Mittwoch, 31. Mai 2017

Trem das Onze

 
Ich war von 1997 bis 2009 mit einer Brasilianerin verheiratet. Sie arbeitete in Volketswil als Controllerin in einer Grossbäckerei und trat an den Wochenenden mit ihrer Gitarre als Sängerin auf. Ich lernte sie in Küssnacht am Rigi an einer dieser fröhlichen und lauten Brasilianer-Parties kennen, wo viel Feijoada gegessen und viel Cachaça getrunken wird. Sie interpretierte unter Mitwirkung aller Anwesenden auch das Lied Trem das Onze, das mir besonders gut gefiel und mich an meine Zeiten in Brasilien erinnerte, als ich vom kolumbianischen Leticia aus auf einem kleinen Dampfer den Amazonas hinunterfuhr und später von Belem aus im Bus den Urwald durchquerte, um Tage später in São Paulo einzutreffen, vermutlich via Jaçanã. Seither messe ich diesem Lied eine besondere Bedeutung bei.

Komposition und Text:  Adoniran Barbosa

Não posso ficar nem mais um minuto com você
Keine Minute kann ich länger bei dir bleiben

Sinto muito amor, mas não pode ser
Tut mir leid, Schatz, leider nein

Moro em Jaçanã
Ich wohne draussen in Jaçanã

Se eu perder esse trem
Wenn ich diesen Zug verpasse

Que sai agora às onze horas
Der jetzt um elf Uhr fährt

Só amanhã de manhã
Fährt der nächste erst morgen früh

Além disso, mulher
Und außerdem, meine Liebe

Tem outra coisa
Da ist noch eine andere Sache

Minha mãe não dorme
Meine Mutter schläft nicht

Enquanto eu não chegar
Wenn ich nicht heimkomme

Sou filho único
Ich bin der einzige Sohn

Tenho minha casa para olhar
Ich muss aufs Haus aufpassen

E eu não posso ficar
Ich kann unmöglich bleiben

Dreimal mindestens repetiert der Verliebte dieselbe Strophe. Es genügt ihm nicht, es einmal zu sagen und dann zum Bahnhof zu eilen, damit er den Zug noch rechtzeitig erreicht. Nein, er sagt es nochmals und nochmals, und wenn er dann zu einem Ende kommt, ist der Zug schon längst abgefahren. 
Zuhause wird also die Mutter die Nacht allein und voller Angst verbringen müssen, weil der Sohn vor lauter Beteuerungen den Zug verpasst hat. Der junge Mann jedoch, der eben noch seine Verantwortung für familiäre Prioritäten beschwor, hat jetzt die ganze Nacht frei. Der nächste Zug kommt ja erst morgens in der Früh. So kann er sowohl seine Angebetete wie auch sich selber glücklich machen, auch wenn es ursprünglich anders geplant war. 
Diese Interpretation birgt Essenzielles zum Verständnis des lateinischen Macho-Gebahrens. Der Mann gibt den Ehrenmann, als einer, der sich ums Wohl seiner Nächsten kümmert. Diese Einstellung gefällt dem Mädchen, sie macht Eindruck. Denn sie widerspricht dem negativen Bild, das normalerweise die meisten Frauen von ihren Männern mit sich herumtragen. Sind sie nicht alle treulos und verantwortungsscheu? Vernachlässigen sie nicht alle ihre ehelichen und elterlichen Pflichten und lassen Frau und Kinder stehen? 
Doch da ist einer, der sagt, er müsse zum Zug eilen, seine Mutter warte auf ihn. Einer, der die schnelle Lustbefriedigung seinen Pflichten hintanstellt. Auf einen solchen Mann scheint Verlass. Schade nur, dass er nicht bleiben kann, gerade jetzt, wo es die beiden miteinander so schön haben!
Und dann dies: er verpasst den Zug, weil er so höflich sein wollte und so aufwändig um Entschuldigung bat. Unverhofft sieht er sich all seinen Verpflichtungen enthoben. Die Schuld trägt der verdammte Zug. Wäre dieser nur nicht so pünktlich losgefahren! Natürlich wäre er tausendmal lieber zu Mamma heimgekehrt. Aber so? Niemand kann von ihm verlangen, zu Fuss nach Hause zurückzukehren, mitten in dieser dunklen Nacht. 
Was die Geliebte angeht: sie meint, an diesem Abend für einmal nicht auf einen dieser üblichen Halunken reingefallen zu sein. Sie ist sich sicher, dass dieser der genau Richtige für sie ist. Sie vermag zu diesem Zeitpunkt nicht zu erkennen, dass sie auf einen Mann gestossen ist, der auch sie eines Nachts alleine im Haus zurücklassen wird, angeblich wegen eines allzupünktlichen Zuges, den er, freundlich und auf guten Eindruck aus, wieder verpassen wird... So wiederholt sich der Lauf der Dinge. Es braucht seine Zeit, bis sich die junge Frau dieser Regelhaftigkeit gewahr wird, bis sie merkt, dass dieser Typ sich in nichts von all den anderen Schwätzern unterscheidet. Er wird ihr zur gegebenen Zeit die Erfahrung vermitteln, die das Mädchen mit fast allen anderen Schicksalsgenossinnen teilen wird.
Was aber, wenn der Zug sich verspätet und der junge Mann ihn doch noch erreicht? Dann hat er sein Abenteuer verpasst! Und wie würde das Mädchen darüber denken? Und was meint die Mutter, wenn der Sohn spätabends doch noch heimkommt?
Auffällig ist bei diesem äusserst populärem Lied aus dem Jahre 1964, dass es oft von Frauen gesungen wird. Ich habe es zum Beispiel anfangs der 70er Jahre in Sao Paulo in einem Konzert von Gal Costa interpretiert gehört. War sie einfach bezaubert von der wunderschönen Melodie, welche in der Zwischenzeit zum geschlechtsunabhängigen brasilianischen Volksgut aufgestiegen ist und den Sinn der Worte in den Hintergrund drängt? Oder wollen sich die Frauen der Worte bemächtigen, um zu zeigen, dass sie genau wissen, was diese im Grunde bedeuten, eine Masche, eine billige Eroberungsstrategie der Männer, ein Imponiergehabe im Mäntelchen eines Ehrenmannes? 
Leider kann ich mich nicht weiter bei diesem Song aufhalten. Ich werde zum Abendbrot gerufen. Das Essen steht schon dampfend auf dem Tisch. Und im übrigen habe ich versprochen, nachher die Teller abzuwaschen. Also ich muss gehen, tut mir leid: não posso ficar 

Montag, 29. Mai 2017

#instagramistscheisse

Im folgenden Text bestätige ich, dass Instagram stresst und unglücklich macht. Gleichwohl interessiert es mich, damit Erfahrungen zu sammeln.
In Bogotá wohne ich mit einem jungen Mode-Designer namens Johan Danilo Castrillon (@lomaasbello) zusammen. Er ist ein verrücktes Haus und ein bunter Vogel. Er kleidet sich für meinen Geschmack arg extravagant, ja schrill. Wir führen oft lange Diskussionen über Ästhetik und Stil, und er outet sich regelmässig als Liebhaber von kinky stuff, also von Dingen, die jedem guten Geschmack ins Gesicht schlagen. Er ist für mich eine Herausforderung. Es gibt Tage, an denen ich mich regelrecht geniere, neben ihm die Strasse hinunterzulaufen und alle Blicke auf uns gerichtet zu wissen. Ich tröste mich jeweils damit, dass halt kein Gaffer weiss, was für ein herzensguter, bezaubender Mensch er ist – trotz überbordendem Outfit.
Oder ich mobilisiere meine politische Seite und demonstriere durch mein Zusammengehen mit Johan für Toleranz und Akzeptanz. Bezüglich Legalisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften übrigens ist das stockkatholische, konservative Kolumbien weiter als die Schweiz: hier garantiert die Verfassung bereits die volle Homosexuellen-Ehe.
Natürlich mache ich mir als eine Art Grossonkel auch Gedanken über Johans Zukunft und rechne ihm vor, dass er mit seinen Verkleidungen alleine wohl kaum überleben wird. Der Laufsteg für solche Paradiesvögel, die aus ihrem unersättlichen Selbstdarstellungsdrang auch noch gutes Geld schlagen, sei sehr klein, doziere ich. – Überdies brauche er für eine internationale Karriere

in den social medias über einen längeren Zeitraum Abertausende von likes von followers, welche dann für Produktewerbung interessant werden. Wir sprechen über Strategien, wie man bei Instagram, Facebook, Twitter und Youtube solche Zahlen erreichen könnte und studieren Karrieren von Modefuzzis, wie diese es geschafft haben, mit extravagantem Posieren erfolgreich zu sein.
Diese Diskussionen führen jetzt dazu, dass ich mich im Sinne eines Selbstversuchs selber einmal in den sozialen Medien breitzumachen versuche, ohne mich allerdings mit rosafarbenden Federboas zu drappieren. Ich lese online-Artikel über Erfolgsstrategien. Dort
werden übereinstimmend ein konsistentes Profil und eine eindeutige Botschaft beschworen, welche am Anfang jeder beachtenswerten Kampagne stehen müssen.
Doch wer bin ich? Was ist mein Profil, das ich vermitteln könnte? Was ist meine Botschaft, damit mir likes nur so zufliegen? – Analyse und Pröbeln haben bislang nur beschränkten Erfolg gezeitigt. Wahrscheinlich habe ich mich noch nicht richtig positioniert - oder ich bin einfach ein Langweiler. Ich biete keine Katzen- und Blumenbilder feil, in meinem Album fehlen Landschaften, Strände, Saufgelage und Wasserfälle. 

Gleichwohl, ich legte mir bei Instagram den Namen @rector_wyss zu in der Absicht, mich als ehemaligen Schuldirektor und wachen Rentner darzustellen, der in Kolumbien auf Entdeckungen aus ist wie weiland Alexander von Humboldt mit seiner Botanisierbüchse.
Ich publizierte entsprechende Fotos und Filmchen und versah sie mit ein paar Stichworten, wie zum Beispiel #rentner #streetart #alltag #sugardaddy #colombia oder #longago. – Letzte Woche gelang es mir immerhin, damit 744 Follower zu gewinnen. Wichtiger aber ist die niederschmetternde Erkenntnis, dass die Meute mich damit unter Druck gesetzt hat. Nichts von Nachhaltigkeit. Liefere ich als Clown vom Dienst nicht jeden Tag drei neue Beiträge, schrumpft die Gefolgschaft gnadenlos dahin. Mittlerweile komme ich nur noch auf knapp 700 Abonnenten, während ich über 3200 die Treue halte. Zugegeben, ein unglückliches Verhältnis, machen mich doch diese Zahlen zum vernachlässigbaren Wurm. Umgekehrt wäre besser. So aber fallen diese Treulosen wieder ab, stündlich. 

Als ich neulich las, dass insbesondere Instagram seine User unglücklich mache und schlaflos, meinte ich zu begreifen, was darunter zu verstehen sei. Vielleicht versehe ich meine künftigen Beiträge eher mit Stichworten wie #glücksuchender, #lassmichschlafen oder #instagramistscheisse. Das schärft mein Profil ungemein und wird mir Tausende von Likes zutragen - oder ich lasse es eben bleiben... 

© Nikolaus Wyss

Weitere Beiträge auf einen Click   

Dienstag, 23. Mai 2017

Die volkskundliche Gans oder über die Anfänge meines Studiums

In den 80er Jahren wurde das Restaurant Gans zu einem Kleidergeschäft umgebaut, und kürzlich zog eine Denner-Filiale dort ein

Ich habe an diesem Hause keine Tafel entdeckt, die darauf hinweisen würde, dass hier in den 20er- und 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts eines der Epizentren der Schweizer Volksmusik lokalisiert war. Eingangs Niederdorfstrasse, vom Central her auf der linken Seite, lud die Bierhalle Gans zum Verweilen ein. Ländlerkönig Stocker Sepp aus Wollerau, Schwyz, spielte dort in unterschiedlichsten Formationen zur Unterhaltung auf. Er gehörte damals, zusammen mit Jost Ribary, zu den grössten seines Fachs und galt als massgeblicher Treiber des Ländlermusik-Booms im städtischen Milieu. Als Krönung seiner volksmusikalischen Arbeit galten seine täglichen Auftritte an der Landi 1939. Sie waren Bestandteil der Schweizer Landesverteidigung im kriegsbedrohten Europa.
Mein Gastspiel in der Gans fand 35 Jahre später statt. Als Kellner. Das Restaurant war in der Zwischenzeit umgebaut worden. Anstelle einer Bühne befand sich jetzt eine grosse, geschwungene Bar mitten im Raum, hinter welcher ich, zusammen mit meinem Kollegen Heinz, der mir den Job vermittelt hatte, auftrat und Bestellungen entgegennahm. Mir passte die Arbeit. Ein Bier, bitteschön, ein Schnitzel-Pommes-frites, ein Menüsalat, zwei Kugeln Vanille- und Schokoladeneis zum Dessert. Mit oder ohne Schlagrahm. Eine Tasse Kaffee crème. Ein Pflümli, oder zwei. Bestellt wurde, was auf der Karte stand, ich tippte in die Kasse, was bestellt worden ist, und kassierte, was ich zuvor serviert hatte. Es herrschten klare Strukturen in Kommunikation und Rolle. Nichts musste hinterfragt werden und mehr Sinn machen, als notwendig war zur Ausführung der Bestellung. Was darüber hinausging, waren Freundlichkeiten mit Blick aufs Trinkgeld. Berufskollegen, welche die Gans in ihrer Freizeit als Gäste aufsuchten, waren darin grosszügig. Mit der Zeit hatte man aber auch den Blick für die Knausrigen, denen ich betont zuckersüss kam, um sie zu beschämen. Ich lernte die Beizen-Gezeiten kennen. Sie waren geprägt von der Auszahlung des Monatslohns (dann waren die Gäste grosszügiger) und vom Vollmond (dann hauten die Gäste eher über die Stränge und waren streitlustiger). Ich stand mir die Beine in den Bauch und hörte mir die unglaublichsten Geschichten an. Die Bar glich einem Beichtstuhl. Sie gewährleistete Anonymität und Distanz und öffnete damit Schleusen. Die Theke gehört wohl zu den Urformen sozialer Medien.
Diese Erlebnisse verarbeitete ich ein paar Monate später in einen Text mit dem etwas langweiligen Titel Erfahrungen eines Kellners. Er wurde im Tages-Anzeiger-Magazin veröffentlicht. Zwei Wochen darauf hinterbrachte mir ein Kollege die Nachricht, dass dieser Text an der Universität Zürich die Aufmerksamkeit des dortigen Professors für Volkskunde, Arnold Niederer, erregt habe. Er soll ihn in einem Seminar als gutes Beispiel teilnehmender Beobachtung gepriesen haben. Also dachte ich mir, wenn das, was ich schreibe, Volkskunde sei, so würde ich das auch mit einiger Leichtigkeit studieren können. Ich stellte mich Professor Niederer vor und immatrikulierte mich im Sommersemester 1974 an der Universität Zürich.
Ich absolvierte darauf das wohl faulste Studium, das man sich vorstellen kann. Es fing damit an, dass ich von Anfang an meinte, bereits Experte zu sein, und es setzte sich fort bei der Wahl der Fächer. Ich kombinierte Ethnologie, Volkskunde und Soziologie dergestalt, dass ich in allen drei Fächern die wenigen Bücher, um die zu lesen ich nicht herumkam, auswerten konnte. Keines zu viel.
In die Gans jedoch setzte ich meinen Fuss nie mehr. Hatten sie überhaupt mitbekommen, dass ich über sie geschrieben hatte? Irgendwie fürchtete ich mich wohl vor irgendeiner Reaktion. Hingegen verköstigte ich mich während meiner Studienzeit regelmässig am Grill, der draussen vor dem Eingang zum Restaurant stand. Dort gab es eine Pizza spezial: viel Fleisch, mit Käse überbacken. Ich verbrannte mir dabei regelmässig die Zunge. Ich halte das noch heute für die Antwort der Gans.

Samstag, 6. Mai 2017

Hundert Sekunden Einsamkeit


Blick vom Hotelzimmer auf El Poblado, einem Stadtteil von Medellin
 Anlässlich eines Kurzbesuchs in der Schweiz erzählte ich meiner Freundin U. bei einer Tasse Kaffee, wie es mir so ergeht in diesem Kolumbien. So kam ich unter anderem auch auf diese Geschenk-Übergabe in Medellin zu sprechen. Ich musste dort einem mir noch unbekannten Carlos Bücher eines Schweizer Freundes überreichen. Ich empfing ihn in meinem Hotelzimmer, und wir versuchten uns ein wenig auszutauschen. Er war Lehrer und arbeitete mit Jugendlichen an Projekten, bei welchen das kulturelle Erbe Kolumbiens im Mittelpunkt stand. Nach einer Weile aber wurde unsere Konversation immer zähflüssiger. Wir konnten uns gegenseitig nicht inspirieren und wussten uns so gut wie  nichts zu sagen. Zwischen unseren freundlich gemeinten Sätzen blickten wir stumm vom Balkon aus aufs Häusermeer von Medellin. Nach einer Stunde machte Carlos endlich Anstalten zu gehen. Er erhob sich und sagte, er wolle mir zum Dank noch etwas schenken. Er hiess mich sitzen zu bleiben und begann folgende Sätze zu rezitieren: 
Muchos años después, frente al pelotón de fusilamiento, el coronel Aureliano Buendía había derecordar aquella tarde remota en que su padre lo llevó a conocer el hielo. Macondo era entonces una aldea de veinte casas de barro y cañabrava construidas a la orilla de un río de aguas diáfanas que se precipitaban por un lecho de piedras pulidas, blancas y enormes como huevos prehistóricos. El mundo era tan reciente, que muchas cosas carecían de nombre, y para mencionarlas había que señalarías con el dedo... 
Bei der Nennung von Aureliano Buendia und Macondo wurde mir klar, dass hier Carlos den Anfang von Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel Garcia Marquez vorzutragen beabsichtigte. Jetzt hörte ich ihm aufmerksam zu und bewunderte zunächst seine Gedächtnisleistung. Je weiter er aber in die Geschichte vordrang, umso mehr verspürte ich das Bedürfnis, mein Handy hervorzunehmen, um diesen kostbaren Augenblick festzuhalten. Ich liess es aber bleiben, weil ich mir plötzlich der Einmaligkeit des Geschehens gewahr wurde, die keine Verwertungsabsichten ertragen hätte. Der Vortrag dieser wunderbaren Literatur war ganz für mich allein und für diesen Moment bestimmt. Er machte die vorangegangene Zähflüssigkeit der Unterhaltung um ein Vielfaches wett.
Als ich U. von dieser Begebenheit erzählte, bekam ich Augenwasser und musste mit meiner Schilderung innehalten. So erging es mir schon damals auf diesem Hotelbalkon. Plötzlich hatte er mich, dieser Carlos. Die Kraft seiner  vorgetragenen Worte hatte mich überwältigt und schlug mich in ihren Bann. Berührt und tränenfeucht sass ich in diesem blöden Korbsessel und wusste mir nicht mehr zu helfen. Er aber fuhr weiter und weiter, bis ich mich heulend an einen Baum gefesselt in diesem Macondo wiederfand.
Gegenüber U. war ich jetzt nicht mehr imstande, die Geschichte dieser Geschenkübergabe zu einem Ende zu bringen. Meine Worte versagten, meine Luftröhre verengte sich, das Augenwasser quoll. Ich sass luftschnappend an diesem blöden Kaffeetisch, gerührt von meiner Rührung von damals. U. gab mir ein Taschentuch und lächelte mir geduldig zu. Nach einer Weile holte ich tief Luft und gestand ihr, wie peinlich mir solche Vorfälle seien. Je älter ich werde, umso rührseliger würde ich. Wo soll das noch enden? 
U. fragte mich, was denn daran so peinlich sei? 
Ich stammelte etwas von Kontrollverlust und vom Umstand, mit meinem Verhalten andere verlegen zu machen. Den Gefühlen nicht Herr zu sein stünde einem lebenserfahrenen älteren Mann doch gar nicht zu. Ich fordere von ihm die Kraft, über einer Sache stehen zu können. Das Verlieren der Contenance komme einem Gesichtsverlust gleich. U. aber sah darin keine Peinlichkeit. Ihre liebenswürdige Gefälligkeit jedoch bestärkte mich noch in meiner Meinung. Es sei eine ähnliche Peinlichkeit wie der Augenblick, nach der Verrichtung eines grossen Geschäfts die Toilette zu verlassen im vollen Wissen, dass man dort einen Gestank hinterlasse, den die nachfolgende Person gezwungenermassen aushalten müsse. 
Diesen Ansatz verstand sie. Deshalb trage sie immer ein Feuerzeug und eine Kerze bei sich, meinte sie. Nach dem Gang aufs Klo würde sie regelmässig den Gestank abfackeln, das helfe.

©Nikolaus Wyss

P.S. Nach der Lektüre dieses Textes hat sich U. bei mir gemeldet mit folgenden Richtigstellungen: 
dass ich in die literatur eingehe als dame, die mit kerze und feuerzeug bewaffnet den peinlichkeiten einer eventuellen begegnung vor fremden wc türen aus dem weg gehe, kann ich unter "stoffliche freiheiten" abbuchen.
hingegen ist da noch ein kleiner "wissenschaftlicher" fehler auszumachen. kerze und feuerzeug helfen wenig, denn es ist der schwefel im zündhölzli, welcher den gestank neutralisiert. die zündhölzli liegen bei mir in reichweite der spülung und tun ihren dienst. im öffentlichen raum zünde ich dagegen immer eine kerze an und singe dazu halleluja. so übertrumpfe ich die olfaktorische peinlichkeit mit einer anderen. 
 

© Nikolaus Wyss

Weitere Beiträge auf einen Click