Mittwoch, 27. Februar 2019

Stägeli uuf, Stägeli ab juhee (Tagebuch 2)

In Fortsetzung der ersten Tagebuchauf-zeichnungen im Blog-Format folgt hier nun die zweite Ausgabe meiner kleinen Einträge. Diesmal ohne Fotos. 

6. Februar
Heute hat mich wieder meine Poesie-Muse Miguel Angel aufgesucht. Er sei am Schreiben seiner Familiengeschichte und schlüpfe dabei als Erzähler abwechselnd in die Person seines Onkels, seiner Mutter und seiner selbst. Ich konnte nicht umhin, ihm von meiner Lektüre des genialen Romans La Oculta zu berichten, den er zu meinem Erstaunen nicht gelesen hat. Der Autor Hector Abad entwickelt dieses grossartige kolumbianische Familienepos unter Verwendung dreier Erzählfiguren. Es sind die drei Geschwister, die in je unterschiedlicher Weise auf ihre eigene Geschichte, auf die Geschichte des Familiensitzes Oculta und die Geschichte Kolumbiens blicken. 
Als ob wir in einem Besserwisser-Modus befunden hätten, hielt Miguel Angel wenig später mit dem argentinischen Autor Mempo Giardinelli dagegen, dessen Buch Santo oficio de la memoria die Geschichte einer italienischen Auswandererfamilie nach Argentinien mittels Briefauszügen von dreissig Familienmitgliedern, zumeist Frauen, erzählt.
Daraufhin bestellten wir zum zMittag vom Italiener eine Pizza.

7. Februar
Abschiedsessen unseres mehrwöchigen Gastes K. Sie lud uns in ein besseres Restaurant unserer Wahl ein. Wir schlugen das Chato vor, wo ich zu meiner vollen Zufriedenheit vor einem Jahr meinen 69. Geburtstag gefeiert hatte. Diesmal aber war irgendwie der Wurm drin. Es fing damit an, dass jeder von uns unterschiedliche Menue-Karten ausgehändigt bekam. Später wussten die Kellner die einzelnen Gerichte mit ihren kunstvollen, rätselhaften Namen nicht richtig auszudeutschen. Eine gewisse Nervosität herrschte im Lokal, und eine der Vorspeisen war richtig versalzen. 
Meine Irritation korreliert in solchen Momenten jeweils mit den Ansprüchen, welche ein Restaurant sich selber vorgibt. Unperfekte Bedienung und Essen mit Verbesserungspotential stören mich weiter nicht, wenn Preis und Ausstattung im Rahmen dessen bleiben, den man erwarten darf. Staubig hingegen werde ich, wenn der Selbstanspruch nicht eingelöst werden kann. Als sich ein junger Mann als Socio des Restaurants zu erkennen gab, hielt ich mit Kritik nicht zurück. Darauf wurde die Nachspeise vom Hause spendiert, was ich wiederum sehr professionell fand.

8. Februar
Mein Hausgenosse Johan publizierte kürzlich seinen ersten Kurz-Rap, der in den sozialen Medien einigen Widerhall fand. Damit öffnet er für sich selber ein neues Betätigungsfeld und ich schöpfe für ihn Hoffnung auf eine erfolgreiche Nische. Bereits hat sich bei ihm Hugo, ein Musikerfreund aus Mexiko, gemeldet. Er würde mit ihm gerne einen Song produzieren. Seither lebt Johan in einem kreativen Flow.

Gestern beim Abendessen im Primitivo gab ich Johan zu möglichen Textideen meinen Senf dazu. Besonders tat es mir die folgende spontan entwickelte Geschichte an: Er, Johan, sei die Königin des Pazifik, schlug ich vor, Patin dreier Wale, die sich jeweils im Sommer in einer Bucht in der Nähe von Buenaventura einfinden würden. Als Bootsführerin würde sie mit Touristen aufs Meer hinausfahren und warten, bis sich die drei Gottenkinder namens Gorda, Marica und Mara einfinden und ihr aus Dankbarkeit mit viel Geschnaube und Flossenwackeln ein Tänzchen vollführen würden. Das gebe dann von berührten Touristen Extra-Trinkgeld. - Ich weiss nicht, ob Johan diese spinnerte Idee begeisterte, ich glaube, er rappt lieber von sexuellen Wirrköpfen und von der Diskriminierung von Schwarzen und Transsexuellen, die sich mit aufreizenden Songs an der Gesellschaft rächen. Mein Problem: ich verstehe schon rein akkustisch und wegen der Geschwindigkeit der Wortfolge Rapp-Lyrik kaum, weder auf Englisch noch auf Spanisch. Noch schlimmer: ich mag schon gar nicht hinhören, wenn Johan unter der Dusche oder wo auch immer sämtliche Texte von Nicki Minaj oder Travis Scott runterzuraspeln vermag. - Wobei: der folgende Song gefällt mir auch, und die durchaus anstössige, wenn auch total nachvollziehbare Lyrics verstehe sogar ich: Wake up von Travis Scott.

9. Februar
Beim Frühstückstee und beim Parfum bin ich heikel. Finde ich keinen Nachschub für meinen vietnamesischen Silver Sencha, so ist der Morgen schon ziemlich aus dem Lot. Und geht mein teures Chanel Bleu zur Neige, so fühle ich mich schon ziemlich nackt. 
Ich meinte schon, eine Zeit der Entblössung sei am Anbrechen, weil ich hier in Bogotá dieses Luxusprodukt einfach nicht finden konnte. Heute aber stiess ich im Shopping Center Unicentro per Zufall auf das begehrte Wässerchen. Erleichtert hielt ich es in den Händen und zückte schon die Kreditkarte, als die stark geschminkte Dame mit aufgeklebten Wimpern mir streng beschied, sie würden nur Bargeld annehmen. Was? In dieser vornehmen Umgebung? Wer führt schon 550.000 Pesos so einfach in seiner Tasche spazieren? An einem Bancomaten müsste man sogar ein zweites Mal nachfassen, weil bei den meisten Maschinen die höchste Bezugssumme bei 400.000 Pesos liegt. 
Ich hatte also die Wahl zwischen Stolz und Bargeldholen. Zu meinem eigenen Erstaunen obsiegte darauf das Nacktsein. Erhobenen Hauptes verliess ich den Laden und kehrte nicht mehr zurück.

10. Februar
Die obige Geschichte ist noch nicht zuende. Heute stiess ich abermals auf Chanel Bleu. In einer anderen Filiale. Auch hier: Bezahlen nur mit Bargeld möglich. Schon wollte ich ein weiteres Mal erhobenen Hauptes das so vornehme Geschäft wieder verlassen, als sich Nubia, die Geschäftsleiterin, vordrängte und mich fragte, ob ich denn nicht schon bald Geburtstag hätte. Ich bejahte, worauf sie mir sofort 10 Prozent Preisnachlass in Aussicht stellte. Der Bancomat stünde grad um die Ecke. Da wurde ich schwach, holte Geld und laufe seitdem wieder unentblösst durch die Gegend.

14. Februar
Schlaflosigkeit ist für mich eigentlich kein Problem. Ich höre mir dann den Podcast der Sendung Diskothek im Zwei an. Sie ist das ultimative Training im Ohrenspitzen. Da diskutieren zwei ExpertInnen und vergleichen Aufnahmen desselben Musikstückes miteinander. Es ist wohl der beste, lehrreichste und spannendste Zeitvertrieb, den SRF auf Kanal 2 zu bieten hat. Je akribischer umso interessanter. Und es reut mich, wenn ich dann doch bei der Aufnahme zwei im dritten Durchgang wieder einschlafe. Wer hat jetzt das Rennen gemacht? - Merkwürdig nur, dass ich am nächsten Tag nicht mehr danach frage und mich viel lieber schon auf die nächste Sendung freue.

21. Februar
Gestern haben wir also meinen runden Geburtstag gefeiert. Wir tanzten zu den Rhythmen einer siebenköpfigen Live-Salsaband die Beine aus dem Leib und verköstigten uns mit einer Hühnersuppe im Stil eines Sancocho. Mit meinen Schweizer Freunden, die den Geburtstag zum Anlass nahmen, nach Kolumbien zu reisen, assen wir zuvor zu Mittag in der Chicheria Demente und gingen anschliessend zur Plaza del mercado del 7 de agosto, um für die Suppe ein paar Gemüse einzukaufen. Die Suppenhühner hatte ich zwei Tage zuvor schon ausgekocht, damit das Fett erkalten und abgeschöpft werden konnte. 
Jetzt bin ich etwas erschöpft. Es ist aber eine zufriedene Müdigkeit.

23. Februar
Vorgestern strahlte das Schweizer Fernsehen eine Dokumentation zum 90. Geburtstag der allzu früh verstorbenen Heidi Abel aus. Ich sah mir auf dem Handy die Sendung in mehreren Etappen an.  
Durch die Fernsehtätigkeit meiner Mutter in den 60er Jahren, in deren Sendungen auch Heidi Abel ihre Auftritte hatte, kannte ich die Fernsehpionierin relativ gut. Heidi plante für den Sommer 1970 eine Auszeit bei einem Guru in Indien und fragte mich, ob ich während dieser Zeit ihr Häuschen in Lützelsee und ihre Katze hüten würde. Sie übergab mir für diese Zeit auch ihren Mini, worauf ich  in ihrem Häuschen einen romantischen Sommer mit dem Brasilianer Luiz Duarte verbrachte, der damals eigentlich der Geliebte eines Swissair-Flight Attentant hätte sein sollen, sich aber Gelegenheiten wie mich nicht entgehen lassen wollte...
Das wohl eindrücklichste Filmdokument zu Heidi Abel wurde leider in der TV-Dokumentation vom vergangenen Donnerstag nicht verwendet und stammt aus dem Dokumentarfilm von Tobias Wyss. Man sieht darin Heidi Abel am Telefon im Gespräch mit einer ihr unbekannten Zuschauerin. Der Anruf kam ungelegen und wäre eigentlich leicht zu beenden gewesen. Aber nein, obwohl Heidi immer wieder darauf aufmerksam machte, dass sie jetzt keine Zeit für ein Gespräch habe, war es gleichwohl sie, die das Gespräch weiterzog und weiterzog und bis zur Erschöpfung des Zuschauers weiterzog. Diese tragische Darstellung von Selbstzerrissenheit dieser schweizbekannten Person bleibt mir bis auf den heutigen Tag in unauslöschlicher Erinnerung.


©Nikolaus Wyss

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Mittwoch, 6. Februar 2019

Las Flores oder: wenn ich sterbe


Ich habe mein Wohnquartier in der Stadt nicht mit Bedacht gewählt. Doch jetzt zeigen sich Vorteile der getroffenen Standortwahl. An der Ecke vorne zum Beispiel befindet sich Las Flores, ein verkehrsreicher Platz, wo an unzähligen Ständen kunstvoll gesteckte Blumengebinde für Hochzeiten und Trauerfeiern feilgeboten werden. Dort decke ich mich regelmässig mit Blumen ein, deren Namen mir zwar nichts sagen, die aber schön sind und lange frisch bleiben. So ein Gebinde wird dereinst wohl auch meinen Sarg schmücken, stelle ich mir vor. Für den Ausläufer ist es wenigstens nicht weit, diese Blumenorgie am richtigen Ort abzugeben. Geht man nämlich von meinem Haus aus ein paar Schritte in Richtung Norden, so befindet sich dort an der Carrera 13#69 eine der 27 Filialen des Bestattungsinstitutes Capillas de la Fé mit VIP-Service gegen Aufpreis. Dieses ISO-zertifizierte Institut bietet rund um die Uhr umfassende Begräbnisdienstleistungen an. Oft stehen Trauernde noch abends um halb elf und auch samstags und sonntags verlegen vor dem Haus, um sich von einem Verstorbenen zu verabschieden.
Ich empfehle meinen Hinterbliebenen also, die Hilfeleistung dieses nahen Institutes in Anspruch zu nehmen, auch wenn ein solches Begräbnis nicht grad billig ist. Ich werde in einer Schatulle 3 Millionen Pesos bereitlegen, das sollte für ein bescheidenes Ritual inklusive Sarg reichen. Die Einäscherung kostet dann noch zusätzlich.
Der Weg zum Einkaufen führt mich jeden Tag an diesem stets geschäftigen Trauerhaus vorbei. Was mich dabei immer wieder von Neuem fasziniert, ist das von dieser Institution gewählte Emblem. Wahrscheinlich soll es das flackernde ewige Licht darstellen, aber ich habe noch niemanden getroffen, der darin nicht eine bebende Vagina gesehen hätte. Auch das ist sinnfällig: Von dort startet das Leben, das hiermit sein Ende findet.

© Nikolaus Wyss

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Montag, 4. Februar 2019

Stägeli uuf Stägeli ab juhee (Tagebuch 1)

An der Lagune von Guatavita, einem Heiligtum der Muiscas. Auf dem Grund des Sees soll der Legende nach noch viel Gold zu entdecken sein.
24. Januar 
Noch immer weiss ich nicht, wie lange hier oben auf 2600m über Meer ein weiches Ei gekocht werden muss. Gestern war es zu hart, heute floss es über den Becherrand. Meine Gäste zeigen sich wenigstens nachsichtig. Etwas verlegen verwies ich heute Morgen auf den Loriot-Sketch mit dem Viereinhalbminutenei. 

25. Januar
Diesmal legte ich die Eier ins kalte Wasser, erwärmte dieses bis zum Siedepunkt, schaute auf die Uhr und nahm den Topf nach knapp fünf Minuten vom Herd, um die Eier abzuschrecken. Das Resultat stellte meine Gäste endlich zufrieden: innen weich, am Rand etwas härter. Nicht allzu pfludrig. - So werde ich jetzt die Zubereitung der huevos blandos im geplanten Regelwerk festhalten, welches nicht nur zu befolgende Angaben über weiche Eier, sondern auch die Zusammensetzung und Menge des Früchtemüeslis, das Angebot und die Zubereitungsmethoden von Tee, Kaffee und heisser Schokolade, die Präsentation der Brotscheiben, die Standards in den Gästezimmern (alle mit Bettflaschen ausgestattet), die Art der Rechnungsstellung und die Willkommens- und Abschiedsrituale festhält. Alles auf Spanisch, damit der noch nicht gefundene, doch immerhin angedachte Hausmayor und Vanessa, unsere Putzkraft, es verstehen und auswendig lernen können. Besonders letztere braucht noch ein paar Leitlinien. Sie ist eine allzu kreative Person. Sie markiert ihr Wirken bislang mit dem Verstecken herumliegender Gegenstände und mit der ständigen Neuordnung in den Küchenschränken und auf den Büchergestellen. Letzhin entdeckte ich die Bücher in Orgelpfeifen-Anordnung. Immerhin riecht es aber aus allen Nasszellen sauber nach ätzendem Chlor. Die Trennung der Abfälle ist ihr jedoch noch fremd.
Soweit mein Vorhaben für dieses Jahr: die Emanzipation vom eigenen Haus. Dieses soll auch ohne mein Dazutun und ohne meine Präsenz brummen.
* * *
Der Mittwoch ist jeweils meiner poetischen Bildung gewidmet. Mein Fachmann in diesen Belangen ist der junge Cinéast, Poet und Schriftsteller Miguel-Angel Fajardo, der mir seinerzeit schon Raúl Gomez Jattín näher brachte. Er ist nach seinem Autausch-Semester auf Kuba wieder im Land. 
 Mein Poetik-Professor Miguel-Angel Fajardo beim Lesen der führenden kolumbianischen Literaturzeitschrift "El Malpensante"
In den vergangenen zwei Wochen lernte ich durch ihn die argentinische Dichterin Alejandra Pizarnik, den chilenischen Theaterkünstler und Schriftsteller Pedro Lemebel und die brasilianische Poetin Ana Cristina César kennen. Den dreien ist gemeinsam, dass sie es sich in ihren eigenen Leben nicht leicht gemacht haben. Letztere sprang in ihrem Elternhaus aus dem Fenster zu Tode, bei ersterer vermutet man als Todesursache die Einnahme allzu vieler Schlafmittel. Kettenraucher Lemebel wiederum, der mit seinem non-binären Geschlecht Leben und Werk in den Dienst der Vorurteilsbekämpfung stellte und sich darin heillos selber verstrickte, starb an Lungenkrebs. Bin jetzt daran, mich an ein paar wortreiche Gedichte dieser Persönlichkeiten heranzutasten. Am kommenden Mittwoch muss ich Miguel-Angel meine Bemühungen rapportieren. 

26. Januar
Gestern machte ich mich endgültig zum Sklaven der Katze. Ich erstand mir einen Kletterbaum und buckelte ihn mehr als einen Kilometer weit nach Hause.
100.000 Pesos auf der Schulter und die leise Hoffnung, die Katze hätte Freude an dieser Art von Gegenstand
Zu Hause angekommen, bestreute ich ihn mit Katzen-Marijuana, damit das stets wilder werdende Tier an diesem unmöglichen, hässlichen Möbelstück Gefallen finde und sich daran ermüde. 
Und jetzt soll dieser blöde Katzenturm doch ein unnützer Kauf gewesen sein? Bis anhin ignoriert Cual dieses Objekt und bevorzugt zum Wetzen ihrer Krallen nach wie vor Stühle, Teppiche und das Sofa.
Abends dann Sex Educations, eine Serie auf Netflix. Das Schönste daran war, dass wir zu viert auf dem Sofa sassen. Über unseren Beinen das schnurrende Kätzlein. Nach zwei Folgen allerdings ging ich ins Bett, die anderen machten noch drei Folgen weiter bis weit nach Mitternacht.

27. Januar
Mit unserem Gast K., der für 14 Tage die Sprachschule Nueva Lengua um die Ecke besucht und übers Wochenende ein Velo ausgeliehen bekam, Fahrt in den Simon Bolivar-Park, wo sich jeden Sonntag sattes Familienleben abspielt. Bootsfahrten, Federball, Kartenspiele im Gras,
Im Parque Simon Bolivar
Kinderbeschäftigungsprogramme, Schlangen vor den WCs, Aerobic-Angebote, Meditationsgruppen, Maiskolben-Essen - darüber startende Flugzeuge. Der Abschluss der Rundfahrt bildete ein spätes Mittagessen in einer unserer Lieblingsbeizen, der Chicheria Demente, wo diesmal "unser" Kellner mit blondem Haar servierte. Steht ihm allerdings nicht schlecht, stellten wir alle drei fest.
* * *
Dieser Tage ist wieder viel vom Konzentrationslager Auschwitz die Rede, und ich wäre der Letzte, der diesen schrecklichen Ort in Vergessenheit geraten lassen möchte. Gleichwohl überkommt mich bei solchen Gedenktagen manchmal das Gefühl der Scheinheiligkeit, denn es ist wesentlich einfacher, sich auf furchtbare Dinge in der Vergangenheit zu verständigen, als zur Kenntnis zu nehmen, dass auf dieser Welt unsere Gesellschaft halbwillentlich und sicher sehr wissentlich Tausende von Flüchtlingen versaufen lässt, dass gerade hier in Kolumbien jeden Tag Sozialarbeiter umgebracht werden, weil sie sich für die Verbesserung der Lebensumstände Rechtloser einsetzen, dass im Kongo Dschungelkrieg herrscht und im Jemen Wüstenkrieg mit Schweizer Waffen, und dass in Brasilien nicht nur neu der Amazonas zum Abholzen freigegeben wird, sondern auch Indigene und Schwule zum Abschuss. Und Venezuela versinkt im Chaos. Ich meine bloss, mit Auschwitz sollte immer auch etwas Aktuelles in die Gedenk-Pipeline gegeben werden, sonst kommen wir uns allzu wahnsinnig gut vor, weil es heute kein Auschwitz mehr gibt. In anderer Gestalt und unter anderen Umständen jedoch gibt es diese Art von Ermordungs-Stätten sehr wohl und immer noch, und sie machen keine Anstalten zu verschwinden.

28. Januar
Heute hat die Erde gebebt. Wie vorgestern schon. Hier im Andenstaat wird sorgfältig unterschieden zwischen temblores, Erdbewegungen also, die man zwar spürt, die einen aber nie veranlassen würden, das Haus fluchtartig zu verlassen, und in terremotos, wo es oft zu spät ist, das Haus überhaupt noch zu verlassen. Vor genau 20 Jahren wurde Armenia von einem grossen terremoto heimgesucht. Es verzeichnete 1700 Tote. Das Ereignis bleibt mir insofern im Gedächtnis haften, als es damals meinen Buchhhändlerfreund Carlos Winston aus der Libreria Buchholz zwang, seine Teilnahme an meinem 50. Geburtstag in Luzern abzusagen. Seine Familie, die von Armenia stammt, hatte Opfer zu beklagen, und er sah sich in diesem Moment verpflichtet, seinen Angehörigen beizustehen, wofür ich auch alles Verständnis hatte. Der Betrag des Flugtickets wurde ein Jahr später zurückerstattet.

29. Januar
«Liebe I.- Dies ist eine Spontan-Email. Eben habe ich vom Hinschied Irma Nosedas erfahren, die ich noch von unserem gemeinsamen Volkskunde-Studium bei Prof. Arnold Niederer her kenne. Ihr selbstironischer Umgang mit dem eigenen Schaffhauser Dialekt bleibt mir am prägendsten in Erinnerung. Später begegneten wir uns nur noch sehr sporadisch, an Vernissagen zum Beispiel und an ein paar Tagungen. Aber als ich ihren Namen etwas googelte, gelangte ich plötzlich zu einem deiner Links auf deiner eigenen Homepage. Habt ihr zusammengearbeitet? ... Und so grüssen einander noch Überlebende, im Wissen darum, dass es auch uns eines Tages treffen wird. 
Wie geht es dir? - Was machen Beruf, Gesundheit und Liebe? (…)
Ich lebe mein auch nicht mehr ganz neu aufgeschlagenes Kapitel hier in Bogotá, Kolumbien, und bin froh um diese Erfahrung, die mich nochmals in die lebendige, herausforderungsreiche Welt hinausgeschleudert hat. Es geht mir gut, ich bewerbe mich trotz fortgeschrittenen Alters jetzt noch um den Eintritt in eine hiesige Krankenkasse. Blutzucker gut. Leber gut. Prostata gut etc. Lediglich mit der linken Niere scheint etwas nicht ganz in Ordnung zu sein, soll mich aber laut Dr. Romero Romano (was für eine Namenskombination!) von einem Eintritt nicht abhalten. Der Vorteil dieser Krankenkasse, und dann verlasse ich das Thema, ist eben auch, dass gerade zwei unter demselben Dach Lebende davon profitieren können, in meinem Fall ist dies mein junger Wohnpartner Johan.
Ich grüsse und umarme dich, hoffe innig, dass es dir gut geht (...)
In Gedenken auch an Irma, herzliche Grüsse - Nikolaus» 

31. Januar
Da ich auf den Strassen Bogotás viele Leute freundlich grüsse, die mir entgegenlächeln, werde ich oft auch angesprochen, befragt und angehauen, und dabei ergibt sich eine ganze Kollektion von Anreden, die mir zugedacht sind. Amigo, hermano, señor, su merced, doctor, jefe, patrón, veci, caballero und director. In der Sammlung fehlen mir noch der profesor und der rector. Mal schauen, ob sich diese Anreden auch noch irgendwann einstellen. Hoffnungsvoll Anreden sammelnd: Don Nicolas (!)

4. Februar
Dieser Tage waren drei Freunde aus der Schweiz zu Besuch. Zuvor hatten sie ein Trekking auf den Nevado de Tolima unternommen. Sie erzählten von der abenteuerlichen Besteigung des Vulkans und von den eher primitiven Unterkünften auf dem Weg dorthin, und ich erinnerte mich dabei an meine eigene Besteigung des benachbarten Nevado de Ruiz, als wir vor 47 Jahren dort oben in Bergnot geraten sind. Und jetzt droht dieser Vulkan wieder auszubrechen, wie damals, als seine Lava das Firneis zum Schmelzen brachte. Das Gemisch aus Wasser, Schlamm und Geröll begrub am 13. November 1985 die kleine Stadt Armero und tötete rund 26.000 Einwohnerinnen und Bewohner.
* * *
Meine drei Schweizer Freunde schenkten mir zu meinem bevorstehenden Geburtstag einen Ausflug. Wir fuhren mit einem Mietauto zur Lagune von Guatavita und wurden vom erzählfreudigen 
Henrique fachkundig in die Kultur der Muiscas eingeführt, zu deren Nachkommen er sich selber zählt. Damit komplettiert sich anlässlich unseres Ausflugs mein Guatavita. Damals in den 70ern, als ich bei Buchholz arbeitete und sonntags jeweils an den Ausflügen der Familie teilnehmen durfte, führte uns der Weg immer nur zum Dorf Guatavita, einem architektonisch ansprechenden Retortenstädtchen, das 1967 anstelle des im Stausee Tominé gefluteten alten Guatavitas gebaut wurde. Dort spendierte Herr Buchholz jeweils ein reichhaltiges Mittagessen. Für den Dessert hingegen machten wir jeweils auf dem Rückweg Halt bei der Alpina in Sopó, wo es die unwiderstehlichen fresas con crema gab, Erdbeeren an Schlagrahm. - Damals war die kraterartige, geheimnisvolle Lagune von Guatavita, ein Heiligtum der Indigenen, die sich etwa 15km vom gleichnamigen Dorf entfernt befindet, für die Öffentlichkeit noch nicht zugänglich und ziemlich unbekannt. 
* * *
Das hintere Treppenhaus der Casa Wyss
Ich nenne mein hier angefangenes Tagebuch "Stägeli uuf, Stägeli ab juhee". Das ist der Titel eines der vielen erfolgreichen Kompositionen von Artur Beul. Mit schrecklichem Schweizerdeutsch übrigens: "... s'Läbe isch en Traum, doch d'Mänsche merket's kaum(!)". Abgesehen davon aber passt mir das Lied und dessen Philosophie, musikalisch humorvoll umgesetzt. 
Am Morgen rennt das Kätzchen die Treppen hoch, um mich vor der Türe abzupassen und mich mit Liebesbekundungen einzuschmusen, sobald ich die Gnade habe, mein Schlafzimmer zu verlassen. Dann steigen wir gemeinsam und schnurrend die Treppe hinunter, sie in freudiger Erwartung der in Aussicht gestellten Frühstücks-Leckerbissen, bis ich unten merke, dass ich oben die Schlüssel vergessen habe, um die Haustüre unten aufzusperren. Also wieder hoch in Gesellschaft einer immer ungeduldig werdenden Katze, deren Herzlichkeit jetzt eindeutig in fordernde Hungergier hinüberkippt.
Katzenfrühstück nach dreimal Treppen laufen
Nach dem Frühstück geht es erneut hinauf zum Duschen, dann wieder hinunter zur Gästebetreuung und der Zubereitung des Frühstück-Müeslis, und so weiter. Ich will die Treppenstory nicht stressen, sie hat gar keine Pointe, es geht nur darum zu betonen, dass ich gefühlte 150mal am Tag Stägeli uf und Stägeli ab gehe - was mir übrigens den Fitness-Club erspart. 
So das Leben mit seinen Gefühlen. Auf und ab. Geht es bei mir jetzt abwärts, weil ich aus immer dümmeren Gründen die Treppen hochsteigen muss? Oder geht es mir super, weil ich trotz Treppensteigen zufrieden und glücklich bin und feststellen darf, dass es um mich gar nicht so schlecht bestellt ist?
Eigentlich bevorzuge ich das Abwärtsgefühl, weil es die Überraschung des erfreulichen Gegenteils in sich birgt. Mir scheint es bitterer, erkennen zu müssen, dass es abwärts geht, obwohl man meint, sich auf dem aufsteigenden Ast zu befinden...
Wir bewegen uns alle auf diesem schmalen Grat des Auf und Abs. Nachdem ich vor vielleicht dreissig Jahren mit Tagebuchschreiben aufgehört habe, kehre ich jetzt zurück zu dieser Art von Beschäftigung, die ich früher rastlos und fast täglich betrieben habe. Lese ich heute meine Notizen von damals, so musste es mir die ganze Zeit sehr schlecht gegangen sein. Da reiht sich eine Klage an die andere. Perspektiven- und hoffnungslos. Nur Unglück schien mir zu widerfahren, dabei hielt ich lediglich mein Pech fest, während Erfolge und Erkenntnisse, die mich auf dem Stägeli hinauf- und vorwärts trieben, keine Erwähnung fanden. Ich lebte in Wirklichkeit doch ein Leben, das sich auch beim besten Willen nicht als ein unglückliches beschreiben lässt. Gerade hier in Kolumbien, wo man mit weitaus schwierigeren Lebenssituationen konfrontiert ist, als sie mir im Vergleich dazu selber je einmal widerfahren sind.
Deshalb sollen meine neuen Eintragungen eine andere Prägung bekommen als früher. Sie sollen viel stärker getrieben sein von der Dankbarkeit diesem Leben gegenüber, von der Achtsamkeit gegenüber Personen, die gerne Zeit mit mir verbringen, und vom Respekt gegenüber allen Menschen, ob sie Grosses geleistet haben in ihrem Leben oder Kleines.  

©Nikolaus Wyss

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