Dienstag, 6. August 2019

Ciao Mäni


Niklaus Wyss 1936-2019 
(Foto: Walter H. Scott, Boston Symphony Orchestra Archives)
Ich war für Niklaus Wyss der Andere, und er war für mich der Mäni. So rief ihn nicht nur seine Mutter, die meine Gotte war, er war auch für alle anderen, seine Geschwister, die ganze Familie und seine Freunde einfach der Mäni. Den Ursprung dieses Namens kenne ich nicht. Bei diesen Wyssens war es einfach üblich, Familienangehörigen, Freunden und Nachbarn Übernamen zu verleihen. Für meine Gotte und ihre Familie zum Beispiel war ich mein Leben lang der Göiss oder Göissi, weil ich vermutlich als kleiner Bub meinen Namen nicht korrekt aussprechen konnte: statt Chläusi Göissi. Auch Mäni nannte mich zunächst Göiss, bevor er zum Anderen wechselte, obwohl mich dies irgendwie störte, schliesslich unterscheidet sich mein Vorname von dem seinen durch einen wesentlichen Vokal. Ich heisse Nikolaus. Ich bin nicht einfach der andere Niklaus. Ein O Eitelkeit darf ich mir wohl erlauben ...
Mäni war der zweitälteste von vier Söhnen. Sie sind für mich Cousins dritten Grades, wenn wir überhaupt noch von Verwandtschaft sprechen können. Als Jüngster war ich bei ihnen wohlgelitten. Ich erinnere mich gut und gerne an gemeinsame Wintertage in ihrem Ferienhaus in Valbella. Die vier Brüder hatten alle etwas mit Musik am Hut. Der älteste spielte in seiner Jugend die Posaune, der zweitjüngste die Trompete, und der Jüngste hatte das Zeug zum Sänger. Nur bei Mäni erinnere ich mich nicht mehr, was er spielte. Die Geige? Das Klavier? – Während aber die anderen drei schliesslich bürgerliche Berufe ergriffen, entschied sich Mäni für ein Musikstudium und wurde Dirigent.
Anlässlich einer Reise anfangs der 1960er-Jahre besuchten meine Mutter, mein Cousin Tobias und ich Mäni in Rom, wo er bei der Dirigentenlegende Franco Ferrara Kurse belegte. Das Resultat seines Studiums zeigte sich wenig später in der Philharmonic Hall des Lincoln Centers in New York City, wo er am 13. Dezember 1964 aus der Hand von Leonard Bernstein einen Award des Dimitri-Mitropoulos-Wettbewerbs entgegennehmen durfte und eine Assistenzstelle bei Seiji Ozawa bekam, der zu jener Zeit das Toronto Symphony Orchestra leitete.
Für mich hatte es Mäni damit geschafft. Ich bereitete mich auf Fragen vor, ob ich denn mit dem weltberühmten Dirigenten Niklaus Wyss verwandt sei. Den Verwandtschaftsgrad upgradete ich schon mal von drei auf zwei. – Merkwürdig fand ich nur, dass er nach drei vereinbarten Jahren Assistenz in Toronto dem Meisterdirigenten Ozawa nach San Francisco folgte und unter dessen Fittichen Assistent blieb, statt mit der eigenen Karriere durchzustarten. Offensichtlich konnten es die beiden so gut miteinander, dass sie aneinander kleben blieben, auch wenn für Mäni eher die unbeliebten modernen Abende und die Jugendkonzerte abfielen, während sich Ozawa für Mahler, Bruckner und die anderen Giganten symphonischer Kompositionen zuständig erklärte.
Von Kolumbien herkommend, besuchte ich anfangs der 1970er-Jahre Mäni einmal in San Francisco. Er wohnte damals an der Buchanan Street in einer Einliegerwohnung und hatte eine sehr hübsche, rassige Freundin, die mich Jahre später einmal in Zürich besuchte und mich wohl ähnlich verwöhnte, wie sie dies mit dem Anderen zu tun pflegte. Verwandtschaft bindet scheints, und ich liess es gerne mit mir geschehen. Doch von Mäni war in den folgenden Jahren nicht mehr so viel die Rede. Ich gewann den Eindruck, dass er, nach weiteren Jahren in San Francisco, um Engagements kämpfen musste und deshalb sein Tätigkeitsgebiet auch auf Provinzen in China ausweitete, wo er, so die Familiensaga, ein gern gesehener Gastdirigent war. Kam er in die Schweiz und gab selbst ein Konzert, so trommelte meine Gotte jeweils ihr ganzes Umfeld zusammen, um gemeinsam die Tonhalle aufzusuchen. Billette gab es immer genug.
Mit der Zeit aber verlor ich Mäni aus den Augen. Erst viele Jahre später erhielt ich einen Brief von ihm, worin er um ein klärendes Gespräch bat. Es war die Zeit, als ich mit dem Schwamendinger Opernchor Sommertheateraufführungen in der Ziegelhütte produzierte. Mäni sah plötzlich seinen Namen in Gefahr, weil dieser mit meinem eigenen, in seinen Augen unseriösen Tun hätte in Verbindung gebracht werden können. In meiner Antwort schlug ich vor, doch gemeinsam einmal etwas Lustiges auf die Beine zu stellen. Eine Reaktion darauf blieb aus. Was ich machte, war offensichtlich nicht sein Stil. Bei dieser Gelegenheit aber erfuhr ich, dass er seinen Wohnsitz zurück ins Zürcher Elternhaus verlegt hatte, wo seine Mutter allmählich in ein biblisches Alter vorrückte und Handreichungen ihres unverheiratet gebliebenen Sohnes wohl gerne annahm.
Und dann kam das Zittern. Unter vorgehaltener Hand flüsterte man sich in der Verwandtschaft zu, Mäni leide unter Parkinson. Mir war sofort klar, dass dies das endgültige Aus seines musikalischen Wirkens bedeuten würde, wobei ich den Verdacht nicht loswurde, dass dieses Ende eigentlich schon früher eingetroffen war, als er Jahre zuvor an den mütterlichen Herd zurückkehrte.
Ich sah mich aber nicht veranlasst, Trost zu spenden oder sonst wie behilflich zu sein. Dazu befand ich mich von ihm zu weit entfernt, und ich sah in seiner Bedürftigkeit auch die Pflicht seiner Brüder, für ihn einzustehen. Als ich aber einmal meine 100-jährige Gotte, die mittlerweile in ein Alters- und Pflegeheim gewechselt hatte, besuchen ging, sass im selben Raum vornübergebeugt ein alter Mann, und ich musste zweimal hinschauen, um in ihm Mäni zu erkennen. Später an diesem Tag begleitete ich ihn noch zur Tramstation, was eine ganze Weile in Anspruch nahm. Er wohnte jetzt nicht mehr in der elterlichen Wohnung, sondern in einer kleinen Bleibe in Zürich-Schwamendingen. Trotz seiner Hinfälligkeit schien er mir aber voller Hoffnung, schon bald wieder aufrecht gehen zu können. Er wollte mich im Glauben wissen, dass ich seine Zuversicht teile, was mir allerdings schwerfiel.
Als ich nach Schlieren zog und meine Gotte schon eine Weile tot war, fing ich an, Mäni regelmässig zu besuchen. Ich brachte ihm jeweils vom Thai oder vom Chinesen ein paar Speisen und Singha-Bier, und von der nahen Migros Crèmeschnitten und Ofechüechli, und wir verspeisten gemeinsam das Mitgebrachte und versorgten die Resten zum Aufwärmen im Kühlschrank. Den von ihm im ganzen Zimmer verstreuten Reis pflegte ich feinsäuberlich aufzuputzen. Doch unsere Unterhaltung kam nie so richtig in die Gänge und verblieb auf der Ebene der freundlichen, unverbindlichen Konversation. Nie hörte ich ihn klagen über sein Schicksal, und dies schien mir zunehmend das Problem zu sein, das uns trennte.
Ich glaube, die Begegnungen zwischen uns wären um einiges lockerer ausgefallen, wenn ich Mäni hätte fluchen hören, sein Schicksal beklagen, Verzweiflung markierend. Ich hätte so gerne zustimmen mögen, um ihn zu trösten und ihm beizupflichten, wie ungerecht diese Welt doch sei. Doch er hatte Contenance und amerikanische Zuversicht so verinnerlicht, dass sie ihm zum undurchdringbaren Verlies wurden. Seine Absicht, dem Gegenüber trotz sichtbarer, schwerwiegender Einschränkungen keine Sorgen zu bereiten, provozierte nach und nach eine unüberbrückbare Distanz. Wir starben einander weg noch vor der Zeit. Am 27. Juli 2019 war es dann aber doch so weit.
Ciao Mäni.


© Nikolaus Wyss

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Samstag, 3. August 2019

Unerfüllte Begierden

Blick vom Wachturm aus über Forio, Ischia


Neapel ist nicht meine Stadt. Das habe ich neulich herausgefunden. Mein Unbehagen gründete aber nicht auf dem Umstand, dass der Vesuv jederzeit ausbrechen oder die Phlegräischen Felder plötzlich explodieren könnten. Auch nicht auf den Pizzen, die anderswo durchaus besser schmecken als in der Stadt des Originals. Auch über den öffentlichen Verkehr liesse sich klagen, über die laute und ruppige U-Bahn zum Beispiel, aber nein. Es war vielmehr diese den Italienern oft zugesprochene dramatische Überheblichkeit, die so tut, als ob das Erbe dieser Stadt ihr eigenes Verdienst wäre. Ich machte ein ziemlich steiles Gefälle aus zwischen dem Wichtigtun der Bewohnerinnen und Bewohner und dem in meiner Einschätzung dafür nicht gerechtfertigten Zustand der Stadt. Die Neapolitaner ignorieren sowohl die stinkenden Abfallberge als auch die Baufälligkeit ihrer Häuser, und diejenigen, die sie nicht ignorieren, machen ein allzu grosses Aufhebens darum, ohne aber aufs Wegwerfen weiterer Bierbüchsen oder Plastikflaschen zu verzichten oder an den Häusern auch nur die kleinsten Renovationsarbeiten durchzuführen. Rücksichtslos und mit einer Selbstverständlichkeit ohnegleichen fahren sie auf ihren Rollern durch die engen Gassen und haben Spass daran, Touristen zu erschrecken. Sie geben uns zu verstehen, dass sie ihr Territorium zwar mit der Mafia teilen müssen, aber nicht mit uns, den Besucherinnen und Besuchern. Sie reklamieren für sich Eigenbedarf, was ich an sich gut fände, wenn sie denn damit auch etwas anzufangen wüssten, indem sie ihre Stadt so herausputzten, wie es dem zur Schau gestellten, überheblichen Stolz angemessen wäre. Doch am Schluss des Tages sind es dann doch wieder wir Touristen, und nur wir, welche die Kassen klingeln lassen und dafür sorgen, dass diese Könige der bröckelnden Fassaden ungeniert weiter ihr lautes und inadäquates Theaterstück namens Napoli aufführen können.
Grund genug, dieser Stirnrunzeln verursachenden Stadt für einen Tag den Rücken zu kehren mit einem Ausflug in die eigene Vergangenheit, zur Insel Ischia nämlich, wo ich im zarten Alter von etwa zehn oder elf Jahren mit meiner Mutter ein paar schöne und herzerwärmende Ferientage verbringen durfte. Auf der Fahrt im Schnellboot nach Forio kam mir in den Sinn, dass es auf dieser Insel wohl das erste Mal passiert war, dass meine Mutter sich und ich mich in denselben jungen Kerl verguckten. Er war Hilfskellner in einem dieser Restaurants entlang der Via Matteo Verde, wo wir am ersten Abend Einkehr hielten. Von diesem Moment an war uns klar, wo wir uns in den folgenden Tagen verköstigen würden. Wir beide hatten nichts anderes mehr im Sinn als zu Giuseppe, Carlo oder Eros, oder wie auch immer der Junge mit seinen wimpernumflorten blauen Augen, seiner feinporigen Haut und seiner anmutigen Gestalt auch heissen mochte, essen zu gehen. Sein einnehmendes Wesen würzte am Mittag die Pizza und am Abend die Antipasta und das gebratene Hühnchen an neapolitanischer Sauce und sättigte uns aufs Beste. Ich erinnere mich gerne an die komplizenhaften Gefühle zwischen meiner Mutter und mir, wenn wir unsere Anwesenheit mit einer Nachspeise und einem Espresso noch etwas zu verlängern wussten und uns schon aufs Wiedersehen einige Stunden später freuten. Plötzlich spielte das Ersparte keine grosse Rolle mehr. Dieser Engel raubte uns den Verstand und die dazugehörigen Liren, auch wenn er selbst davon wohl gar nichts mitbekam. Das Schöne an diesen täglichen, kulinarisch genügend begründeten Begegnungen war das Unausgesprochene. Wir gaben uns mit der Verfeinerung des Augenblicks zufrieden und waren glücklich dabei.
In Erinnerung an jene Zeit bleibt mir auch noch die plötzliche Knallerei am Tag der Dorfheiligen. Zur Mittagsstunde explodierten unzählige Böller über der Basilica di Santa Maria di Loreto, und mich überkam ein fou rire, weil mir ein Feuerwerk, das man am Tag nicht sehen und nur hören kann, so sinnlos vorkam.
Die Hitze bei meinem Besuch, 60 Jahre später, temperierte meine Entdeckerlust. Kaum im Hafen von Forio angekommen, mangelte es mir an Motivation herauszufinden, wo wir damals logierten, und ich war mir auf meinem gemächlichen Spaziergang durch die engen Gassen auch gar nicht mehr so sicher, ob sich ein Augenschein überhaupt lohnen würde. Meine Erinnerungen klammerten sich eh nur an dieses Restaurant im Zentrum mit diesem wundersamen Überirdischen, der jetzt, wenn er überhaupt noch lebt, steinalt wäre und ein oder zwei Dutzend Enkel und Urenkel um sich scharen dürfte.
Stattdessen nahm ich einen alten Wachturm am Rande des Städtchens als Zielpunkt ins Visier in der Hoffnung, von dort aus wenigstens einen Rundblick über Forio zu gewinnen. Beim Anstieg wurde ich aber von einer attraktiven Frau reiferen Alters gestoppt. Sie sass ganz alleine vor diesem Festungsturm, ass ihren gebratenen Fisch und trank dazu ein Glas Weisswein. Sie beschied mir auf gut Italienisch, dass es sich hier um ein Privatgrundstück handle, das von Unbefugten zu betreten verboten sei, worauf ich mich in meinem schlechtesten Italienisch geflissentlich entschuldigte, was die Dame wiederum auf die Idee brachte, es mit mir auf Deutsch zu versuchen. Erfolgreich. Es stellte sich heraus, dass sie aus Karlsruhe stammte, wo ihr verstorbener Mann Bundesrichter gewesen war. Seit seinem Tod übersommerte sie regelmässig auf Ischia in diesem für Feriengäste umgebauten Turm. Nach ein paar Anstandsinformationen meinerseits durfte ich ihre Sommerresidenz dann doch betreten. Keck liess sie mir beim Treppensteigen in den oberen Stock den Vortritt mit der Bemerkung, Herren dürften den Damen doch nicht unter den Rock blicken, was ich als untrügliches Zeichen einer rasanten Erwärmung des Kommunikationsklimas deutete. Irgendwann fragte sie mich, ob es sich lohne, Kolumbien zu besuchen und meinte dabei wohl mich. Ich hatte es also in der Hand, sie dazu zu ermutigen oder ihr davon abzuraten. Im Wissen darum, dass sie schon die ganze Welt bereist hatte, von Bali bis Südafrika, von Norwegen bis Australien, von Rostock bis Neukaledonien, riet ich ihr von einem solchen Vorhaben ab. Ich meinte, in ihren Augen zwar eine gewisse Enttäuschung auszumachen, doch sie betonte gleichzeitig, wie sehr sie doch meinen ehrlichen Rat zu schätzen wisse.
Vor der Rückreise nach Neapel blieb mir dann noch eine Stunde Zeit, die ich am Hafen unten im Schatten einer belanglosen Gelateria mit WLAN verbrachte. Auf einer Dating-App klickte mich Antonio an. Den Fotos nach zu schliessen ein hinreissend gutaussehendes Fotomodell mit Waschbrettbauch und kantigem Gesicht. So etwa könnte dieser Kellner damals auch ausgesehen haben. Der perfekte Schwiegersohn aller Mütter, im Falle Antonios allerdings mit der gut versteckt gehaltenen Eigenschaft, heimlich auf alte Männer zu stehen. Antonio schlug mir ohne Umschweife vor, die Nacht mit ihm zu verbringen, da seine Freundin glücklicherweise gerade auf dem Festland weile. Er verstand nicht, wie ich ein solches Angebot ausschlagen konnte, als ich ihm zu erklären versuchte, dass ich am selben Abend eine Eintrittskarte für die Oper in Neapel hätte. Was für eine Enttäuschung für den erfolgsverwöhnten Träger von Calvin-Klein-Unterwäsche, Gaultier-Hosen und Sakkos von Versace, nachzuschlagen in den einschlägigen Modejournalen.
Immerhin inspirierte mich Antonio zum Gedanken, dass es vielleicht doch die unerfüllten Sehnsüchte und Begierden sind, die den Reiz des Lebens ausmachen. Ich jedenfalls war sehr zufrieden mit diesem Tag. Die Idee versöhnte mich auf der Rückfahrt nach Neapel sogar ein bisschen mit den Neapolitanerinnen und Neapolitanern, deren lächerliches Gehabe als Essenz unerfüllter Sehnsüchte interpretiert werden kann. Die Stadt ist zwar nicht so, wie sie zu sein hätte, aber wir tun wenigstens so, als ob sie es wäre.