Mittwoch, 9. Januar 2019

Im Raumschiff unterwegs

 
Zu unserer Zeit machten wir es uns zur Aufgabe, das Sensationelle auf dieser Welt, die Schlagzeilen über Katastrophen, Mordfälle und umwälzende Erfindungen für das allerlangweiligste und immerwährende Grundgeräusch zu halten, während wir das Langweiligste und Alltäglichste, dem das Zeug zum Aufmacher gänzlich fehlte, als das eigentlich Erwähnenswerte und Wichtige priesen. Unter diesen Prämissen gründeten wir 1978 die Zeitschrift Der Alltag – Sensationen des Gewöhnlichen, pflegten während Jahren diese Art von Wahrnehmung und statteten darüber regelmässig Bericht. Mit der Zeit aber schliffen sich unsere harten Vorgaben etwas ab, und das Glänzende und das in konventionellem Sinne Aussergewöhnliche gewann zuungunsten unserer ursprünglichen Kriterien immer öfter die Oberhand. Mich begann die Sache zu langweilen, und ich wandte mich in dem Masse anderen Dingen zu, wie mein Verhältnis zu meinem Mitherausgeber Walter Keller erodierte. Der Ruf jedoch, den Alltag thematisiert zu haben, verfolgte mich in meinem weiteren Leben wie ein wohlwollender Schatten. Manchmal meinte ich, mich erklären zu müssen, wenn man mich zum Beispiel in einem feinen Restaurant antraf oder wenn ich in der Oper gesichtet wurde. Alltag? – Als Erklärung legte ich mir zurecht, dass zum Alltag eben auch Abwechslung gehöre, ja, dass der Alltag erst vor dem Hintergrund von Abwechslung und Ausserordentlichem so richtig sichtbar würde. Eine weitere Erklärung mündete darin, dass dieses Restaurant, das ausserordentliche Gerichte zubereitete, für die Angestellten selbst Alltag sei, und ebenso verhalte es sich mit der Oper ...
Diese Anfänge des Alltag-Hypes treten mir jetzt wieder deutlicher ins Bewusstsein, seit ich hier in Bogotá im eigenen Haus wohne und für dessen Pflege und Aufrechterhaltung zuständig bin. Eine junge, wilde Katze, ein Findelkind aus Buenaventura, die ich Psps rufe, gehört dazu. Sie verlangt Aufmerksamkeit rund um die Uhr und versucht, es sich auf meinen Füssen bequem zu machen, während ich am Schüttstein das Gemüse rüste. Eigentlich nicht weiter erwähnenswert, für mich aber der Erwähnung wert. Es kommt kaum noch vor, dass ich das Haus verlasse. Alles wird ins Haus geliefert. Ich pflege also leidenschaftlich langweiligen, innerhäuslichen Alltag, und dies in einem Masse, wie ich es zuvor wohl noch nie getan habe. Freunde hier wissen schon, was ich zur Antwort gebe, wenn sie mich fragen, was ich so mache: mit der Katze spielen, kochen, den Hof wischen, die Pflanzen giessen, lesen, schreiben, mit der Katze spielen, kochen, lesen, den Hof wischen, schreiben, die Pflanzen giessen ...
Abwechslung bringt ab und zu Maestro Jaime, der immer mal wieder das Lotterdach flicken kommt, weil das Leck immer noch nicht eindeutig eruiert worden ist; Vanessa schaut einmal pro Woche vorbei und sorgt insofern für Sauberkeit, als ich nach ihrem jeweiligen Wirken als obsessive Aufräumerin nichts mehr finde; Abwechslung bringen auch meine Bed-and-Breakfast-Gäste und Freunde meines Mitbewohners Johan. Doch selbst bleibe ich zumeist zu Hause, öffne einzig ab und zu die Tür, wenn es klingelt, und schaue, dass dabei unser unbändiges Kätzlein nicht auf die Strasse entwischt. So habe ich per Zufall entdeckt, dass Nachtbuben im Vorgarten einen Geraniumstock geklaut haben. Gehört das jetzt zur Kategorie des Erwähnenswerten oder zur Normalität des kolumbianischen Alltags? Ohne mich auf eine Antwort festzulegen, schliesse ich die Tür wieder und bestelle beim Gärtner einen Stock Ersatzgeranien.
Meine gegenwärtige Lebensweise hier in Kolumbien erfüllt meine periodischen Sehnsüchte nach klösterlichem Leben, welche ich bis anhin noch nie so richtig umsetzen konnte, weil bei mir früher oder später Verführungen und Neugier noch immer die Oberhand gewonnen haben. Ich glaube, da zeigen sich neuerdings eindeutige Zeichen frommen Alterns.
Meine jetzige Lebenssituation erinnert mich aber auch an meine Vorpubertät, als ich leidenschaftlich mit Klötzen ganze Städte baute und Schiffe, Flugzeuge, Häuser und Pläne von Inseln zeichnete, ohne je den kleinen Raum, wo mein Bett stand und die Billerbahn, zu verlassen. Damals fühlte ich mich in meiner kleinen Welt wunschlos glücklich und liess mich nicht gern stören durch die Ansprüche meiner Umwelt, wenn es zum Beispiel um die Einnahme des Abendbrots ging oder wenn Freunde nach mir verlangten und draussen mit mir Federball spielen wollten. Jedes Angebot an Abwechslung empfand ich als ärgerliche Störung.
Wollte ich vor Jahren nicht einmal auf den Mars reisen als ultimatives Zeichen der Einkapselung und der Verabschiedung von der hiesigen Welt, als endgültige Vereinigung mit dem Kosmos? Wo bin ich denn da in Bogotá? Schon unterwegs, oder was?

© Nikolaus Wyss

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