Ich war von 1997 bis 2009 mit einer Brasilianerin verheiratet. Sie arbeitete in Volketswil als Controllerin in einer Grossbäckerei und trat an den Wochenenden mit ihrer Gitarre als Sängerin auf. Ich lernte sie in Küssnacht am Rigi an einer dieser fröhlichen und lauten Brasilianer-Parties kennen, wo viel Feijoada gegessen und viel Cachaça getrunken wird. Sie interpretierte unter Mitwirkung aller Anwesenden auch das Lied Trem das Onze, das mir besonders gut gefiel und mich an meine Zeiten in Brasilien erinnerte, als ich vom kolumbianischen Leticia aus auf einem kleinen Dampfer den Amazonas hinunterfuhr und später von Belem aus im Bus den Urwald durchquerte, um Tage später in São Paulo einzutreffen, vermutlich via Jaçanã. Seither messe ich diesem Lied eine besondere Bedeutung bei.
Komposition und Text: Adoniran Barbosa
Não
posso ficar nem mais um minuto com você
Keine Minute kann ich länger bei dir bleiben
Sinto
muito amor, mas não pode ser
Tut mir leid, Schatz, leider nein
Moro
em Jaçanã
Ich wohne draussen in Jaçanã
Se
eu perder esse trem
Wenn ich diesen Zug verpasse
Que
sai agora às onze horas
Der jetzt um elf Uhr fährt
Só
amanhã de manhã
Fährt der nächste erst morgen früh
Além
disso, mulher
Und außerdem, meine Liebe
Tem
outra coisa
Da ist noch eine andere Sache
Minha
mãe não dorme
Meine Mutter schläft nicht
Enquanto
eu não chegar
Wenn ich nicht heimkomme
Sou
filho único
Ich bin der einzige Sohn
Tenho
minha casa para olhar
Ich muss aufs Haus aufpassen
E
eu não posso ficar
Ich kann unmöglich bleiben
Dreimal mindestens repetiert der Verliebte dieselbe Strophe. Es genügt ihm nicht, es einmal zu sagen und dann zum Bahnhof zu eilen, damit er den Zug noch rechtzeitig erreicht. Nein, er sagt es nochmals und nochmals, und wenn er dann zu einem Ende kommt, ist der Zug schon längst abgefahren.
Zuhause wird also die Mutter die Nacht allein und voller Angst verbringen müssen, weil der Sohn vor lauter Beteuerungen den Zug verpasst hat. Der junge Mann jedoch, der eben noch seine Verantwortung für familiäre Prioritäten beschwor, hat jetzt die ganze Nacht frei. Der nächste Zug kommt ja erst morgens in der Früh. So kann er sowohl seine Angebetete wie auch sich selber glücklich machen, auch wenn es ursprünglich anders geplant war.
Diese Interpretation birgt Essenzielles zum Verständnis des lateinischen Macho-Gebahrens. Der Mann gibt den Ehrenmann, als einer, der sich ums Wohl seiner Nächsten kümmert. Diese Einstellung gefällt dem Mädchen, sie macht Eindruck. Denn sie widerspricht dem negativen Bild, das normalerweise die meisten Frauen von ihren Männern mit sich herumtragen. Sind sie nicht alle treulos und verantwortungsscheu? Vernachlässigen sie nicht alle ihre ehelichen und elterlichen Pflichten und lassen Frau und Kinder stehen?
Doch da ist einer, der sagt, er müsse zum Zug eilen, seine Mutter warte auf ihn. Einer, der die schnelle Lustbefriedigung seinen Pflichten hintanstellt. Auf einen solchen Mann scheint Verlass. Schade nur, dass er nicht bleiben kann, gerade jetzt, wo es die beiden miteinander so schön haben!
Und dann dies: er verpasst den Zug, weil er so höflich sein wollte und so aufwändig um Entschuldigung bat. Unverhofft sieht er sich all seinen Verpflichtungen enthoben. Die Schuld trägt der verdammte Zug. Wäre dieser nur nicht so pünktlich losgefahren! Natürlich wäre er tausendmal lieber zu Mamma heimgekehrt. Aber so? Niemand kann von ihm verlangen, zu Fuss nach Hause zurückzukehren, mitten in dieser dunklen Nacht.
Was die Geliebte angeht: sie meint, an diesem Abend für einmal nicht auf einen dieser üblichen Halunken reingefallen zu sein. Sie ist sich sicher, dass dieser der genau Richtige für sie ist. Sie vermag zu diesem Zeitpunkt nicht zu erkennen, dass sie auf einen Mann gestossen ist, der auch sie eines Nachts alleine im Haus zurücklassen wird, angeblich wegen eines allzupünktlichen Zuges, den er, freundlich und auf guten Eindruck aus, wieder verpassen wird... So wiederholt sich der Lauf der Dinge. Es braucht seine Zeit, bis sich die junge Frau dieser Regelhaftigkeit gewahr wird, bis sie merkt, dass dieser Typ sich in nichts von all den anderen Schwätzern unterscheidet. Er wird ihr zur gegebenen Zeit die Erfahrung vermitteln, die das Mädchen mit fast allen anderen Schicksalsgenossinnen teilen wird.
Was aber, wenn der Zug sich verspätet und der junge Mann ihn doch noch erreicht? Dann hat er sein Abenteuer verpasst! Und wie würde das Mädchen darüber denken? Und was meint die Mutter, wenn der Sohn spätabends doch noch heimkommt?
Auffällig ist bei diesem äusserst populärem Lied aus dem Jahre 1964, dass es oft von Frauen gesungen wird. Ich habe es zum Beispiel anfangs der 70er Jahre in Sao Paulo in einem Konzert von Gal Costa interpretiert gehört. War sie einfach bezaubert von der wunderschönen Melodie, welche in der Zwischenzeit zum geschlechtsunabhängigen brasilianischen Volksgut aufgestiegen ist und den Sinn der Worte in den Hintergrund drängt? Oder wollen sich die Frauen der Worte bemächtigen, um zu zeigen, dass sie genau wissen, was diese im Grunde bedeuten, eine Masche, eine billige Eroberungsstrategie der Männer, ein Imponiergehabe im Mäntelchen eines Ehrenmannes?
Leider kann ich mich nicht weiter bei diesem Song aufhalten. Ich werde zum Abendbrot gerufen. Das Essen steht schon dampfend auf dem Tisch. Und im übrigen habe ich versprochen, nachher die Teller abzuwaschen. Also ich muss gehen, tut mir leid: não posso ficar
Zuhause wird also die Mutter die Nacht allein und voller Angst verbringen müssen, weil der Sohn vor lauter Beteuerungen den Zug verpasst hat. Der junge Mann jedoch, der eben noch seine Verantwortung für familiäre Prioritäten beschwor, hat jetzt die ganze Nacht frei. Der nächste Zug kommt ja erst morgens in der Früh. So kann er sowohl seine Angebetete wie auch sich selber glücklich machen, auch wenn es ursprünglich anders geplant war.
Diese Interpretation birgt Essenzielles zum Verständnis des lateinischen Macho-Gebahrens. Der Mann gibt den Ehrenmann, als einer, der sich ums Wohl seiner Nächsten kümmert. Diese Einstellung gefällt dem Mädchen, sie macht Eindruck. Denn sie widerspricht dem negativen Bild, das normalerweise die meisten Frauen von ihren Männern mit sich herumtragen. Sind sie nicht alle treulos und verantwortungsscheu? Vernachlässigen sie nicht alle ihre ehelichen und elterlichen Pflichten und lassen Frau und Kinder stehen?
Doch da ist einer, der sagt, er müsse zum Zug eilen, seine Mutter warte auf ihn. Einer, der die schnelle Lustbefriedigung seinen Pflichten hintanstellt. Auf einen solchen Mann scheint Verlass. Schade nur, dass er nicht bleiben kann, gerade jetzt, wo es die beiden miteinander so schön haben!
Und dann dies: er verpasst den Zug, weil er so höflich sein wollte und so aufwändig um Entschuldigung bat. Unverhofft sieht er sich all seinen Verpflichtungen enthoben. Die Schuld trägt der verdammte Zug. Wäre dieser nur nicht so pünktlich losgefahren! Natürlich wäre er tausendmal lieber zu Mamma heimgekehrt. Aber so? Niemand kann von ihm verlangen, zu Fuss nach Hause zurückzukehren, mitten in dieser dunklen Nacht.
Was die Geliebte angeht: sie meint, an diesem Abend für einmal nicht auf einen dieser üblichen Halunken reingefallen zu sein. Sie ist sich sicher, dass dieser der genau Richtige für sie ist. Sie vermag zu diesem Zeitpunkt nicht zu erkennen, dass sie auf einen Mann gestossen ist, der auch sie eines Nachts alleine im Haus zurücklassen wird, angeblich wegen eines allzupünktlichen Zuges, den er, freundlich und auf guten Eindruck aus, wieder verpassen wird... So wiederholt sich der Lauf der Dinge. Es braucht seine Zeit, bis sich die junge Frau dieser Regelhaftigkeit gewahr wird, bis sie merkt, dass dieser Typ sich in nichts von all den anderen Schwätzern unterscheidet. Er wird ihr zur gegebenen Zeit die Erfahrung vermitteln, die das Mädchen mit fast allen anderen Schicksalsgenossinnen teilen wird.
Was aber, wenn der Zug sich verspätet und der junge Mann ihn doch noch erreicht? Dann hat er sein Abenteuer verpasst! Und wie würde das Mädchen darüber denken? Und was meint die Mutter, wenn der Sohn spätabends doch noch heimkommt?
Auffällig ist bei diesem äusserst populärem Lied aus dem Jahre 1964, dass es oft von Frauen gesungen wird. Ich habe es zum Beispiel anfangs der 70er Jahre in Sao Paulo in einem Konzert von Gal Costa interpretiert gehört. War sie einfach bezaubert von der wunderschönen Melodie, welche in der Zwischenzeit zum geschlechtsunabhängigen brasilianischen Volksgut aufgestiegen ist und den Sinn der Worte in den Hintergrund drängt? Oder wollen sich die Frauen der Worte bemächtigen, um zu zeigen, dass sie genau wissen, was diese im Grunde bedeuten, eine Masche, eine billige Eroberungsstrategie der Männer, ein Imponiergehabe im Mäntelchen eines Ehrenmannes?
Leider kann ich mich nicht weiter bei diesem Song aufhalten. Ich werde zum Abendbrot gerufen. Das Essen steht schon dampfend auf dem Tisch. Und im übrigen habe ich versprochen, nachher die Teller abzuwaschen. Also ich muss gehen, tut mir leid: não posso ficar
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