Mittwoch, 17. August 2022

Der 20. Todestag

 

Ich weiss nicht, ob es ein Ritual gibt, den 20. Todestag der eigenen Mutter zu begehen, der man immerhin sein Leben und sein eigenes Werden verdankt. Manche begeben sich vermutlich zum Friedhof und legen gedankenvoll ein paar Blumen aufs Grab. Oft ist dies das letzte Mal, weil in vielen Gemeinden die offizielle Liegezeit nach 20 Jahren zu Ende geht. Gut, Verlängerungen sind auf Antrag möglich, sofern Platz vorhanden und man willens ist, dafür zu bezahlen. Ich bin gespannt, ob die Stadtverwaltung mich bald über die Aufhebung des Urnengrabes orientieren wird, oder ob sie damit noch etwas zuwartet, vielleicht auch im Wissen darum, dass meine Mutter zu ihren Lebzeiten als Journalistin und Schriftstellerin in der Öffentlichkeit eine gewisse Rolle gespielt hat. Im Friedhof Rehalp jedenfalls werden von unbekannten Besucherinnen immer mal wieder Steinchen auf ihren Grabstein gelegt, was besagt, dass sie für manche noch in lebendiger Erinnerung geblieben ist.

Meine Mutter starb am 21. August 2002. Ich schrieb darüber unter dem Titel Die Mutter als Leiche einen Text. Er stammt aus dem Jahre 2018 und wurde bis dato 1012 Male angeklickt. Er fand auch in meinem Büchlein Auf dem Amakong Eingang.

Es wird mir nicht möglich sein, an diesem Tag Blumen auf ihr Grab zu legen. Ich lebe seit geraumer Zeit in Kolumbien, 9075,06 km Luftlinie von Zürich entfernt, wohin ich schon einmal, anfangs der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts, auswanderte, es damals aber nicht schaffte, dort richtig Fuss zu fassen. Meine Mutter wollte mich damals in Begleitung ihrer Freundin, der Modeschöpferin Hilde Haller, besuchen kommen. Doch ich lehnte entschieden ab. Zu unfertig kam ich mir selbst vor, und den Blick meiner Mutter, von welcher ich mich damals eigentlich emanzipieren wollte, hätte ich kaum ausgehalten. Aus heutiger Sicht tut mir diese Rückweisung leid.

Und noch etwas kommt mir in diesem Zusammenhang in den Sinn. Ich fuhr damals den Amazonas hinunter. Auch darüber habe ich geschrieben. Allerdings liess ich folgende Begebenheit aus: am Schluss meiner Flussreise, in Belém, wurde mir sämtliches Gepäck gestohlen. Ich trat die Weiterreise nach Brasília und São Paulo ohne Kleider zum Wechseln und ohne Geld an, ausgestattet lediglich mit einem Busbillett und dem Reisepass. Beides hatte ich beim Raub in meiner Unterhose versteckt.

Diese mehrtätige Busreise durch den Dschungel ohne Gepäck und Cruzeiros vermittelte mir das wohl grösste Glücksgefühl, das ich in meinem Leben je empfunden habe. Die Mitreisenden spendeten mir etwas zum Essen, bezahlten mir unterwegs sogar einen Duschgang, und ich gab mich leichtsinnig, ja, euphorisch der Meinung hin, das sei das wahre Leben: Mittel- und sorglos vorwärtszukommen.

In São Paulo jedoch war es winterlich kalt, und ich suchte das Schweizer Konsulat auf, um etwas Geld für einen Pullover und für Unterwäsche zu erbitten. Dort empfing mich Madame Mazloum. Bei ihr musste ich mein schütteres Französisch hervorklauben. Sie erkundigte sich auch nach meinem Elternhaus, worauf sie meiner Mutter nach Zürich kabelte. Einen Tag später überreichte mir Mme Mazloum im Auftrag meiner Mutter Geld im Wert von 500 Franken. Damals viel Geld! Statt Dankbarkeit zu bekunden, wurde ich aber wütend: Jetzt habe ich doch eine so weite Reise unternommen, um mich endlich selbständig zu fühlen, und plötzlich hänge ich wieder am rettenden Rockzipfel meiner Mutter! In diesem Moment vermochte ich nicht zu erkennen, dass Mütter so sind und nur das Beste für ihre Kinder wünschen. – Mein Zorn hätte sich eigentlich auf mich selbst richten müssen, denn er zeigte nur, dass die Abnabelung noch nicht vollzogen war und ich wohl nicht reif war für ein selbständiges Leben in der Ferne.

Meine dummen Gefühlswallungen von São Paulo taten mir in der Folge unsäglich leid. Ich weiss gar nicht, ob meine Mutter mir dafür böse war. Vielleicht wunderte sie sich einfach, dass ich die zu Recht erwartete Dankbarkeit vermissen liess. Doch auch das war meine Mutter: sie verzieh selbst die unangebrachteste Gefühlsregung ihres Sohnes.

Nun ist sie also seit 20 Jahren tot. Wir lassen uns weitgehend in Ruhe. Doch kürzlich trat sie in meinen Gedanken wieder stärker ins Blickfeld, als ich mit meinem Poesiefreund Miguel Angel das folgende Gedicht las. Es gehört zu meinen kostbarsten Momenten hier in Bogotá, einmal in der Woche seinen Besuch zu empfangen. Er bringt jeweils ein paar Gedichte lateinamerikanischer Autoren mit, die wir dann gemeinsam lesen. Daraus ergeben sich oft wunderbare Gespräche. Ich gerate aber in Panik beim Gedanken, dass er wegen seines Doktorats in diesem Herbst für ein paar Jahre nach Barcelona ziehen wird. In meiner gemeinen Fantasie pflege ich bereits die verwerfliche Vorstellung, Europa werde wegen Energie- und Wassernöten und wegen dieser schrecklichen Kriegsgurgel Putin gar nicht mehr bewohnbar sein und somit auch die Reise dieses Miguel Angel vereiteln. In solchen Momenten komme ich mir in Bogotá schon fast wie auf einer Insel der Glückseligen vor, weil es hier immer kühl ist (bis kalt), und der tropikale Regen für genug Wassernachschub sorgt. Ich weiss, angesichts des Elends rund herum ist dies ein schiefes Bild, doch angesichts des absehbaren Verlustes unvermeidbar. – Das folgende Gedicht, das ich in der vergangenen Woche mit Miguel Angel lesen durfte, stammt von der Kolumbianerin Eliana Maldonado Cano. Es heisst Alba (= Sonnenaufgang/Morgenröte) und beginnt mit einem Zitat von Sergei Alexandrowitsch Jessenin: In diesem Leben ist sterben nicht neu und leben ebenso wenig. Ich habe Alba auf die Schnelle ins Deutsche übersetzt. Es geht so:

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Alba

Sterben ist nicht neu in diesem Leben.

Das Neue ist, geboren zu werden,

Das Verlassen der Gebärmutter,

Das Spüren der abgebrühten, dichten Luft

Eines alten Krankenhauses,

In wollenen Tüchern gewickelt,

Der Wärme der Mutter beraubt.

In diesem Leben ist das Sterben nicht neu,

Das Neue ist, tot zu sein.

Ich weiss nicht, wo es sein wird,

Ich weiss nicht wann.

In diesem Leben ist das Sterben nicht neu,

Das Neue ist, jeden Morgen aufzustehen,

Einzuatmen die fremde Luft dieser Stadt

Mit geschwellter Brust.

Was neu ist, ist die Strasse,

Menschen mit traurigem Blick,

Die Hand, welche für die Busfahrt

Die letzten fünf Münzen bekommt,

Das Neue ist der Kuss,

Die Haut eines Fremden,

Die Worte «Ich lebe».

Was neu ist, ist das Messer auf der Haut,

Das aus irgendeinem Grund nicht in der Lage ist, sie zu durchdringen,

Neu ist das kontinuierliche Pochen des Herzens.

In diesem Leben ist das Sterben nicht neu,

Doch jeden Morgen aufzustehen,

Das ist neu.

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Meine Mutter konnte das Neue, den Tod, die letzten zwanzig Jahre schon etwas kennenlernen. Sie wird sich daran gewöhnt haben (was bleibt ihr anderes übrig?), während wir uns hier immer noch mit dem wohlbekannten Sterben abmühen und versuchen, jeden Tag neu anzugehen.

Soweit meine gedanklichen Blumen aufs Grab meiner Mutter zu ihrem 20. Todestag.

 © Nikolaus Wyss

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