegte ich jeweils zu sagen, dass diejenigen, die darin wohnen, diese ja nicht sehen müssen. Sie haben im Falle von Biel Aussicht auf deinen Platz, können beobachten, wie die Bevölkerung die Fläche langsam in Beschlag nimmt, sie mit eigenen Aktivitäten ausfüllt. Und es dürfte nicht allzu lange dauern, bis die Polizei an milden, langen Samstagabenden wegen Lärmbelästigung herbeigerufen wird, um etwas Ordnung zu schaffen. Dies hingegen dürfte dir gefallen, die gemütliche Störung bürgerlicher Wohlbestalltheit.
Das wärs auch schon. Ich hoffe doch sehr, du lässt es dir im Jenseits gut ergehen. Ich spüre auch schon einen Sog in jene Richtung. Wir sehen uns.
Dein Filius
 





Donnerstag, 9. Mai 2019

Stägeli uuf, Stägeli ab juhee (Tagebuch 6)

Jesús in seiner Blüte...
27. April 
Jesús wohnt jetzt eine Zeitlang bei uns. Er kann es sich leisten, weil ihm die Unterkunft sein italienischer Freund bezahlt. Sie hatten sich vor einiger Zeit übers Internet kennengelernt und sich kürzlich hier zum ersten Mal getroffen.
Es war die Rede davon, dass Jesús ihm nach Italien folge. Daraus wird vorerst wohl nichts. Sein venezolanischer Pass ist abgelaufen. Die diplomatischen und konsularischen Beziehungen zwischen seinem Land und Kolumbien sind versiegt, den Antrag für einen neuen Pass kann er sich ans Bein streichen. Ebenso wenig helfen ihm da die benachbarten Länder, weil er ja zur Einreise dorthin über einen gültigen Pass verfügen müsste. Und Venezuela, sein Heimatland, aus welchem er vor zehn Monaten geflohen ist, wird ihm schon gar nicht weiterhelfen wollen. Momentan werden dort gar keine neuen Reisepässe ausgestellt. 
Er ist also gestrandet hier im Asylzentrum Casa Wyss. Freunde machen ihm Hoffnung, es doch mit einem gefälschten Pass zu versuchen. Ich warne davor in echt schweizerischer Manier. Jesús malt, er versteht sich als Künstler. Er färbt sich sein Haar jeden Tag aufs Neue. Das bringt etwas Abwechsung in sein Leben.

28. April
Die Tatzen als Nadelkissen und die Schnautzhaare für Eladio, der Mechaniker ist

Ich lerne momentan ein Gedicht auswenig, das hier Verwirrung stiftet, wenn ich es zitiere. In seiner abgründigen Art gefällt es mir sehr: 

Piedad Bonnett

Reciclando – Wiederverwertung   

Cuando papá en un ataque de rabia mató al gato, 
Als Vater bei einem Wutanfall den Kater tötete, 

a mi gato Bartolo
meinen Kater Bartolo 

porque metió la cola entre su caldo
weil dieser den Schwanz in dessen Suppe getaucht hatte 

y porque ya era viejo y no cazaba como debía ratones
und weil er schon alt war und keine Mäuse mehr fing 

y ademas era caro mantenerlo,
ausserdem kostete er uns Geld, 

cuando papá borracho lo mató con sus manos,
als Vater ihn also im Rausch mit seinen eigenen Händen erwürgte, 

hubo una gran algarabía en casa.
Da war etwas los bei uns im Haus. 

Vinieron todos, todos;
Alle kamen, alle; 

mi hermana dijo: guardenme los ojos
meine Schwester sagte: ich möchte die Augen 

para un par de zarcillos, y Martino,
für ein Paar Ohrringe, und Martino, 

nuestro vecino ciego, se pidió las tripitas
unser blinder Nachbar, fragte nach dem Darm 

- sirven para hacer cuerdas de violín -
- damit lassen sich Violinsaiten herstellen - 

y mi mamá, que al principio lloró, lloró conmigo,
und meine Mutter, die erst weinte, mit mir weinte, 

quiso la piel
wollte schliesslich das Fell 

para ponerle cuello a su chaqueta,
um es als Kragen für ihre Jacke zu verwenden, 

y los bigotes
und um die Schnauzhaare 

se los pidió mi hermano Eladio, el que es mecánico,
bemühte sich mein Bruder Eladio, der Mechaniker ist, 

y los cojines de sus patas fueron
und die Pfoten schliesslich sollten 

lindos alfileteros
niedliche Nadelkissen werden 

para la bruja gorda que vive atrás del patio
für die dicke Hexe auf der anderen Hofseite, 

y es modista.
die Schneiderin ist. 

Lo que sobró lo hirvieron con sal y cebolla.
Was übrig blieb, wurde mit Salz und Zwiebeln ausgekocht. 

Se lo dieron a Luis, que duerme en nuestra calle,
Sie gaben es Luis, der in unserer Straße schläft, 

pues también sirve el caldo de gato para el hambre.
denn auch eine Katzensuppe hilft gegen Hunger.


Yo me pedí los huesos.
Ich bat um die Knochen. 

Uno a uno los muerdo delante del espejo de mi hermana
Einen um den anderen nage ich jetzt vor dem Spiegel meiner Schwester 

porque dijo mi abuela
weil meine Großmutter sagte 

que al morder el que toca se vuelve invisible
sie zu beissen mache unsichtbar

y eso quiero.
und das ist es, was ich möchte. 


30. April
Tapsi und Arlette hiessen die beiden Dalmatiner vor 60 Jahren, welche das Leben einer befreundeten Arztfamilie bereicherten. Sie bettelten am Tisch und erhielten zuweilen Knochen zugesteckt. Von ihrem Geifer bekamen auch meine Hosen etwas ab, was mich für sie nicht gerade einnahm. Wenn sie läufig waren, trugen sie Höschen. 
Meine Mutter fand diese gefleckten Viecher blöd. Ich aber dachte eher, so richtig blöd würden sie erst durch ihre Namen, mit denen sie bedacht worden sind.


6. Mai

Meine Ängste werden zur Zeit gut bewirtschaftet, und ich beobachte mich dabei, wie ich mich immer mal wieder daraus zu befreien versuche. Da war die Netflix-Serie über die Narcos in Kolumbien. Ein über viele Episoden hinziehendes Verfolgen, Niederknallen und Katz-und-Maus-Spielen in einer mir wohlvertrauten Umgebung. Plötzlich sah ich in jedem Taxifahrer einen Gehilfen Escobars, und jeder Polizist steckte für mich unter einer Decke mit den Gesetzlosen. Diejenigen mit Krawatte waren die Verdächtigsten. Stiegen sie in eine Limousine, so erwartete ich, dass eine Bombe losging. - Es brauchte seine Zeit, das Vertrauen in den jetzt gelebten Alltag wieder herzustellen.
Dieser Tage wird der Bericht zum Zustand der Biodiversität unserer Erde veröffentlicht. Vergegenwärtigt man sich die Folgen, so sieht es für die absehbare Zukunft unserer Menschheit noch schlimmer aus als beim Klimawandel. Und man fühlt sich so fürchterlich allein gelassen mit seiner Sorge. Da liefern sich Politiker jeder Couleur Schaukämpfe und lassen jede Verantwortung für unser Wohl vermissen. Beiträge und Opfer von uns werden nicht honoriert. Niemand klopft mir auf die Schulter, wenn ich auf die geplante Indien-Reise verzichte oder statt Fleisch Kichererbsen und Linsen zubereite. Die Überwindung dieser Angst wird wohl noch eine Weile andauern. Ja, vielleicht wäre es gar nicht so gut, diese abzulegen. Vielleicht hülfe als Anreiz auch das in China bereits eingeführte Punktesystem mit Gesichtserkennung. Damit werden alle Bürgerinnen und Bürger des Landes überwacht. Für jede umweltfreundliche Tat gäbe es Pluspunkte. So würde man zum besseren Menschen, der Steuerabzüge und andere Goodies für sich in Anspruch nehmen dürfte.
Da kommt mir die Angst vor dem Altern gerade gelegen. Sie verflüchtigt sich angesichts des Zustands dieser Welt geradezu. Es gibt da eine schon fast wohltuende Gewissheit, dass man noch vor dem Weltuntergang sterben wird. 

7. Mai
Foto aus Nigeria von Jonathan Liechti
Besuch des Schweizer Beitrags an der Fotográfica Bogotá in der Uni Tadeo. Bemerkenswert, ja seltsam ist, dass sich diese Schweizer BildkünstlerInnen bei der Auswahl ihrer Sujets fast alle auf die Darstellung des Elends kapriziert haben: Flüchtlinge im Balkan, Arme in Afrika und Brasilien. Als ob das Schöne, das dem Ruf der Schweiz vorauseilt, mit der Darstellung des Unschönen und Unglücks in der Fremde kompensiert werden müsste. Und dann noch ein ästhetischer Purzelbaum: die Fotos sind schön und exotisieren das Elend. Und dies hier in einem Land, das tagtäglich am eigenen Leib erfährt, wie hart und ungerecht das Leben mit einem umgeht. Zwiespältig das Ganze.

8. Mai
Dorothee Hess und ich anlässlich einer Veranstaltung im Büchertreff Schwamendingen
Heute vor elf Jahren verstarb meine Freundin Dorothee Hess-Bachofner nach langer, rätselhafter Krankeit, die sich erst im Laufe der Zeit als ALS herausstellte. Bei ihr schlug es zuerst auf die Sprache. Sie konnte sich nach einer Weile nicht mehr artikulieren. Das war sowohl für sie wie auch für ihre unmittelbare Umgebung besonders bitter, denn sie war die geborene Kommunikatorin. Sie hatte immer ein Ohr für andere und vermochte mit treffenden Worten zu reagieren. Man fühlte sich von ihr verstanden. Mit vielen verband sie eine Art Komplizenschaft, eine Mischung aus Klatsch und Anteilnahme, durchsetzt mit einer gehörigen Portion Humor. Sie führte ein gastliches Haus und war Mutter von vier gutaussehenden Buben, die es alle in ihren Leben zu etwas gebracht haben. Über ihren Gatten Heinz schrieb ich anlässlich seines Todes unter diesem Link etwas
Dorothee kommt mir immer an erster Stelle in den Sinn, wenn ich an Schwamendingen denke, wo ich 20 Jahre meines Lebens verbracht habe. Wir gründeten zusammen die Genossenschafts-Buchhandlung Büchertreff. Unsere Wege kreuzten sich aber auch sonst auf vielfältige Weise, und es gab Zeiten, wo wir gleichzeitig dieselben Bücher lasen und uns darüber austauschten. Sie kannte alle meine Lovers. Und die Tatsache, dass ich damals in meiner Einsamkeit ab und zu eine Portion Familienleben brauchte und dazu nur über die Strasse zu Hessens zu gehen brauchte, habe ich andernorts sicher schon zehnmal erwähnt. Jetzt würde Dorothee in ihrem 77. Lebensjahr stehen, und ich kann sie mir noch immer nicht anders vorstellen als sie damals war: agil, mit Schalk in den Augen, im Garten, mit Blumen, grad jetzt, im Mai, wo alles blüht.  

10. Mai
Hinter meinem Haus befindet sich eine Baubrache, welche als Parkplatz genutzt wird. Akkustisch ist das Geviert insofern interessant, als ihm einige spezifische Geräusche eigen sind. Zum einen ist da der Parkplatz-Zuweiser, der dem einfahrenden Automobilisten mit lautem Deledeledele zu verstehen gibt, er könne ruhig noch etwas näher zur Mauer auffahren. Hunderte Male am Tag. Deledeledele. Dann sind da zum andern die Alarmanlagen der Autos, die alle losgehen, wenn wieder einmal eines der häufigen Gewitter über der Stadt donnert. Dann zwitschern, heulen und schnattern die Vehikel wie eine Volière voller aufgescheuchter Vögel. 
Auf dem Gelände befindet sich auch ein Abbruchobjekt, in welchem sich Punks eingenistet haben. Ihr akkustischer Tageslauf fängt ungefähr um 15 Uhr an, wenn der eine sich anstelle einer Dusche am Schlagzeug aufzufrischen beginnt und ein anderer die wenigen Basstöne, die er beherrscht, dröhnen lässt. Manchmal gesellen sich weitere Musiker hinzu. Sie üben aber nicht, sie versuchen vielmehr, ihre Zeit zu vertreiben, indem sie der Umgebung musikalisch zu verstehen geben, dass sie nichts mit Musik zu tun haben wollen. Manchmal schreien sie auch einfach wild durcheinander. Das zieht sich in den Abend hinein. Doch richtig los geht es erst abends um halb elf, wenn ich zu Bette gehe und wenn deren Mädchen eintreffen, um die langweiligen Töne der Boys mit ihren Lachsalven und ihrem Gekreische zu übertreffen. Immerhin gibt es Abende, wo die Punks von schrecklich falsch intonierten Tönen auf der Terrasse der gegenüberliegenden Seite konkurrenziert werden. Dort werden nämlich regelmässig Karaoke-Anlässe durchgeführt, angefeuert von einem Animator, der nicht genug bekommt, über Lautsprecher die zögernde Gästeschar zum Singen aufzufordern. Alkohol hilft auch hier, und je später der Abend umso lauter das we are the champions...
Auf dieser Brache ist ein Neubau geplant. Sieben Stockwerke hoch. Der Verkauf der Appartments habe sich gut angelassen, versichert mir der Agent. Im kommenden Oktober schon sollen die Bagger auffahren. - Das Haus wird mir Licht wegnehmen, dafür verspreche ich mir ruhigere Abende. Man kann nicht einfach alles haben. 


©Nikolaus Wyss

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