Mittwoch, 1. November 2023

Stägeli uuf, Stägeli ab, juhee (Tagebuch 8)

 16. Juli 2024

    Im Averstal: Abgestiegen und übernachtet in der Walserstuba in Avers-Cröt, wo Chefkoch Simon und seine kolumbianische Partnerin Estefania wirten. Er war in Kolumbien ein bekannter Fernsehkoch und arbeitete während 27 Jahren an den besten Adressen des Landes. Jetzt macht er die Walserstuba Avers zur besten Adresse des Tales. Am meisten beeindruckt hat mich eine simple Vanille-Eiscrème, die mit Zitronenolivenöl übergossen und mit etwas fleur de sel verfeinert wird. Ein Traum. - Für Heimweh-Kolumbianer wird an dieser Wegbiegung auch kolumbianisches Bier ausgeschenkt, und, wer wott, kann auch Empanadas und andere kolumbianische Köstlichkeiten bestellen. Ich hielt mich aber an Leberli vom Angus-Rind (gestern) und an ein hervorragend gewürztes Schweinskotelett mit Polenta (heute). Am Haus flattert neben einer Schweizer- und einer Bündnerflagge auch eine kolumbianische. 

    Bin etwas müde vom Ausflug entlang des Murmeltier-Lehrpfades und später talabwärts auf der alten Averserstrasse, einem landschaftlich unerhört schönen Weg über pitoreske Steinbrücken und durch lauschige Arvenwäldchen. Beeinträchtig wurde der einsame Wandergenuss nur durch meine kürzlich gemachte Erfahrung, sinnlos zu stolpern und zu stürzen. Deshalb schenkte ich meine ganze Aufmerksamkeit den nächsten Schritten und schaute genau, wohin ich trete. Damit nicht genug. Plötzlich bekam ich in dieser Abgeschiedenheit Angst vor Bären. Was müsste ich unternehmen, wenn mir plötzlich so ein Kraftpaket entgegenkäme? - Ich hielt in der Folge Ausschau nach einem grossen Stecken am Wegrand. Doch dort lag nur morsches Fallholz. Ich übte schon mal, mich aufzuplustern und grunzte vor mich hin. Das musste ein seltsamer Anblick gewesen sein. Fast wäre ich hingefallen...

September (1) 2023

     Meine letzten Wochen waren etwas anstrengend, denn es zeigte sich, dass ich jetzt doch noch den kolumbianischen Führerschein machen muss. Und das nach 55jähriger unfallfreier Fahrpraxis. So ging ich brav 35 Stunden in die Theorie und machte die seltsame Erfahrung, dass hier die Gesetzgebung durchaus streng ist, aber dass sich im real existierenden Strassenverkehr kein Schwein daran hält. Das ist für einen Fahrschüler etwas stressig, weil er in zwei Welten zurechtkommen muss, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben (wollen). Auch seltsam ist, dass man hier die Höhe der Bussgelder auswendiglernen muss (z.B. Fahren ohne Führerschein: 8 Tagessätze des Mindestlohnes; Geschwindigkeitsübertretung: 15 Tagessätze; Verhinderung der freien Fahrt von Feuerwehr und Rettungsfahrzeuge: 30 Tagessätze; Fahren im besoffenen Zustand: 90 Tagessätze; bei vierfacher Wiederholung 450 Tagesätze...)

    Ich warf im Kurs ein, dass die Polizei doch schon wisse, was bei einem Vergehen zu verlangen sei, worauf alle lachten. Denn es zeigt sich, dass die Polizei hier nicht so sehr darauf aus ist, Bussen zu verteilen, sondern Schmiergelder einzukassieren, um keine Busse ausrichten zu müssen, von denen sie mit ihrem Minimallohn ausser administrativem Aufwand nichts haben. Wahrscheinlich muss man hier die Höhe des Bussgeldes gerade deshalb wissen, um in etwa abschätzen zu können, wie hoch man beim Schmieren gehen muss, um keine Busse entrichten zu müssen, nämlich ganz wenig unter dem möglichen Bussgeld...

    Nun gut, ich war gestern ziemlich nervös, als es um die Prüfung meines angelernten Wissens ging. 40 Fragen vor dem Computer waren zu beantworten. Manche Fachausdrücke auf Spanisch kannte ich nicht und musste darum auf das Übersetzungs-App meines Handys zurückgreifen. Gottseidank klappte es. Ich beantwortete 94 Prozent der Fragen richtig, habe also die Prüfung bestanden. An meiner Erschöpfung am Nachmittag merkte ich aber, dass mich die Angelegenheit doch ziemlich gestresst hatte. In ein paar Tagen muss ich mich jetzt noch hinter das Steuer eines Autos setzen und denen zeigen, dass ich eines Führerscheins würdig bin. Dort werde ich dann Regeln anwenden müssen, die in der Theorie nie zur Sprache gekommen sind... 

Nachtrag: mittlerweile habe ich die praktische Prüfung auch bestanden und bin stolzer Besitzer eines kolumbianischen Führscheins. 

September (2) 2023

    Was mich heute daran interessiert, ist die Fallhöhe. Da war ich also 1996 "Botschafter von Schwamendingen" aufgrund meines "hervorragenden Einsatzes" zu dessen kultureller und gesellschaftlicher Belebung. - Auch wenn die Amtszeit schon vor 26 Jahren zuende gegangen ist, hat mich offenbar diese Auszeichnung bis nach Kolumbien begleitet, wo ich sie kürzlich in einer vor sich hinmodernden Bananenschachtel wieder entdeckt habe. Und ich frage mich aus diesem Anlass, was könnte ich alles als Ex-Botschafter Schwamendingens hier in Bogotá zu Ehren meines früheren Wohnquartiers ausrichten? Eine Schwamendinger Botschaft errichten? Den Schwamendinger Opernchor mit kolumbianischen Zuzügern wiederaufleben lassen? Sommertheater organisieren wie weiland in der Ziegelhütte? Führungen organisieren durchs Bogotaner Niemandsland? Der Genossenschaftsbuchhandlung "Büchertreff Schwamendingen" neues Leben einhauchen? (Immerhin arbeitete ich vor 53 Jahren hier in Bogotá auch  einmal als Buchhändler in der Libreria Buchholz. Das war, bevor ich nach Schwamendingen gezogen bin - auch so eine Fallhöhe, einfach rückwärts).
    Ich glaube, die Kolumbianer hätten schon Mühe, "Schwamendingen" auszusprechen...
    Noch bin ich mir nicht sicher, ob ich diese Urkunde einrahmen soll und woraus der Rahmen bestehen könnte. Aus gradlinigem Holz? Aus Aluminium (weiss, metall, farbig lackiert)? Aus einen Firlifanz-Schnitzwerk? Oder ist es an der Zeit, diese Zeit sein zu lassen? Sie der weiteren Vermodernung auszusetzen? Schwamendinge, was seisch? Wo bisch? Kennt mich dort überhaupt noch jemand?
 

10. Oktober 2023

    Korruptiönchen: Heute kam der Gasmann vorbei, denn alle fünf Jahre müssen die Anschlüsse geprüft werden. Akribisch mass er alles aus und schnüffelte mit seinem Sensor den Leitungen entlang. Dann befand er, der Boiler befände sich zu Nahe an der Wand und müsse neu gesetzt werden mit drei Zentimetern Abstand zur Mauer. Er protokollierte alles fein säuberlich und meinte zum Schluss, eigentlich müsste er in einem Monat wieder kommen, um zu schauen, ob wir die Beanstandung erledigt hätten. Dies würde nochmals denselben Betrag generieren wie heute, nämlich 70.000 Pesos. Doch er hätte einen Vorschlag. Wir könnten ihm auch eine Foto schicken vom Vollzug, dies würde genügen und ihm den Weg ersparen. Wieviel wir denn bereit wären, ihm entgegenzukommen, damit die Sache für erledigt erklärt werden könnte? 

    Gesagt, getan. Jetzt haben wir für die nächsten fünf Jahre wieder Ruhe und können frohgemut weiter unsere Longanizas braten. Auf das Foto wird er noch etwas warten müssen.

Im Oktober 2023

   Plötzlich tritt Herr Knecht ganz klar vor meine Augen, Hermann Knecht. 1974 mein erster Nachbar an der Bocklerstrasse in Schwamendingen. Auf demselben Stockwerk gegenüber. Der Mann hatte früher, soweit ich mich erinnere, auf dem Bau gearbeitet und sich dabei geschlissen. Alles tat ihm weh, sein Knie schmerzte besonders. Arthrose, sagte er knapp. Doch einen Doktor hätte er deswegen nie an sich herangelassen. Die würden alles nur schlimmer machen, meinte er und lachte dabei rauh, ohne dabei die Zigarette in seinem zahnlosen Mund zu verlieren. Er rauchte wie ein Schlot und trank sein Bier im Sechserpack.

    Herr Knecht ist mir heute präsent, als ob er gerade vorhin die Treppe hinuntergehumpelt wäre, gestützt auf einen Ellbogenstock als Gehhilfe. Noch bevor er den unteren Stock erreicht, hielt er auf dem Treppenabsatz jeweils inne und schlug mit seinem schmerzhaften Bein aus, als ob er einen Ball fortschiessen  oder einen bissigen Hund verscheuchen wollte. Dann ging er weiter und fluchte vor sich hin.  

    Herr Knecht war mir während Jahrzehnten nicht mehr präsent. Er muss wohl schon längst gestorben sein. Ich war damals, vor 50 Jahren, 25, er wohl über 60. Irgendwann wechselte er ins Pflegeheim. Seinen Auszug aber habe ich nicht mitbekommen. Wahrscheinlich war ich grad unterwegs, in Deutschland vielleicht, oder in Paris. Jetzt aber taucht er vor meinem inneren Auge wieder auf, ohne dass ich viel über ihn zu erzählen wüsste. Doch er erscheint mir, weil mein linkes Knie zu schmerzen beginnt. Ich überlege mir schon, als Gehhilfe einen Stock zu kaufen, so wie Herr Knecht einen hatte. Mit Ellenbogenstütze zur Entlastung des Beines.

    Herr Knecht bekam zuweilen Besuch von Tanja, einer unscheinbaren Frau mit Kopftuch und gebrochenem Deutsch. Sie stammte aus dem Balkan und arbeitete in einem Restaurant als Küchenhilfe. Wenn sie da war, roch es im Treppenhaus nach gerösteten Zwiebeln. Sie räumte bei Hermann etwas auf, wechselte die Bettlaken, wusch seine Wäsche und verhalf ihm vermutlich auch zu einem entspannten Stündchen. Dies hielt Herrn Knecht aber nicht davon ab, sie als "Kuh" zu bezeichnen: Gestern sei die Kuh zu Besuch gekommen, sagte er zum Beispiel, oder: die Kuh ist in den Ferien und kommt jetzt für eine Weile nicht. Schöne Schiisdräck.

    Meine eigenen Knieschmerzen rücken mich plötzlich näher zu Hermann Knecht. Mein Mitleid für seine Schmerzen damals äussert sich erst heute. Damals sah ich in ihm einfach den alten Mann, der sich nicht geschont und dafür die Quittung bekommen hatte. Und jetzt ich, der sich sein Leben lang schonte und sich körperlich nie wirklich forderte, wenn man einmal absieht von einer Velotour nach Berg-Dietikon, die mir als Grenzerfahrung in Erinnerung bleibt, jetzt ich also, der auf dem Treppenabsatz auszuschlagen beginnt und einen Moment innehalten muss, bevor er den zweiten Teil in Angriff nehmen kann. Nein, fluchen tue ich deswegen nicht, aber zum Arzt möchte ich auch nicht gehen. Macht der nicht alles noch viel schlimmer? 

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©Nikolaus Wyss 

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