Freitag, 4. August 2017

Aus: "Meine Tochter zeichnet gern"

Rektor Wyss um ca. 2000 im "Maschinenraum" der Kunsti an der Rössligasse, Luzern.
Foto: ©Emanuel Ammon, Aura 

Das ist der Anfang eines Manuskripts über meine Erfahrungen als Rektor einer Kunsthochschule. Ich habe es zum letzten Mal vor fünf Jahren in den Händen gehabt und mache mich gerade jetzt daran, es wieder einmal zu lesen, zu verbessern und es eventuell zur Publikationsreife zu bringen. Das erste Kapitel hat die Form einer Email-Korrespondenz. Hier ein Ausschnitt:


Sehr geehrter Herr Rektor. Meine Tochter zeichnet gern. Darf ich sie an Ihrer Kunstschule anmelden? 
Sehr geehrter Herr M. – Wie alt ist denn Ihre Tochter? Braucht sie noch Ihre Unterschrift, weil sie minderjährig ist? Oder ist sie behindert? Oder wollen Sie sie einfach mit Zuvorkommenheit und Hilfsbereitschaft fördern und ermutigen, weil sie selber noch nicht so genau weiss, was sie aus ihrem Leben machen will? – Ich hoffe, Sie lesen aus meinen Fragen, was ich meine. Ich halte nicht viel von Ihrer Absicht, Ihre Tochter an einer Kunstschule anzumelden, und schon gar nicht an unserer. Sollte für Ihre Tochter tatsächlich eine künstlerische Ausbildung in Frage kommen, so muss sie den Weg dorthin schon alleine finden und sich einem Aufnahme-Verfahren stellen, wo sich sehr bald herausstellen wird, ob sie Talent hat. 
Sehr geehrter Herr Rektor – Ihre ruppige Antwort überrascht und erstaunt mich. Ich habe Sie schon an Vernissagen reden gehört, und einmal wohnte ich einer Diplomübergabe bei, als eine Nichte von mir bei Ihnen abgeschlossen hat. Dort gewann ich den Eindruck, dass Sie ein netter und fürsorglicher Schulleiter sind und nicht so abweisend und despektierlich, wie Ihre Antwort jetzt den Anschein erweckt. Meine Tochter ist weder behindert noch minderjährig, sie kann einzig ihr Talent noch nicht richtig einschätzen und überlegt sich, ob es für ein Kunststudium reicht, oder ob sie vielleicht zuerst Lehrerin werden soll. Was ist daran so schlecht? Ich denke, Zweifel, die es zu überwinden gilt, sind doch allemal ein besserer Ratgeber als Selbstüberschätzung, bei welcher man früher oder später auf die Nase fällt. 
Sehr geehrter Herr M.  –  Gestatten Sie, dass ich unterscheide. Der Lehrberuf auf der einen Seite beschäftigt sich mit der Sozialisation junger Menschen durch Vermittlung eines staatlich approbierten Lehrplanes. Kinder bekommen im Laufe ihrer Jugendjahre einen Rucksack voller nützlicher Dinge eingepackt. Dieser soll ihnen am Ende der Schulzeit ermöglichen, auf anständige, sinnvolle und beruflich erfolgreiche Art durchs Leben zu gehen. Man lernt in der Schule, was man darf und was man besser unterlassen soll. Man lernt rechnen und schreiben und lernt somit unterscheiden, was richtig und was falsch, was normal und was abnormal ist (wenn man einmal davon absieht, dass in der Quantenphysik 2+2=4 nicht mehr unbedingt stimmt).
Das Gegenprogramm zum schulobligatorischen Wertekanon pflegen wir bei uns. Hier wird das Gegen-den-Strom-Schwimmen geübt. Bei uns gehört das Über-die-Stränge-Hauen mit dem Risiko, dabei auf die Nase zu fallen, zum Pflichtprogramm. Bei uns bewegt man sich auf der Achse zwischen Selbstüberschätzung und Scheitern. Die Auswahl von Bewerberinnen und Bewerbern erfolgt präzis dieser Linie entlang. Wir nehmen die, bei denen wir ein kreatives Potential vermuten und die auch den Mut und die Kraft aufbringen, zu scheitern.
In Volksschulen und Gymnasien beherrscht das Strafmass, das denjenigen blüht, die über die Stränge hauen oder morgens zu spät kommen, die Diskussionen in den Lehrerzimmern. Wir hingegen machen uns Sorgen um Studierende, welche sich keinen Ausrutscher leisten wollen, welche im Anstand verpackt bleiben und nichts, was interessieren könnte, hervorbringen.
Ihre Tochter ist also gut beraten bei ihrer Berufswahl zu überprüfen, ob sie sich in erzieherischen Fragen gern und leidenschaftlich einbringt, oder ob sie den Weg der Ungewissheit beschreiten will. Scheitern können beide Wege. Pädagogisches Bemühen ist ebenso Sisyphus-Arbeit, welche in ein Burn-out münden kann, wie künstlerisches Bemühen, das immer wieder genug Raum für Sinnkrisen gewährt.
Zweifel ist inhärenter Bestandteil eines Künstlerdaseins. Der Zweifel befindet sich in der Hierarchie der Gefühle nicht als Katastrophe ganz zuoberst, sondern auf einer alltäglicheren Ebene. Wir nennen den Zweifel auch nicht unbedingt so. Begriffe wie Widerborstigkeit, Widerstand, Infragestellung und Eigensinn treffen das, was wir einverlangen, besser. Darin ist der Zweifel enthalten, mündet aber im Normalfall nicht in eine depressive Stimmung sondern in den Mut der Verzweiflung, der zu weiterem Handeln auffordert. Wir fördern den Zweifel an vorschnellen Lösungen, wir stellen infrage, was die Selbstüberschätzung zustande bringt, und die Studierenden sollen damit rechnen, mit ihrer Arbeit Schiffbruch zu erleiden. Deshalb ist Zweifel bereits beim Entwurf eine nie endenwollende Kraft des kreativen Prozesses.
Wer aber zweifelt, ob er an einer Kunstschule am richtigen Ort ist, gilt schon als verloren – wenn ich das einmal etwas plakativ in den Raum stellen darf. 
Sehr geehrter Herr Rektor. – Ihre Ausführungen haben mich veranlasst, auf Ihrer Website nachzuschauen, wie es sich mit Ihren Ausbildungsgängen genau verhält. Zu meinem nicht geringen Erstaunen konnte ich feststellen, dass Sie selber auch pädagogische Ausbildungen anbieten. Lehrberufe für bildnerisches Gestalten, früher Ästhetische Erziehung, bei Ihnen auch Kunst und Vermittlung genannt. Wie bringen Sie diese Ausbildungsgänge zusammen mit Ihrer anarchistisch anmutenden Forderung nach Widerborstigkeit? Mit einer solchen Ideologie verbauen Sie doch jedem Zeichnungslehrer, der bei Ihnen abschliesst, seine Zukunft. So einer wird doch nicht an einer öffentlichen Schule angestellt! 
Sehr geehrter Herr M. – Ihre Beobachtung ist insofern richtig, als wir auch Lehrerinnen und Lehrer für bildnerisches Gestalten ausbilden, die später in einem Umfeld ihre Arbeit verrichten, die mehr von konventioneller Pädagogik geprägt ist als von dem, was unsere eigenen professionellen Erkenntnisziele sind. Ich denke aber, es muss für intelligente Menschen zumutbar sein, gewisse Zielkonflikte unter einen Hut zu bringen. Das tun wir alle, um unser Geld zu verdienen. Sollen wir deswegen unsere Ausbildungen in ihrer Radikalität abschwächen, nur damit der Graben zwischen der stufengerechten allgemeinen Pädagogik und der künstlerisch-gestalterischen Fachkompetenz kleiner wird? Ich denke, wir würden unseren Studierenden, die Lehrer werden und gleichwohl liebäugeln mit einer künstlerischen Karriere, einen Bärendienst erweisen, wenn wir sie von einer radikalen Ausbildung entbänden und für sie ein sanfteres Curriculum vorsähen. So sind sie immerhin vertraut mit existentiellen Erfahrungen in Kunst und Gestaltung. Wieviel sie dann davon im Schulunterricht anwenden, ist ihnen selber überlassen. Unsere pädagogischen Module hier an unserer Hochschule weisen jedenfalls auf den Umstand hin, dass unsere Kandidaten später auf Schülerkohorten treffen werden, die nicht unbedingt Künstler oder Designer werden. Wer dann aus ihnen gleichwohl kleine Tinguelys oder Picassos machen will, ist selber schuld und hat sich wohl allzuviel vorgenommen. Doch nicht wenige der Zeichen- und Werklehrer, die draussen an der Bildungsfront während mehrerer Jahre ihre Arbeit verrichtet haben, kehren später als Dozierende an unsere Hochschule zurück oder mausern sich, einer typisch innerschweizerischen Tradition folgend, zu hervorragenden Künstlerinnen und Künstlern.
Im übrigen bin ich der Meinung es tue dem Lehrkörper einer Mittel- oder Sekundarschule nur gut, wenn dort nicht alle Pädagogen über den gleichen Kamm geschert worden sind. Es ist die Vielzahl von Auffassungen, die pädagogisch von Bedeutung ist, nicht etwa die Unité de Doctrine.
Aus unserer Sicht ist wichtig zu wissen, dass das, was an künstlerisch-gestalterischem Wirken in den Mittelschulen stattfindet, mit dem State of the Art auf diesem Gebiet nicht viel zu tun hat. Ähnlich wie in der Physik, wo im Mittelschul-Unterricht immer noch die von Galilei, Descartes und Newton geprägte Festkörper-Physik einer materienorientierten Welt vermittelt wird mit einem Atom im Zentrum und mit der Schwerkraft von Sonne, Mond und Sternen, während wir eigentlich schon seit über einem halben Jahrhundert wissen sollten, dass kleiner als das Atom ein Kosmos zugange ist und uns zusammenhält, der von der Quantenphysik erschlossen und beschrieben wird und besagt, dass im Innersten unserer Welt gar keine Masse mehr ausfindig gemacht werden kann sondern nur noch rasend schnell miteinander kommunizierende, massenlose Nichtse, die entlang von längst noch nicht ganz erschlossenen Strukturen und in wechselseitiger Instabilität relative Stabilität erzeugen. Wenn sich also eine so exakte Wissenschaft erlaubt, immer noch verstaubtes Wissen ihren Schülerinnern und Schülern zu vermitteln, weil sie – zu Recht – zur Ansicht gelangt, die moderne Physik wäre wohl für 99,98 Prozent der Fünfzehnjährigen eine Zumutung und in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht vermittelbar, so ist es doch lässlich, auch in der Kunst Farben, Formen und Materialien zu frönen, die letztlich nicht viel zu tun haben mit dem, was draussen an aktueller Kunst abläuft. Man muss einfach wissen, wofür diese Aktivitäten im Schulunterricht stehen und nicht meinen, damit Kunst auf Mittelschulstufe produziert zu haben. Künftige Designer und Künstler wachsen also nicht unbedingt dort heran, wo man sie auf den ersten Blick vermutet, und schon gar nicht an einem musischen Gymnasium, wo alle die zu landen scheinen, die es sonst zu nichts bringen. Der Begriff „Schonklima“ wäre für das, was dort abgeht, schon treffender. Dabei brauchen wir, wie ich bereits in einem früheren Email ausgeführt habe, im künstlerisch-gestalterischen Bereich Leute, die sich im Wettbewerb, in der Auseinandersetzung bewähren und nicht im Ghetto einer abgeschotteten, schönfärberischen Kunstwelt. 
Sehr geehrter Herr Rektor. – L’appétit vient en mangeant. Sie stellen sich mit Ihren ausführlichen Emails insofern eine Falle, als sie mich anstacheln, weitere Fragen zu stellen in der berechtigten Hoffnung, darauf noch mehr Emails zu bekommen. Für mich immer noch nicht klar ist der Sinn des Kunstunterrichts auf der Mittelschulstufe. Ihre Ausführungen lassen durchblicken, dass Sie daran Zweifel haben. Und: wieso wird denn Kunstunterricht an den Schulen betrieben, wenn diese Kunst mit der „richtigen Kunst“ nichts gemeinsam hat?

Für heute genug. Demnächst mehr... 

©Nikolaus Wyss