Sonntag, 19. März 2017

Heinz Hess - Seine Meinung in meinem Ohr

 Der Architekt Heinz Hess wird mich, obgleich er kürzlich mit 86 verstorben ist, auch weiterhin auf meinen Reisen in fremde Städte und Länder begleiten, wie er es bis anhin gehalten hat, ohne je mit von der Partie gewesen zu sein. Aber seine scharfen Urteile haben seit Jahr und Tag einen festen Platz in meinem Ohr, und sie beginnen mir immer zuzuflüstern, wenn ich die Architektur eines Hauses, eines Gebäudekomplexes oder auch nur eines An- oder Umbaus studiere. Nie hält er mit seiner Meinung zurück, und er lässt mir manchmal kaum den Hauch einer Chance, zu einer anderen Ansicht zu gelangen. 
Heinz Hess war und ist für mich die Autorität in Sachen Bau. Ein erfolgreicher Architekt und - zu früheren Zeiten - Stadtpolitiker, streitbar mit den Behörden. Er war gleichermassen grosszügig und widerspenstig, wenn es um die Durchsetzung eigener Meinungen und Gestaltungsideen ging. Selber Mitglied des Heimatschutzes, kannte er bei Disputen mit der Denkmalpflege kein Pardon, höhlte in genialer Weise sein grosses Bauernhaus in Zürich-Schwamendingen aus und versah es mit Dachfenstern, um es noch in den verborgensten Winkeln bewohnbar zu machen. Eine kaum schluckbare Kröte für Beamte. Doch er war jeweils schneller, stellte sie vor vollendete Tatsachen und rechnete mit dem zermürbenden Zahn der Zeit. 
Diskussionen mit ihm waren zuweilen Monologe, denen ich gerne auswich, so wie er manchmal in sein Büro im oberen Stock auswich, wenn es um Diskussionen in Familienangelegenheiten ging. Die vier Buben gehörten eindeutig in den Wirkungsbereich seiner Frau Dorothee. Wenn ich als Nachbar bei Hessens auftauchte und etwas Familien-Atmosphäre schnuppern wollte, so konnte ich nicht zwingend mit seiner Präsenz rechnen. Dorothee und die Buben jedoch waren eine sichere Grösse an der Winterthurerstrasse, zusammen mit der Katze, die alle fünf Minuten ihre Meinung wechselte und entweder herein- oder dann wieder hinauswollte und uns ab und zu mit einem Vogel oder einer Maus beschenkte. Oft waren in Hessens Stube auch Nachbarn zu Gast und Freunde - ein offenes Haus halt und wunderbar. Manchmal rumpelte es dann im Treppenhaus, und durch die Schwenktür trat Heinz ein, um uns zu grüssen und sich grad wieder zu verabschieden, weil er zu einer Besprechung mit einem Bauherrn musste oder zum montagabendlichen Volleyball. Draussen in der Einfahrt wartete schon der Döschwo. Und weg war er.
Um Heinz rankte sich eine Art Mysterium. Er atmete zum Beispiel auf eine Weise durch die Nase, die Aufmerksamkeit auf sich zog und dem Gespräch das Tempo vorgab. Man musste warten, bis er zum nächsten Satz ansetzte. (Früher rauchte er Pfeife.) Und im Gegensatz zu seinen strengen gestalterischen Vorstellungen konnte er anderes völlig unbeteiligt geschehen lassen, weil er bestimmten unkontrollierbaren Vorgängen weitreichendes Vertrauen schenkte, was jeweils Dorothee in die Sätze brachte. Er nahm zuweilen das Gehabe eines buddhistischen Mönches an, und es wunderte mich auch nicht weiter, als er für sich eines Tages den Tibet entdeckte und sich dort für den Bau von Waisenhäusern einsetzte. Er umrundete auch einige Male den heiligen Berg Kailash. Besonders berührt hat mich dann seine letzte Reise dorthin mit der bereits schwerkranken und der Sprache nicht mehr mächtigen Dorothee. Irgendwie schafften es die beiden noch, einen Blick in den himmlischen Frieden zu werfen. Das fand ich als Vorgang und Liebesbeweis ganz wunderbar und aussergewöhnlich.  
Heinz bleibt mir auch als Frauenverehrer in Erinnerung. Ich weiss nicht, was daran wirklich handfest war, doch das verschmitzteste Lächeln und die grösste Freude konnte ihm die Präsenz interessanter Frauen abgewinnen. So wenige wirkliche Freunde er hatte, so stark fühlte er sich mit den Frauen in seinem Umfeld befreundet. Manchmal gewann ich den Eindruck, dass er auch seine Gattin Dorothee zu dieser Art von Freundeskreis zählte, was sie wohl eher irritiert haben dürfte, sie, die sich doch immer Sorgen machte, ob die Familie über die Runden kommt, ob die Söhne auch gut herauskommen,  sie, die zu schneidern begann, als sich finanziell stürmische Zeiten ankündigten. 
Als wir vor Jahren Dorothee zu Grabe tragen mussten, stellte sich die Frage, wie es wohl mit Heinz, schon damals in respektablem Alter, weitergehen würde in diesem grossen Haus in Schwamendingen. Eines Tages jedoch verkündete er mir bei einem Mittagessen beim Chinesen wie nebenher, er würde übermorgen seine Freundin in Berlin besuchen. Ich musste nachfragen. Doch seine Antwort blieb kryptisch, vielleicht weil er wusste, wie nah ich mich Dorothee auch nach ihrem Tod fühlte. Später lernte ich aber seine Elisabeth persönlich kennen. Sie verbrachte von da weg auch regelmässig Weihnachten in Schwamendingen, an deren Feier auch ich und mein Partner Benedict teilnehmen durften. Ich glaube, wir alle freuten uns, dass Heinz nun ein Grossteil seiner alten Tage in Berlin verbringen durfte in der liebevollen Gesellschaft von Elisabeth. So fügte er seinem Leben noch ein ganz neues, erfrischendes und glückliches Kapitel bei.
Heinz beschäftigte sich stark mit dem Sterben und mit dem Tod. Er war überzeugt, dass die Zeit kommt, wann sie will. Dafür brauchte es nicht unbedingt Ärzte. So nahm er deren medizinische Leistungen herzlich wenig in Anspruch, und als diese dann doch notwendig wurden, verabschiedete er sich, so schnell es halt ging. So bleiben Erinnerungen an einen aussergewöhnlichen Mann zurück, der seiner Umgebung gleichermassen Freude als auch Irritation bereiten konnte, der eine seltsame, aber durchaus gelungene Mischung von Grosszügigkeit und Eigenwilligkeit vereinte, die sich bei mir eigentlich schon lange als kritischer Flüsterton in meinen Ohren eingenistet hat.  

© Nikolaus Wyss

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Freitag, 17. März 2017

Zwei Liter in Tamanrasset

Bild: N.W. an seinem 40. Geburtstag, abgelichtet von Thomas Müllenbach, am
20. Feb. 1989

Gestern brach ich in aller Früh nach Medellin auf, ohne mich vorher geduscht zu haben. Als ich nämlich den Wasserhahn aufdrehte, röhrte mir nur Luft entgegen. Notfallmässig feuchtete ich darauf ein Tuch mit Trinkwasser an, strich mir damit übers Gesicht und verschob die gründliche Reinigung auf meine Ankunft im Hotel von Medellin. Auf der Reise fühlte ich mich aber unwohl. Ich hatte den Eindruck, jeder könne mich riechen.
Mittlerweile entnehme ich der Zeitung, dass da gestern böse Jungs am Werk waren und die Wasserversorgung im Zentrum von Bogota lahmgelegt haben. Sie liessen in einer grossangelegten Aktion die für die Pumpen notwendigen Teile mitlaufen und verkleideten sich dazu in Wächter-Uniformen...
Ein zivilisationskritischer Kommentar würde eventuell darauf hinweisen, wie verwöhnt wir doch sind und wie abhängig wir uns gemacht haben von den Annehmlichkeiten einer geregelten Wasserversorgung. Natürlich sind mir bei allem Ärger solche Gedanken auch gekommen. Mittlerweile krallt sich jedoch ein anderes Bild fest in meinem Kopf. Ich feierte seinerzeit meinen 40. Geburtstag in Algerien, in der Umgebung der Wüstenstadt Tamanrasset. Wir wanderten mit Kamelen in mehreren Tagesmärschen den Hügeln entlang, wo im 19. Jahrhundert Père de Foulcauld angeblich ohne Essen und Trinken jahrelang einsiedelte. Wir schliefen auf dem Wüstenboden und mussten jeden Morgen zuerst die Schuhe ausklopfen, um sicher zu gehen, dass sich dort keine Skorpione versteckt hielten.
Als wir zu unserem befreundeten algerisch-belgischen Gastgeberpaar nach Tamanrasset zurückkehrten, war gründliche Reinigung angesagt. Jeder von uns erhielt dazu einen Krug mit zwei Litern Wasser. Das Erfolgserlebnis bestand darin, dass ich mich nach dieser Wäsche nicht nur von Kopf bis Fuss sauber fühlte, es war auch die Befriedigung, dies mit so wenig Wasser geschafft zu haben. Zurück in der Schweiz pries ich von da weg die restriktive Wassernutzung und komme noch heute für mein Sauberkeits- und Wohlbefinden bestens mit weniger als zwei Minuten Sparduschen aus. Was für ein grosser Unterschied allerdings, wenn aus 2 Litern nur ein paar feuchte Tropfen werden wie gestern hier in Bogotá. Da bleibt der Erfolg vorläufig noch aus...

© Nikolaus Wyss

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Dienstag, 14. März 2017

Anfragen und Absagen



Heute wurde ich angefragt, ob ich mein Schreibtalent einem Onlinemagazin zur Verfügung stellen würde. Sie würden mir zwar nichts bezahlen können, doch mein Stil der persönlichen Berichterstattung aus Kolumbien fände sicherlich Anklang.
Noch kenne ich meine Antwort nicht. Die Anfrage erinnert mich jedoch an Anfragen ähnlicher Art – zu früheren Zeiten. Zum Beispiel fragte mich der damalige stellvertretende Chefredaktor des Tages-Anzeigers, Peter Meier, ob ich für den Lokalteil des Blattes schreiben wolle. Das ist jetzt etwa 30 Jahre her. Ich schlug das Angebot aus, statt mich über das mir zugemutete Potenzial zu freuen. Ich konnte mir aber nicht vorstellen, mein Leben als Berichterstatter lokaler Ereignisse zu fristen. Bei meiner nächsten Krise jedoch reute mich meine Hochnäsigkeit: kein Geld, keine Kraft, keine Aussichten. Hätte ich doch nur ...
Ähnlich abschlägig beantwortete ich eine Anfrage von Markus Kutter, der mich als Kommunikationsbeauftragten der Basler Theater unter Frank Baumbauer vermitteln wollte. Allerdings lagen damals die Gründe meiner Absage anders. Beim Vorstellungsgespräch mit Baumbauer war ich von seiner Person und Brillanz so tief beeindruckt, dass ich mir einfach nicht vorstellen konnte, neben ihm zu bestehen. Ich hielt ihn für einen genialen Kommunikator, und ich sah ihn schon die vielen Akkusativ- und Consecutio-temporum-Fehler korrigieren, die er in meinen Texten hätte entdecken können, und, noch schlimmer: Ihm wären bestimmt bessere Formulierungen eingefallen als mir. Um also einer Schneckenwerdung zu entgehen, schlug ich das Angebot aus. Auch hier folgte die Reue auf dem Fuss, war ich doch Ende der 1980er-Jahre zutiefst unglücklich mit dem, was ich in meinem Leben erreicht hatte: keine geregelten Einkünfte, keine Pensionskasse, keine Perspektiven und nicht mehr so jung, um nochmals von vorne beginnen zu können. Markus Kutter schimpfte mit mir zu Recht, wie mir schien.
Und vor nunmehr 47 Jahren wurde ich vom damaligen NZZ-Auslandredaktor Christoph Mühlemann aufgefordert, während meiner geplanten Reise den Amazonas hinunter für sein Blatt ab und zu Berichte zu senden. Aus heutiger Sicht ein verlockendes Angebot.
Auf einer Fotografie aus dem Sommer 1971 sieht man mich an der Septima in Bogota. Damals gab es dort noch Autoverkehr. Heute ist sie die Flaniermeile der Stadt. Auf meiner Schulter trage ich eine zusammengefaltete ruana, einen wärmenden Umhang mit einem Loch in der Mitte, durch welchen man den Kopf stecken konnte. Heute sieht man in der Stadt keine ruanas mehr, sie werden dem einfachen Landvolk zugeschrieben. Neben mir steht Christoph Mühlemann. Er unterhält sich gerade mit einer mir nicht mehr bekannten Person.
Ich erinnere mich noch, wie wir füreinander Sympathien empfanden. Wieso konnte ich mich aber nicht freuen, als er sich nach seiner Rückkehr in die Schweiz mit obigem Angebot an mich wandte? Seinem Brief legte er noch ein paar Artikel bei, die er unter dem Eindruck seiner Kolumbien-Reise verfasst hatte.
Wie lautete meine Antwort damals? Aus der Kiste vergilbter Briefe ziehe ich folgende Zeilen hervor:
[...] Ich danke Ihnen auch für die Zusendung der drei Kolumbien-Artikel. Für einen «Skeptiker», oder sogar «zynischen Narr», wie Sie sich im VW auf unserem Armen-Ausflug mit M. R. in den Süden Bogotás zu nennen beliebten, schreiben Sie allerdings, wenn ich das sagen darf, reichlich harmlos. – Sind Sie etwa doch korrumpiert von der NZZ?
Nun, Sie fordern mich auf, hie und da aus Brasilien Laut zu geben. – Die Schwierigkeit wird wohl sein, dass es mir, angesichts der scheusslichen Verhältnisse auf der ganzen Welt, ein Ding der Unmöglichkeit sein wird, die Leser mit feuilletonistischem Gerede zu unterhalten. Vielmehr scheint mir nur dann eine Berichterstattung von Wert, wenn sie zur Verbesserung oder zumindest Bewusstwerdung eines Zustandes beiträgt. Sonst betrachte ich nämlich die Schreiberei als Salon-Journalismus. – Andrerseits traue ich dem Sprachrohr der Verursacher dieser Lage, den ausbeuterischen Kapitalisten, nicht zu, sich plötzlich in den Dienst der Armen zu stellen, was ja einem Postulat des eigenen Todes gleichkommen würde.
So werde ich wohl eher noch das Hungern lernen müssen, bevor ich Ihr grosszügiges Angebot annehmen werde, in der NZZ Brasilien-Berichte zu publizieren.
Trotzdem und noch viel mehr grüsse ich Sie in Verbundenheit [...]
Stolz, stolz, mit sauberen Händen, intim verbunden mit der Weltrevolution, getragen von den Erkenntnissen der 68er-Jahre, den Vater zum Feindbild, der mir seit je eine Anstellung als NZZ-Korrespondent anempfohlen hatte. In meinen Zeilen kommt ein ganzes Bündel von Faktoren zusammen, die aus heutiger Sicht ein ganzes Bündel von widersprüchlichen Einschätzungen hervorruft. Ich wäre in der Lage, mein damaliges Verhalten aufs Schärfste zu verurteilen, und gleichzeitig muss ich eingestehen, dass ich damals wohl um einiges heroischer und revolutionärer gesinnt war, als ich mich selbst Zeit meines Lebens eingeschätzt habe.

© Nikolaus Wyss

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Mittwoch, 1. März 2017

¿Qué más? ¿Qué me cuentas? - Oder warum mir hier in Bogotá immer wieder Annemarie Burckhardt-Wackernagel in den Sinn kommt


Zu diesem Bild, das mir Annemarie Burckhardt im Sommer 1997 zugeschickt hatte, schreibt sie: Dieser Schnappschuss von Andreas soll zeigen, dass wir nun Kassel geräumt haben (am 18.6.97). Die Bananenkisten warten in Basel, bis sie geleert werden! Wichtig ist das Auge.

    Annemarie Burckhardt-Wackernagel war die Gattin von Lucius Burckhardt, einer professoralen Ausnahmeerscheinung, welcher sinnvolle, überraschende und oft auch provozierende Verknüpfungen von Ökonomie mit Städteplanung, Soziologie, Ästhetik, Architektur, Promenadologie und Design gelangen wie niemand anderem sonst. Ihm war eine ausserordentlich trockene, hermetische und humorvolle Brillanz eigen.
    Die handfesten Kontakte zur Aussenwelt hingegen gewährleistete Annemarie. Sie organisierte die Einsätze dieses smarten Kopfes, der die angeborene Arroganz des Basler Daigs in stringente, manchmal witzige und manchmal auch bösartige Analysen vom Zustand dieser Welt umzumünzen verstand. Auch Annemarie hatte ihre Wurzeln im Basler Daig. Sie zu heiraten galt damals als gute Partie, an welcher sich, so die Kunde, etwelche Ehrenmänner die Zähne ausgebissen hatten. Dass sie sich dann für Lucius entschied, hatte wohl mit der Chance zu tun, am reichen Kosmos dieses inspirierenden Querdenkers teilzuhaben. Sie wurde zu seinem alter ego: während er seine Gedanken entwickelte, verstärkte sie diese durch ihr Verständnis und ihr Talent, damit geeignete Foren zu bedienen. Sie sagte deshalb zu Recht, "gestern hielten wir einen Vortrag in Marburg", oder: "wir schreiben gerade einen Artikel über Fehlplanungen im Städtebau". Mit der Zeit kamen auch ihre künstlerischen Talente zum Tragen, welche immer etwas mit den Erkenntnissen ihres Gatten zu tun hatten, was Lucius wiederum zu Landschafts-Aquarellmalerei zu inspirieren vermochte.
    Wenn Annemarie von "wir" und "uns" sprach, so hatte dies also nichts Anmassendes an sich. Was für einen Verlauf hätte wohl Lucius' Karriere genommen, wäre sie ihm nicht tatkräftig beigestanden und hätte ihn auf all seinen Unternehmungen und Entdeckungen hilfreich begleitet. Sie gab mir auch das Gefühl, mit Lucius befreundet zu sein, auch wenn die meisten Telefongespräche und Abmachungen über sie liefen. Mit Lucius hatte ich Zeit meines Lebens wohl nicht mehr als dreimal telefoniert. Doch wenn wir uns begegneten, so war er über alles im Bild, was ich je mit Annemarie ausgetauscht hatte.
    Annemarie hatte die Gewohnheit, mich oft sonntags mit einem Anruf zu überraschen. Es wurden daraus oft stundenlange Gespräche, durchsetzt mit viel wunderbarem Klatsch. Seltsam dabei aber war, dass sie mir stets das Gefühl vermittelte, als hätte ich sie angerufen. Sie gab mir zu verstehen, dass ich sie grad etwas störe, doch es würde ihr nicht viel ausmachen. Es war jeweils ein fliegender, unverhoffter Rollentausch, der mich insofern irritierte, als ich ihn zuliess. Sie war imstande mich zu fragen, was denn das Anliegen meines Anruf sei. Und ich geriet ins Plaudern, getrieben vielleicht auch von einer gewissen Eitelkeit. Ich konnte schliesslich davon ausgehen, dass alles, was ich ihr zum Besten gab, auch bei Lucius landete.
    Annemarie kommt mir hier in Kolumbien oft in den Sinn. Hier nämlich funktioniert Initial-Kommunikation oft nach demselben Dreh. Da sitze ich im Park auf einer Bank und lese die Zeitung, und wenn sich jemand zu mir gesellt, fragt er mich als erstes: Qué más? Qué me cuentas? - Dasselbe im Internet. Unbekannte kontaktieren mich mit der Aufforderung, ihnen von mir zu berichten. Dabei war es doch der andere, der sich mit mir in Verbindung setzen wollte, offenbar aus dem Bedürfnis heraus, sich mir bekannt zu machen. Und jetzt soll ich ihm, dem Unbekannten, von mir erzählen? Wäre es nicht an ihm, mir etwas von sich zu berichten, damit ich überhaupt beurteilen kann, ob daraus eine spannende Begegnung werden könnte oder bloss Zeitverschwendung? Diese Rollenumkehr, dass also der Initiant zum scheinbar aufmerksamen Zuhörer mutiert, hat System. Soll doch damit Interesse dem Gegenüber angezeigt werden. Ich hingegen fühle mich zunächst eher belästigt und ausspioniert und breche in neun von zehn Fällen den Kontakt ab. 
    Es ist eine Art der Freundschaftssuche, an die ich mich bis noch nicht gewöhnen konnte. Und klar, es ist eine Redewendung, die ihre strenge Bedeutung verloren hat, bei mir aber in ihrer unziemlichen Aufforderung immer noch nachwirkt und mir wenigstens Annemarie ins Gedächtnis ruft.

© Nikolaus Wyss

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