In den 80er Jahren wurde das Restaurant Gans zu einem Kleidergeschäft umgebaut, und kürzlich zog eine Denner-Filiale dort ein |
Ich habe an diesem Hause keine Tafel entdeckt, die darauf
hinweisen würde, dass hier in den 20er- und 30er-Jahren des letzten
Jahrhunderts eines der Epizentren der Schweizer Volksmusik lokalisiert war. Eingangs
Niederdorfstrasse, vom Central her auf der linken Seite, lud die Bierhalle
Gans zum Verweilen ein. Ländlerkönig Stocker
Sepp aus Wollerau, Schwyz, spielte dort in unterschiedlichsten
Formationen zur Unterhaltung auf. Er gehörte damals, zusammen mit Jost Ribary, zu den grössten seines
Fachs und galt als massgeblicher Treiber des Ländlermusik-Booms im städtischen
Milieu. Als Krönung seiner volksmusikalischen Arbeit galten seine täglichen
Auftritte an der Landi 1939. Sie
waren Bestandteil der Schweizer Landesverteidigung im kriegsbedrohten Europa.
Mein Gastspiel in der Gans fand 35 Jahre später statt. Als
Kellner. Das Restaurant war in der Zwischenzeit umgebaut worden. Anstelle einer
Bühne befand sich jetzt eine grosse, geschwungene Bar mitten im Raum, hinter welcher
ich, zusammen mit meinem Kollegen Heinz, der mir den Job vermittelt hatte, auftrat
und Bestellungen entgegennahm. Mir passte die Arbeit. Ein Bier, bitteschön, ein
Schnitzel-Pommes-frites, ein Menüsalat, zwei Kugeln Vanille- und Schokoladeneis
zum Dessert. Mit oder ohne Schlagrahm. Eine Tasse Kaffee crème. Ein Pflümli, oder
zwei. Bestellt wurde, was auf der Karte stand, ich tippte in die Kasse, was
bestellt worden ist, und kassierte, was ich zuvor serviert hatte. Es herrschten
klare Strukturen in Kommunikation und Rolle. Nichts musste hinterfragt werden
und mehr Sinn machen, als notwendig war zur Ausführung der Bestellung. Was
darüber hinausging, waren Freundlichkeiten mit Blick aufs Trinkgeld.
Berufskollegen, welche die Gans in ihrer Freizeit als Gäste aufsuchten, waren
darin grosszügig. Mit der Zeit hatte man aber auch den Blick für die
Knausrigen, denen ich betont zuckersüss kam, um sie zu beschämen. Ich lernte
die Beizen-Gezeiten kennen. Sie waren geprägt von der Auszahlung des
Monatslohns (dann waren die Gäste grosszügiger) und vom Vollmond (dann hauten
die Gäste eher über die Stränge und waren streitlustiger). Ich stand mir die
Beine in den Bauch und hörte mir die unglaublichsten Geschichten an. Die Bar
glich einem Beichtstuhl. Sie gewährleistete Anonymität und Distanz und öffnete
damit Schleusen. Die Theke gehört wohl zu den Urformen sozialer Medien.
Diese Erlebnisse verarbeitete ich
ein paar Monate später in einen Text mit dem etwas langweiligen Titel Erfahrungen
eines Kellners. Er wurde im
Tages-Anzeiger-Magazin veröffentlicht. Zwei Wochen darauf hinterbrachte
mir ein Kollege die Nachricht, dass dieser Text an der Universität Zürich die
Aufmerksamkeit des dortigen Professors für Volkskunde, Arnold Niederer, erregt habe. Er soll ihn in einem Seminar als
gutes Beispiel teilnehmender Beobachtung gepriesen haben. Also dachte ich mir,
wenn das, was ich schreibe, Volkskunde sei, so würde ich das auch mit einiger
Leichtigkeit studieren können. Ich stellte mich Professor Niederer vor und
immatrikulierte mich im Sommersemester 1974 an der Universität Zürich.
Ich absolvierte darauf das wohl faulste
Studium, das man sich vorstellen kann. Es fing damit an, dass ich von Anfang an
meinte, bereits Experte zu sein, und es setzte sich fort bei der Wahl der
Fächer. Ich kombinierte Ethnologie, Volkskunde und Soziologie dergestalt, dass ich
in allen drei Fächern die wenigen Bücher, um die zu lesen ich nicht herumkam,
auswerten konnte. Keines zu viel.
In die Gans jedoch setzte ich meinen Fuss nie mehr. Hatten sie überhaupt
mitbekommen, dass ich über sie geschrieben hatte? Irgendwie fürchtete ich mich
wohl vor irgendeiner Reaktion. Hingegen verköstigte ich mich während meiner
Studienzeit regelmässig am Grill, der draussen vor dem Eingang zum Restaurant
stand. Dort gab es eine Pizza spezial: viel Fleisch, mit Käse überbacken. Ich
verbrannte mir dabei regelmässig die Zunge. Ich halte das noch heute für die
Antwort der Gans.
© Nikolaus Wyss
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1 Kommentar:
Herrliche Reminiszenz über die "Gans", die ich persönlich nicht besucht habe, jedoch so Einiges darüber gehört habe.
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