Mlle Blanche Coppex mit Chläusli Wyss am 1. August 1958 auf dem Zürichsee. Ein seltenes Ereignis |
Fräulein Coppex war an der Winkelwiese unsere Nachbarin. Sie bewohnte
auf dem gleichen Stockwerk eine kleine Zweizimmerwohnung. Wir teilten die
Toilette miteinander. Später wurden ihr dort eine kleine Küche und ein
Mini-Badezimmer mit WC eingebaut. Das hatte zur Folge, dass unser Badezimmer
mit einer Toilettenschüssel ergänzt werden musste.
Unsere Kontakte erfolgten
grösstenteils durchs geöffnete Küchenfenster beim Hauseingang. Es war die
Drehscheibe der Hauskommunikation. Auf dem Fenstersims deponierte jeweils morgens
um sechs Milchmann Wettstein
für alle Hausparteien die mit Milch gefüllten Kessi, die Joghurts im Glas und
die Butter, nachdem er die Lieferungen mit klammen Fingern in Halbhandschuhen
ins Bestellbuch eingetragen hatte. Später am Morgen nahm dort unsere Katze Mutzi
ihren Wachtposten ein und beobachtete Amseln, Hunde, andere Katzen und die Hausbewohner.
Letztere lud sie gnädig schnurrend zum Katzengespräch ein und liess sich
kraulen. Fräulein Coppex war ihre Spezialfreundin. Ich glaube, um die Katze
bestand eine gewisse Rivalität zwischen uns Nachbarn. Mutzi jedenfalls liess
sich, zu unserem Ärger, von Fräulein Coppex auch gerne verköstigen. Schmeckten
ihr etwa unser köstliches Hirn, unser blutiges Herz und unsere nahrhaften
Schweinsleberli weniger als das, was sie ihr auftischte?
So innig ihr Verhältnis zur Katze
war, so demonstrativ übte sich Fräulein Coppex uns gegenüber in Diskretion.
Vielleicht lag es an ihren vielen Migräneattacken, dass sie sich so wenig auf
uns einlassen mochte. Vielleicht war das etwas angespannte Verhältnis aber auch
ihrer Beziehung zum Hausbesitzer geschuldet, der zwei Stockwerke weiter oben
residierte. Er war früher ihr Chef und sie seine Sekretärin. Meine Mutter ging
jedenfalls davon aus, dass alles, was sich bei uns unten zutrug, automatisch
den Weg nach oben fand. Also hielten auch wir uns mit familiären Einzelheiten
etwas zurück, was mir Dreikäsehoch aber wohl nicht ganz so richtig gelingen
wollte. Ich sagte ihr Fönel Coppex,
daran kann ich mich noch gut erinnern, und sie hörte es gern.
Im Sommer begegneten wir uns oft
auch im Garten. Dort war das Verhältnis etwas entspannter. Zuweilen ergab es
sich, dass mir das Fönel Süssigkeiten
zusteckte und sich nach meinem Wohlergehen in Kindergarten und Primarschule
erkundigte. Und etwas vergesse ich ihr nie: Immer, wenn ich ins Kinderheim
musste, weil meine Mutter beruflich auf Reisen ging, steckte sie mir zum
Abschied einen Reisefüfzger zu. Dieses kleine Geldstück vermochte mein
Heimweh magisch zu mildern und vermittelte mir ein gewisses Gefühl von
Unabhängigkeit und Sicherheit. Schliesslich konnte ich mir damit auf der Reise
ungefragt einen Schleckstengel oder ein Brötchen leisten.
Als ich mit zwanzig auszog, verlor
ich den Kontakt zu Fräulein Coppex. Von da an war sie einzig noch in den
Erzählungen meiner Mutter präsent, die sich zuweilen über deren Einsiedlerleben
wunderte: Sie verschanze sich förmlich in ihren vier Wänden und reagiere auch
nicht, wenn man sie zum Tee einlade. Es schien, als ob sie sich auf eine innere
Reise begeben hätte. Vielleicht hätte ich ihr zuvor noch einen Reisefüfzger zustecken sollen.
© Nikolaus Wyss
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1 Kommentar:
Und wer hat dir einen Reisefüfzger mitgegeben? Schliesslich hat dein KolumbienMut sogar 2 verdient.
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