Dienstag, 20. Februar 2018

Zu meinem 69. Geburtstag - De lo que soy


Zu meinen jungen Freunden hier in Bogotá gehört Miguel Angel. Er studiert an der Uni Tadeo Filmwissenschaft und absolviert momentan ein Austausch-Semester an einer Universität in Kuba. Bei seinen nachmittäglichen Besuchen öffnete er mir ein paar Türen zu Kolumbiens Poesie, wofür ich ihm ewig dankbar sein werde. Insbesondere erschloss er mir die Welt von Raúl Gómez Jattin, dessen Gedichte mich immer stärker in Bann ziehen. Aus Anlass meines 69. Geburtstages beschäftigt mich das folgende Gedicht ganz besonders:

De lo que soy
Was ich noch bin

En este cuerpo
In diesem Körper

En el cual la vida ya anochece
Dessen Leben sich bereits dem Ende zuneigt

Vivo yo
Lebe ich

Vientre blando y cabeza calva
Der Bauch schlaff und der Kopf kahl

Pocos dientes
Wenige Zähne

Y yo adentro
Und ich darin

Como un condenado
Wie ein Verdammter

Estoy adentro y estoy enamorado
Ich befinde mich hier drin und bin verliebt

Y estoy viejo
Und ich bin alt

Descifro mi dolor con la poesía
Mit Gedichten seziere ich meinen Schmerz

Y el resultado es especialmente doloroso
Und das Resultat schmerzt ganz besonders

Voces que anuncian: ahí vienen tus angustias
Stimmen kündigen an: Hier kommen deine Ängste

Voces quebradas: pasaron ya tus días.
Brüchige Stimmen: deine Tage sind gezählt. 

La poesía es la única compañera
Die Poesie bleibt deine einzige Begleitung

Acostúmbrate a tus cuchillos,
Gewöhne dich an deine Seziermesser,

Que es la única
Das einzige, was hilft

Dieses Gedicht zwingt mich in die Knie. Es macht mich nicht traurig, doch demütig schon: andächtig, zentriert. Die scharfe, unerbittliche Beobachtung des eigenen Zerfalls schmerzt, der kurze Lichtblitz der Verliebtheit wirft ein untröstliches Schlaglicht auf die Vergänglichkeit. Doch die weise Poesie als Antwort darauf schenkt die notwendige Kraft weiterzuleben. Sie tröstet zwar nicht, doch sie bringt einen überein mit sich selbst. Sie versöhnt mich mit mir selbst. Es ist mir ums Weinen. So schön ist das.
Raúl Gómez Jattin, geboren 1945, endete als Stadtstreicher. Er wuchs in Cereté auf, einer Stadt im Norden Kolumbiens. Dort wurde er Geografie- und Geschichtslehrer und unterrichtete an einer lokalen Mittelschule. Mit 21 Jahren zog es ihn nach Bogotá, wo er die Rechte studierte. Gleichzeitig schloss er sich einer Theatergruppe an und spielte in zahlreichen Inszenierungen literarischer Beiträge mit, die vorgängig in der Zeitschrift Puesto de Combate publiziert worden sind. 
Ohne seine Rechtsstudien je abzuschliessen kehrte er acht Jahre später nach Cereté zurück, lebte von nun an auf der Strasse und wurde immer mal wieder von der Polizei aufgegriffen und in psychiatrische Kliniken gesteckt. Und er begann mit dem Schreiben von Gedichten. Er änderte seinen Lebensstil als Stadtstreicher auch nicht, als er nach Cartagena überwechselte. Jetzt kamen noch einige Gefängnisaufenthalte hinzu. Ob er seinem Leben wirklich ein Ende setzen wollte, oder ob er einfach nur unglücklich vor einen Bus fiel und überfahren wurde, bleibt bis auf den heutigen Tag ungeklärt. Er starb am 22. Mai 1997 auf den Strassen Cartagenas.
Wenn dieser Poet mit einer solchen Lebensgeschichte die Kraft aufbringt, so präzis seinem Leben künstlerischen Ausdruck zu verleihen, so bleibt mir nichts zum Klagen. Ich habe mich grad beim Zahnarzt angemeldet.  



2 Kommentare:

Rosmarie Glenz hat gesagt…

Lieber Nikolaus Ich habe heute meinen 76. Geburtstag. Das berührende Gedicht von Jattin kommt mir gerade recht und ist mein Geschenk. Alt werden ist für mich ein spannendes aber auch zwiespältiges Experiment. Ich kann so gar nichts anfangen mit all den erbärmlichen Seniorensngeboten, mit denen man Leute ab einem gewissen Alter fit halten möchte. Mein Leben geht nahtlos weiter mit der beruflichen Leidenschaft, mich in meiner glückseligen Abgesschiedenheit in den Bergen ganz intensiv künstlerisch mit Alltagsthemen zu beschäftigen. Ich frage mich ernsthaft, ob es Fluch oder Segen ist, besonders alt und immer älter zu werden. Wäre es nicht eine Gnade, an einem schönen sonnigen Tag einfach ganz leise zu gehen? Zack-weg! Herzlich Rosmarie

Laura Fehlmann hat gesagt…

Danke Niklaus. Ich hatte das Gedicht schon gelesen. Es ist berührend, aber mich mutet es pessimistisch an. Sind unsere Tage nicht von Anfang an gezählt? Sind wir nicht, trotz körperlicher Verfallsanzeichen, immer die gleichen Persönlichkeiten? Ist es nicht wunderschön, ab und zu Gelassenheit und Versöhnlichkeit zu spüren, die uns das Alter schenkt? Und dann wieder starke Gefühle wie Liebe, Freude, leidenschaftliche Lust oder auch Wut? Lassen wir bei diesen Überlegungen die Zipperlein beiseite. Meine Haare sind zwar dünn geworden, die Haut schrumpelt, aber ich kann locker noch 200 Kilometer Velo fahren. Es lohnt sich, jeden Tag, jede Stunde zu nutzen. Das Ende kommt bestimmt.