Samstag, 30. Dezember 2017

Rameli tot - Jürg Ramspeck war vor 45 Jahren mein Chef


Jürg Ramspeck (rechts) mit seiner Frau Hildegard Schwaninger und dem Fotografen Willy Spiller anlässlich von dessen Fotoausstellung in der Photobastei am 20. August 2015
Ich war ihm in meiner Kindheit nie begegnet. Doch sein Übername, den ihm die Familie meiner Gotte verliehen hatte, begleitete mich durch meine ganze Jugend: der Rameli. Er war der Schulfreund eines der Buben dort und ein sicherer Wert in den Erzählungen meiner Gotte. Der Rameli ist ... der Rameli meint ... der Rameli hat gemacht ... Dieser Sohn aus dem Pianohaus Ramspeck an der Mühlegasse war in den Augen meiner Gotte offenbar ein Tausendsassa, raffinierter und musikalischer noch als die eigenen vier talentierten Söhne, auf die sie doch sonst so stolz war.
Nach dem Gymnasium verzichtete er auf ein Studium. Sanskrit und die Geschichte Mesopotamiens hätten ihn zwar interessiert, doch er wandte sich stattdessen direkt dem Journalismus zu. Dazu gibt es zumindest zwei Versionen: Die eine besagt, dass er wegen frühem Nachwuchs unbedingt Geld verdienen musste; die andere, dass er mit seinem grossen Talent ein Studium für nicht zielführend hielt.
Als ich 1972 aus Lateinamerika heimkehrte, vernahm ich, dass dieser Rameli mittlerweile Karriere gemacht hatte. Er hatte mit knapp 20 bei der Weltwoche als Journalist angeheuert. Später wurde er Chefredaktor des Gratisanzeigers Züri Leu, einer Publikation, die jede Woche in alle Briefkästen der Zürcher Haushaltungen verteilt wurde und sich bemühte, neben dem üblichen Klatsch auch einen gewissen Recherchejournalismus zu pflegen. Weil ich einen Job suchte, schrieb ich Jürg Ramspeck einen anständigen Bewerbungsbrief. Als es zu einem Vorstellungsgespräch kam, bot er mir sogleich das Du an. Beim Treffen damals ging es dann eigentlich nur noch darum, ob ich schon morgen oder erst in einer Woche anfangen sollte.
Diese Leichtigkeit im persönlichen Umgang hielt das ganze Jahr, in dem ich meine Sporen als Redaktor abverdiente, an. Jürg war ein unterhaltendes Klatschmaul. Er wusste zu jedem und jeder eine Sottise, und es blieb sein Geheimnis, wieso ihm sein loses Mundwerk nie zum Nachteil gereichte. Ich war mir sicher, dass er in meiner Abwesenheit auch über mich lästerte. Doch Argwohn kam nicht auf. Lag es vielleicht daran, dass er, im Gegenzug, unglaublich präzise arbeitete? Nicht nur gedanklich, auch technisch. Neben seiner Schreibmaschine lag ein Blatt, wo er zuoberst die erforderliche Zeilenzahl des Artikels aufschrieb. Jede Satzzeile, die er mit einer qualmenden Zigarette im Mundwinkel in die Schreibmaschine hämmerte, zog er von dieser Summe ab, bis er mit dem letzten Punkt bei null landete. Keine Zeile zu viel, keine zu wenig. Keine Korrekturen. Fertig. – Diese effiziente Schreibweise erlaubte es ihm, viel Zeit für anderes zu haben, zum Spielen mit uns Redaktionskollegen beispielsweise. Damals war Acquire angesagt, ein nicht unspannendes Wirtschaftsstrategiespiel.
Manchmal aber wurde er zum Verleger gerufen, zu Max Frey, dem Chef der Jean Frey AG. Auch von diesen Besuchen berichtete Jürg anschliessend in unterhaltend-abfälligem Ton. Wie er zum Beispiel, zusammen mit Walter Bosch, dem damaligen Chefredaktor der Annabelle, auf die Verlegerjacht eingeladen worden sei, wo auch Frauen als Gespielinnen anwesend gewesen seien. In den Augen Jürgs hatte Max Züge eines Mafiabosses. Eine andere Geschichte handelte davon, dass er für Max – die beiden waren selbstverständlich per Du – einen Flügel auswählen musste für dessen Schloss in der Toskana, unter der zusätzlichen Bedingung, dort dieses Instrument selbst ab und an auch zu bedienen. Als ob Jürg dafür Zeit gehabt hätte. Denn es kam mindestens einmal im Monat vor, dass er ganze Wochenenden in den Redaktionsräumen verbrachte. Wenn wir montags im Büro erschienen, lag der Schlafsack noch ausgebreitet auf dem Boden, sämtliche Aschenbecher waren voll mit seinen Kippen, und aus den Papierkörben stank es nach den nur halb fertig gegessenen Sandwiches. Er sagte dann bloss, so eine Familie, von der er getrennt lebte, koste halt. Deshalb redigierte er nebenher noch das 3M Kundenmagazin, was ihm vermutlich mehr Geld einbrachte als sein Chefredaktorlohn.
Zu meinen Aufgaben auf der Redaktion gehörten auch Strassenumfragen, die ich mit dem Fotografen Willy Spiller realisierte:
– Was sagen Sie zur Erhöhung der Strassenbahntarife?
– Wie verbringen Sie den Sommer in der Limmatstadt?
– Wohin würden Sie am liebsten verreisen, wenn Sie nicht auf ihr Portemonnaie achten müssten?
Auch die Betreuung des Züri-Leu-Cups, eines Eishockeyturniers auf der Kunsteisbahn Dolder, gehörte zu meinem Portefeuille, wie auch das wöchentliche Einholen der Kolumnen. Die Anlieferung von Werner Wollenbergers Texten war stets ein Derby. Seine Frau Elfie erschien auf der Redaktion am Talacker 39 mit dem Manuskript ihres Gatten regelmässig eine Stunde zu spät und fragte des Öfteren aufgelöst, aber charmant, ob der Züri Leu die Busse für die von ihr begangene Geschwindigkeitsübertretung übernehmen würde. Die Kolumnen Roman Brodmanns hingegen trafen meistens fristgerecht ein. Sie hatten es in sich. Scharfzüngig, angriffig, auf den Punkt gebracht. Mit Genuss übergab ich jeweils dem Boten diese gepfefferten Texte weiter zur Setzerei. Doch eines Tages vernahm ich, dass Max Frey in Begleitung von Jürg persönlich dort erschienen sein soll, Brodmanns Manuskript einverlangt und dessen Publikation verboten habe. Ich kann mich nicht mehr an den Inhalt erinnern, doch es erzürnte mich dermassen, und der Zorn traf auch Jürg, dem ich mangelndes Rückgrat vorwarf, dass ich kurz entschlossen meine Arbeit beim Züri Leu aufkündigte.
Jürg verübelte mir diese Aktion, und unser Kontakt beschränkte sich in den folgenden 40 Jahren auf zufällige Begegnungen an Vernissagen und anderen Events. Vor einigen Jahren jedoch setzte ich an einem Donnerstagabend meinen Fuss ins Hotel Eden au Lac, um mir seine Jazzband anzuhören. Dieser Altherrenklub berührte mich. Ich wusste nämlich nach meiner Pensionierung lange Zeit mit mir nicht sehr viel anzustellen und musste meinen Freiraum mit Aktivitäten füllen. Und da hörte ich diese Combo mit Jürg am Klavier, die trotz fortgeschrittenen Alters unbeirrt dem Jazz frönte. Das imponierte mir. In der Pause bestellte ich einen zweiten Gin Tonic und hatte ein sehr schönes Gespräch mit Jürg, der zu mir kam und vor Anekdoten nur so strotzte – wie immer. Er wollte unbedingt noch ein Buch über die Geschichte des Journalismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schreiben. Wer sonst, wenn nicht er, hätte das notwendige Wissen, die notwendigen Erfahrungen und den notwendigen Witz dazu gehabt.

© Nikolaus Wyss

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Freitag, 29. Dezember 2017

Wo liegt Panama Stadt? - Tagebuchnotiz

Ich halte mich zum ersten Mal in Panama City auf. Im Gegensatz zu Kolumbien kommt mir hier alles etwas amerikanischer vor. Die Autofahrer nehmen auf die Fussgänger hier eine Spur mehr Rücksicht. Alles ist auch ein bisschen teurer. Als Zahlungsmittel benützen sie den Dollar. 
Bis vor fünf Minuten war ich der felsenfesten Überzeugung, die Stadt liege an der Karibik. Für mich gab es nie etwas anderes. Verstörend war einzig, dass das Meer, das ich vom Hotelzimmer aus sah, nicht die für dieses Meer charakteristische blaugrüne Färbung aufwies. Ich dachte, das ist wohl dem Regenwetter geschuldet. Und jetzt, in der Mall des Shopping Centers Multicentro, wo ich mir einen Kaffee genehmige, sehe ich mir zum ersten Mal die Touristenkarte von Panama genauer an. Jemand hat sie mir tags zuvor am Flughafen zugesteckt. Und ich denke noch: jetzt haben sie auf dieser Karte ausgerechnet die Hauptstadt einzuzeichnen vergessen. Dort, wo ich sie ahne, steht Colon. Was soll denn das schon wieder? Erst beim zweiten Schluck Kaffee entdecke ich, dass die Stadt überhaupt nicht vergessen ging. Sie liegt nur woanders: im Süden des Landes, am Pazifik. Kann dies wahr sein? Meine Verblüffung ist komplett. Das Wasser, das ich da draussen sehe, ist der Pazifik! Nicht die Karibik! Nikolaus, wo bist du? Filterwechsel! 
Und jetzt überlege ich mir die ganze Zeit, woher mein Irrtum stammen mag. Kann es vielleicht an der unpräzisen Weltkarte liegen, die ich seit Kindsbeinen im Kopf habe? Mittelamerika wird auf der Höhe von Panama sehr schmal. Deshalb auch der Kanal dort. Deckt vielleicht der Punkt, der die Stadt markiert, beide Küstenstreifen ab? Aus der Geschichte weiss ich zudem, dass der Panama-Kanal ursprünglich eine französische Initiative war. Wahrscheinlich schloss ich daraus fälschlicherweise, dass deshalb auch die Stadt eine europäische Gründung sein müsse, ein Tor zum Westen, in die grüne Hölle und zum stürmischen Pazifik hinüber. Noch jetzt, beim Schreiben dieser Zeilen, kann ich mich kaum fassen. Welch ein Irrtum! Ausgerechnet mir, dem Weitgereisten, passiert sowas!
Die gesalzene Butter im Hotel macht so wenigstens Sinn. Es handelt sich um die Marke Anchor (since 1886) und stammt aus Neuseeland. Ich begegnete ihr schon in Hotels von Thailand und Indonesien. Klar doch, der Pazifik! Die Butter musste auf ihrer Anreise nicht einmal den Panama-Kanal durchqueren. So einfach ist das. Jetzt sehe ich die Stadt anders. 

© Nikolaus Wyss

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Freitag, 1. Dezember 2017

Das Frauenhaus von Getsemani

Ich weiss nicht, an welchen Wegmarken diese Geschichte noch vorbeikommen wird. Ich weiss nur, wie sie endet: in einer weihnachtlichen Sammlung für das Frauenhaus von Getsemani. Was für ein Ortsname für diese Jahreszeit! (Würde doch eher auf Gründonnerstag zutreffen...) Naja. Gerade vorhin habe ich mit meiner Bank in der Schweiz Kontakt aufgenommen und fragte nach, wie die Einrichtung eines Spendenkontos technisch funktioniere. Ich hoffe, ich bekäme die notwendigen Informationen bis zum Ende dieses Textes.
Getsemani ist eines von 14 Dörfern im Indio-Reservat von Caño Mochuelo am Rio Casanare weit draussen in den Llanos, der immensen und heissen Tiefebene im Osten Kolumbiens, wo Grossgrundbesitzer regieren, Rinderherden weiden, Vögel Paradiese vorfinden und besonders des Nachts urweltliche Schreie ausstossen, Anakondas im Unterholz ihr Fressen erwürgen, Kaimane in den Nebenarmen der Flüsse lauern und Mücken ihr Unwesen treiben. Es ist unwegsam. In der Regenzeit findet der Verkehr auf den Flüssen statt, in der Trockenzeit gibt es Trampelpfade durch endlose, steppenartige Landschaften, auf denen man sich am besten zu Pferd fortbewegt. Wer keine Angst vor platten Reifen hat, dem bieten sich als Alternative robuste Velos oder Motorräder an. 
Unsere Anfahrt schafften wir in zwei Tagen: Mit dem Flugzeug nach Arauca, wo wir übernachteten, und dann in einer sechsstündigen Fahrt in einem schweisstreibenden Bus
auf holpriger Naturstrasse bis nach Cravo Norte. Eigentlich wollten wir dort nach dieser anstrengenden Reise eine weitere Nacht verbringen, doch der örtliche Sicherheitschef, dem unsere Ankunft vorgängig gemeldet worden war, riet uns zur sofortigen Weiterreise: im Busch vernehme man verdächtige Bewegungen! Er wollte wegen uns wohl keine Scherereien bekommen. Vielleicht hatte er schon die Schlagzeile des El Espectador vor Augen: Schweizer entführt! Millionen-Lösegeld gefordert. Und er wäre an allem schuld gewesen... 
Im östlichen Teil Kolumbiens gibt es immer noch ein paar Guerilla-Nester der ELN. Vielleicht sind es auch Paramilitärs. Versprengte, kriminelle Banden, die im Zuge des einst blühenden Cocain-Narko-Imperiums von Pablo Escobar, der in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts ganz Kolumbien in Angst und Schrecken versetzte, ihre Rolle als Verteidiger irgendwelcher selbsterfundener Rechte fanden. Das Polizei-Hauptquartier in der Stadt Arauca schmückt zur Erinnerung an jene Zeit seinen Garten vor dem Hauptgebäude mit der beschlagnahmten Avioneta des Drogenkönigs.
So bestiegen wir, schon etwas erschöpft, in Cravo Norte ein bereits vollbepacktes Motorboot, das uns in zweistündiger Fahrt flussabwärts nach Getsemani brachte. Es nachtete ein, als wir von unserer Gastgeberfamilie Gualdron mit grossem Bahnhof empfangen wurden. Der Rektor des örtlichen Colegios, Don Alberto, war zugegen, das Pastorenpaar der evangelikalen Kirche kam vorbei, und eine Verwaltungsbeamtin aus Yopal, welche die Dorfbewohner für die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen registrieren liess, begrüsste uns und befreundete sich alsogleich - noch mehr als mit uns - mit dem Papagei der Gualdrons an. Am nächsten Tag jedenfalls flog das Viech, das nichts als absolut unerträglich und unaufhörlich krächzen kann, in Erinnerung an den vorangegangenen Abend direkt auf die Arme der jungen Frau und zerkratzte sie schön.
 Weitere Nachbarn stellten sich am Willkommensabend ein. Sie beäugten uns im Halbdunkel aus etwelcher Entfernung. Zum Schluss fuhr noch die Attraktion des Dorfes auf ihrem Motorrad vor: eine junge, schwarze Chemie-Lehrerin aus dem Choco, dem Westen Kolumbiens, die hierher versetzt wurde und sich rigoros zum Umweltschutz bekannte. Sie bat mich alsogleich, ihr bei der Evaluation von Abfallverwertungsmethoden zu helfen. 
Im Dorf gibt es kein elektrisches Netz. Jede Familie muss sich selber zu helfen wissen. Diejenigen, die sich einen Generator leisten können, bringen ihn abends zum Laufen, um Handys aufzuladen und eine halbe Stunde über Satellitenfernsehen das Neueste vom Tag zu erfahren. Fürs Licht jedoch ist der Kraftstoff zu teuer. Deshalb installierten wir unsere Hängematten bei Taschenlampenlicht und hatten erst am darauffolgenden Morgen Gelegenheit, bei Regen unser Werk zu begutachten.
Dann setzten wir uns zu Tische. Als Gäste wurden wir zuerst bedient. Alle anderen warteten, bis wir fertig gegessen hatten. Es gab Bohnen, Yuca und Reis. Diese Speisen sollten für die nächsten Tagen unsere Grundnahrungsmittel sein. Nein, nicht ganz. Unseretwegen schlachteten sie ein Rind. Was für eine Ehre!
Sein Fleisch begleitete unseren Aufenthalt in der Gestalt von Suppenknochen, Würsten, (zähen) Plätzlis, Kutteln, Leberli und Gelatine (für einen feinen Nachtisch). Andere Teile des Fleisches wurden den Nachbarn verkauft.
Schon am ersten Abend kam das drängendste Problem des Reservats zur Sprache: die Angst vor dem Verlust der eigenen Kultur. Wir waren zu Gast bei einer Sikuani-Familie. Ihre eigene Sprache sei am Sterben, sagten alle. Geeignete, attraktive Lehrmittel scheint es keine zu geben, und die Jungen sehen auch kaum mehr einen Sinn darin, die Sprache ihrer Eltern zu lernen, mit welcher sie ausserhalb des Dorfes überhaupt nichts anfangen können (weitere Sikuani-Dörfer gibt es nur noch in ein paar hundert Kilometern Entfernung, in anderen Reservaten). In diesem Reservat Caño Mochuelo jedoch wurden in den letzten 30 Jahren neben den Sikuanis noch sieben weitere Ethnien mit unterschiedlichsten Sprachen zusammengeführt und angesiedelt, ungefähr die Hälfte davon waren zuvor Nomaden. Sie verstehen einander nicht. Das Spanische als lingua franca hingegen höhlt die sprachliche Identität der einzelnen indigenen Gemeinschaften aus. 
Hätte ich ins erwartete Mitleid und Bedauern einstimmen sollen? Dieser beklagte Verlust schien mir unter diesen Umständen nur logisch und ist wohl Folge von jahrhundertealten Versäumnissen, Vertreibungen und politischen Fehlentscheidungen. Kommt hinzu, dass die modernen Kommunikationsmittel, die Globalisierung, die wirtschaftlichen Verstrickungen und Abhängigkeiten dem Erhalt von sehr kleinen, isolierten, kulturellen Einheiten nicht förderlich sind. Wie könnte der tief empfundene Verlust, diese Verunsicherung der eigenen Identität, mit irgend etwas Attraktivem, Zukunftsträchtigem aufgewogen werden? Das Zurückdrehen des Rades kann doch nicht die Antwort sein auf die herrschende Ohnmacht.
Während unserer Anwesenheit im Dorf standen Festivitäten an. Wir freuten uns darauf, bis wir vernahmen, dass der Gobernador des Reservats unsere Teilnahme kategorisch ablehnte. Als wir nach den Gründen fragten und um ein klärendes Gespräch baten, liess man uns wissen, dass er jetzt wegen übermässigem Alkoholkonsum für die nächsten 24 Stunden nicht ansprechbar sei. Später lockerte die Junta der Dorfältesten das Verbot ein wenig und erlaubte uns zuzuschauen, allerdings mit der Auflage, keine Fotos zu schiessen.
Es gab Kinderprogramme, kulturelle Events, an denen Gesänge aus dem eigenen Dorf vorgetragen wurden, Festspeisen, und am zweiten Abend Tanz (am ersten regnete es). Am Spannendsten waren die Fussballspiele. Zum einen diejenigen auf den Micro-Plätzen, wo eine Mannschaft nur aus fünf Spielern und einem Torhüter besteht, und wo sich vor allem einsatzfreudige Frauenmannschaften hervortaten. Zum anderen die Burschen auf dem grossen, unebenen und von Löchern durchsetzten Rasen, wo sie mit einer Verbissenheit sondergleichen um den Gesamtsieg kämpften. Im Final kam es nach einem 4:4 in der regulären Spielzeit zum Penalty-Schiessen zwischen Getsemani und Morichito. Erstere gewannen. Sie hatten offenbar die stärkeren Nerven. Abends kippte dann die Stimmung zu unseren Gunsten. Zum einen wurden wir plötzlich ausgiebig als Schweden (suecios statt suizos) gefeiert und herumgereicht, zum anderen waren wir ein willkommener Vorwand, mit uns noch eins mehr über den Durst zu trinken.
In den folgenden Tagen besuchten wir mit dem Motorrad noch andere Dörfer, wo uns dasselbe Bild in unterschiedlicher Gestalt begegnete.
Dasselbe Jammern über die sterbende Sprache und den Niedergang der Kultur. Vor den Hütten flochten Frauen schöne Körbe, Hüte, Taschen oder Armbänder, um sie nach der Fertigstellung einem Zwischenhändler in Kommission zu geben, der sie dann in Bogota auf den Markt bringt. Fast nichts bleibt ihnen von diesem Handel übrig. Gleichwohl, es sind die Frauen, die mit dem Fleiss der Verzweiflung versuchen, einigermassen anständig über die Runden zu kommen.
Auch wenn sie im Reservat die unterschiedlichsten Sprachen sprechen: in ihren kunsthandwerklichen Produkten lässt sich eine einheitliche gestalterische Linie erkennen. Sie alle häkeln und knüpfen und flechten und schleifen und färben und feilen an einem Strick, und ich hätte nicht unterscheiden können, ob jetzt diese Tasche nur von der einen Ethnie und dieser Schmuck nur von der anderen stammt. 
Zum Schluss unserer Explorationstour zeigten uns dann die Leute noch ein Haus stattlichen Ausmasses, das, so sagten sie, eigentlich als Frauenhaus und Handwerkszentrum für die ganze Region gedacht gewesen sei (siehe Bild ganz oben). Eine Tafel über dem Eingang erinnert daran, dass die katholische Stiftung Populorum Progressio diesen Bau ermöglicht hatte. Im Andenken an deren Gründer, Papst Paul VI, der 1968 Kolumbien besucht hatte, in Würdigung des Kolumbien-Besuches von Papst Johannes Paul II 1992, und in Erinnerung an den kürzlich stattgefundenen Besuch von Papst Franziskus unterstützt dieses Werk Initiativen, welche die Selbstbestimmung verschiedener Volksgruppen stärken soll. - Doch das Haus in Getsemani blieb leer.

Es fehlten wohl Gemeinsinn und noch vielmehr Geld, um diesem Rohbau Leben einzuhauchen. 
So, und hier sind wir nun. Schnell stand angesichts dieses grossen Rohbaus, in welchem sich so vieles machen und herstellen liesse, und der die Frauen vor Ort zu neuen Zielen und Vorhaben inspirieren könnte, mein Entschluss fest, zu versuchen, für die Belebung dieses Zentrums Geld zu sammeln. Meine Bank konnte mir dabei nicht helfen. Doch dann kamen mir die Freunde der Crowd-Funding-Organisation wemakeit in den Sinn. Und so entwickelte ich ein kleines Projekt, das ich hiermit zu weihnächtlichem Markte trage: Das Frauenhaus von Getsemani. Ich würde mich sehr freuen, wenn sich geneigte Leserinnen und Leser dieses Blogs finden würden, die diese Idee unterstützen könnten. Mit einem Click auf diese Zeilen befindet man sich bereits im Projekt. Jede Spende, so klein sie auch sein mag, ist willkommen. Besonders willkommen sind natürlich auch grosse Spenden mit der Aussicht, das Frauenhaus persönlich in Augenschein zu nehmen. Vielen Dank. 

© Nikolaus Wyss

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