Dienstag, 23. Mai 2017

Die volkskundliche Gans oder über die Anfänge meines Studiums

In den 80er Jahren wurde das Restaurant Gans zu einem Kleidergeschäft umgebaut, und kürzlich zog eine Denner-Filiale dort ein

Ich habe an diesem Hause keine Tafel entdeckt, die darauf hinweisen würde, dass hier in den 20er- und 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts eines der Epizentren der Schweizer Volksmusik lokalisiert war. Eingangs Niederdorfstrasse, vom Central her auf der linken Seite, lud die Bierhalle Gans zum Verweilen ein. Ländlerkönig Stocker Sepp aus Wollerau, Schwyz, spielte dort in unterschiedlichsten Formationen zur Unterhaltung auf. Er gehörte damals, zusammen mit Jost Ribary, zu den grössten seines Fachs und galt als massgeblicher Treiber des Ländlermusik-Booms im städtischen Milieu. Als Krönung seiner volksmusikalischen Arbeit galten seine täglichen Auftritte an der Landi 1939. Sie waren Bestandteil der Schweizer Landesverteidigung im kriegsbedrohten Europa.
Mein Gastspiel in der Gans fand 35 Jahre später statt. Als Kellner. Das Restaurant war in der Zwischenzeit umgebaut worden. Anstelle einer Bühne befand sich jetzt eine grosse, geschwungene Bar mitten im Raum, hinter welcher ich, zusammen mit meinem Kollegen Heinz, der mir den Job vermittelt hatte, auftrat und Bestellungen entgegennahm. Mir passte die Arbeit. Ein Bier, bitteschön, ein Schnitzel-Pommes-frites, ein Menüsalat, zwei Kugeln Vanille- und Schokoladeneis zum Dessert. Mit oder ohne Schlagrahm. Eine Tasse Kaffee crème. Ein Pflümli, oder zwei. Bestellt wurde, was auf der Karte stand, ich tippte in die Kasse, was bestellt worden ist, und kassierte, was ich zuvor serviert hatte. Es herrschten klare Strukturen in Kommunikation und Rolle. Nichts musste hinterfragt werden und mehr Sinn machen, als notwendig war zur Ausführung der Bestellung. Was darüber hinausging, waren Freundlichkeiten mit Blick aufs Trinkgeld. Berufskollegen, welche die Gans in ihrer Freizeit als Gäste aufsuchten, waren darin grosszügig. Mit der Zeit hatte man aber auch den Blick für die Knausrigen, denen ich betont zuckersüss kam, um sie zu beschämen. Ich lernte die Beizen-Gezeiten kennen. Sie waren geprägt von der Auszahlung des Monatslohns (dann waren die Gäste grosszügiger) und vom Vollmond (dann hauten die Gäste eher über die Stränge und waren streitlustiger). Ich stand mir die Beine in den Bauch und hörte mir die unglaublichsten Geschichten an. Die Bar glich einem Beichtstuhl. Sie gewährleistete Anonymität und Distanz und öffnete damit Schleusen. Die Theke gehört wohl zu den Urformen sozialer Medien.
Diese Erlebnisse verarbeitete ich ein paar Monate später in einen Text mit dem etwas langweiligen Titel Erfahrungen eines Kellners. Er wurde im Tages-Anzeiger-Magazin veröffentlicht. Zwei Wochen darauf hinterbrachte mir ein Kollege die Nachricht, dass dieser Text an der Universität Zürich die Aufmerksamkeit des dortigen Professors für Volkskunde, Arnold Niederer, erregt habe. Er soll ihn in einem Seminar als gutes Beispiel teilnehmender Beobachtung gepriesen haben. Also dachte ich mir, wenn das, was ich schreibe, Volkskunde sei, so würde ich das auch mit einiger Leichtigkeit studieren können. Ich stellte mich Professor Niederer vor und immatrikulierte mich im Sommersemester 1974 an der Universität Zürich.
Ich absolvierte darauf das wohl faulste Studium, das man sich vorstellen kann. Es fing damit an, dass ich von Anfang an meinte, bereits Experte zu sein, und es setzte sich fort bei der Wahl der Fächer. Ich kombinierte Ethnologie, Volkskunde und Soziologie dergestalt, dass ich in allen drei Fächern die wenigen Bücher, um die zu lesen ich nicht herumkam, auswerten konnte. Keines zu viel.
In die Gans jedoch setzte ich meinen Fuss nie mehr. Hatten sie überhaupt mitbekommen, dass ich über sie geschrieben hatte? Irgendwie fürchtete ich mich wohl vor irgendeiner Reaktion. Hingegen verköstigte ich mich während meiner Studienzeit regelmässig am Grill, der draussen vor dem Eingang zum Restaurant stand. Dort gab es eine Pizza spezial: viel Fleisch, mit Käse überbacken. Ich verbrannte mir dabei regelmässig die Zunge. Ich halte das noch heute für die Antwort der Gans.

1 Kommentar:

Unknown hat gesagt…

Herrliche Reminiszenz über die "Gans", die ich persönlich nicht besucht habe, jedoch so Einiges darüber gehört habe.