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In Mitú, Vaupes, Kolumbien, 1971
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Diesen Text habe ich im Jahr 2013 in Schlieren, Schweiz, verfasst. Damals dachte ich nicht daran, je wieder nach Kolumbien zurückzukehren, um dort meinen Lebensabend zu verbringen. Ich war vielmehr daran, ein paar Erinnerungen an "mein" Lateinamerika der 70er Jahres des vergangenen Jahrhunderts zusammenzutragen. - Montebonito übrigens, dies vorweg, existiert mittlerweile auf Google Earth.
Den Schauplatz dieser Geschichte finde ich auf Google Earth nicht.
Dabei wollte ich am Bildschirm auskundschaften, wie sich das
kolumbianische Dörflein Montebonito wohl entwickelt hat, seit
ich es vor nunmehr vierzig Jahren in Gesellschaft von zwei Freundinnen
zu Weihnachten aufgesucht hatte. In meiner Erinnerung klebte es an einer
Krete, scheinbar kurz davor, beidseits ins Tal zu stürzen. Die windigen
Häuser wurden von dürren Stelzen gestützt und lagen auf der Innenseite
am Berggrat auf. Sie bildeten aneinandergereiht eine Gasse, auf welcher
sich das ganze Dorfleben abspielte. Auf der Talseite aber befanden sich
Plumpsklos, von wo die Notdurft in freiem Fall den Hang hinunterpollerte.
Montebonito war autofrei. Nur ein Trampelpfad verband es mit der
Aussenwelt. Wir mussten unser Auto an einer Polizei-Sperre entlang der
Hauptstrasse auf der anderen Seite des Tales parken. Dort warteten schon
ein paar Mitglieder unserer Gastgeberfamilie auf uns mit Mauleseln und Pferden. Vorher aber wurden noch Autonummer, Automarke, Farbe und
Baujahr und ein paar Angaben zu unserer Person in ein dickes Buch
eintragen. Fürs Überwachen des Fahrzeugs drückten wir den Polizisten ein
paar Pesos in die Hand. Dann begaben wir uns auf den stotzigen Weg zum
Dorf hinüber. Er führte zuerst in eine Schlucht hinunter, um auf der
anderen Seite wieder hochzusteigen. Schwüle klebte in der Luft, der
Himmel tropfte, und Nebelschwaden zogen durch das dichte Grün. Der
abschüssige Pfad schlängelte sich an Felsvorsprüngen, Kaffeepflanzen und
Gestrüpp vorbei und verlor sich zuweilen im Geröll und in den zahllosen
Bächlein, die wir überqueren mussten.
Maria, unsere Gastgeberin, verbrachte ihre eigene Kindheit in Montebonito, bevor sie ins Colégio nach Manizales, dem Hauptort des Departements Caldas,
hinüberwechselte und später an der pädagogischen Hochschule in der
Hauptstadt Bogotá studieren ging. An Weihnachten besuchte sie jeweils
ihre Familie, diesmal mit uns im Schlepptau, das heisst mit ihrer
Arbeitskollegin Merced, der Autobesitzerin, einer frommen
Krankenschwester aus Argentinien, die im selben Armenviertel arbeitete
wie Maria, und mir.
Acht der zwölf Geschwister von Maria waren damals noch unverheiratet.
Zum Weihnachtsfest kehrten sie aus allen Himmelsrichtungen ins Dorf
zurück, wo nur gerade die beiden Nesthäkchen zusammen mit den Eltern
noch das ganze Jahr über wohnten. Die verheirateten
Kinder hingegen feierten mit deren eigenen
Familien anderswo.
Für den Konvoi auf die andere Talseite hinüber wurde mir zu Recht der
lahmste Gaul zugeteilt, denn im Vorfeld unseres Ausflugs hielt ich mich
mit kritischen Bemerkungen zur Unberechenbarkeit der Fortbewegung auf
Pferderücken nicht zurück. Schon beim Besteigen des Pferdes bekundete
ich Mühe, und in den Augen von Marias ledigen Brüdern musste ich da oben
eine trübe Gestalt abgegeben haben. Ich sass damals erst zum dritten
Mal in meinem Leben auf einem Pferd.
Das erste Mal, als Bub noch, war es
in Elgg bei Winterthur, wo ich eine Probereitstunde absolvieren musste.
Ich tat damit meinem Vater einen Gefallen. Er war Pferdenarr und
unterschob mir, auch einer zu sein. Auf sein Betreiben hin lautet mein zweiter Vorname Philipp, auf Griechisch Pferdefreund. Vater schenkte mir zum Beispiel jedes
Jahr einen Pferdekalender, den ich zwar brav an die Wand heftete, ihn
mir aber nie genauer anschaute, denn das Januarbild blieb
jeweils das ganze Jahr über hängen. Die Steigerung von Vaters
Pferdeliebe bestand dann in einem Gutschein zu einem Probegalopp, den er
mir zu meinem 10. Geburtstag schenkte. Einlösbar innert eines
Jahres. So fuhr ich in Erfüllung von Vaters Erwartung und in Begleitung
unserer Haushälterin Marga an einem heissen Sommertag mit dem Zug nach
Elgg. Bereits der Fussmarsch von der Bahnstation zum Gestüt war in
dieser Hitze eine Qual. Dann musste ich mir von einer strengen Domina
mit Stöcklein und Reitstiefeln endlose Instruktionen anhören. Ich
erinnere mich noch, wie sie mich aufforderte, zum Pferd eine Beziehung
aufzubauen. Dazu gab sie mir Zucker, den ich auf der flachen Hand dem
gefrässigen Tier entgegenstrecken sollte. Statt Zuneigung empfand ich
jedoch nur Ekel. Als sich das Pferd mit auskragenden Lippen den
Zucker schnappte, blieb Speichel auf meiner Hand kleben, was mich
wiederum an die unangenehm feuchten Abschiedsküsse meiner Grossmutter
erinnerte. Der darauffolgende Ritt an der Longierleine griff ernsthaft
meine Lenden an. Nachher konnte ich kaum mehr gehen. Gleichwohl schrieb
ich anschliessend meinem Vater, der damals im Ausland weilte, einen
überschwänglichen Dankesbrief. Gottseidank blieb es bei diesem einzigen Ausritt. Meine mangelhaften
Schulleistungen erlaubten später eine derart aufwändige
Freizeitbeschäftigung nicht mehr.
Kurz vor unserem Weihnachtsausflug nach Montebonito sass ich dann
zum zweiten Mal in meinem Leben auf einem Pferd. Wir weilten übers
Wochenende auf einem Gehöft in den Llanos, dem unendlich weiten und
flachen Ostteil Kolumbiens, wo grosse Rinderherden sich satt fressen,
bevor sie später zum Schlachter gefahren und zu Churrasco, Hackfleisch und Würsten verarbeitet werden. Dort in den unwegsamen Sümpfen mit all dem Gestrüpp und
Unterholz war damals das Pferd das einzig mögliche Fortbewegungsmittel. Wäre
ich da nicht mitgegangen, hätte ich mich auch um den krönenden Abschluss unseres Besuchs
gebracht. Angekündigt war nämlich draussen auf dem Feld Fleisch am Spiess, gebraten über dem offenen
Feuer. So schwang ich mich unter Todesverachtung und knurrendem Magen
auf das mir zugewiesene Pferd, wohl wissend, dass da unten im Sumpf
Schlangen auf solche Leute wie mich nur warteten, um mich mit ihrem Gift
zu töten oder mit ihrer Kraft zu erwürgen und mich anschliessend zu
verspeisen. Mir schien dabei das Pferd als sicherer Schutz zwischen
diesen Naturgewalten und mir ein eher schwaches Versprechen zu sein.
Was, wenn das Pferd mich, von einer solchen Schlange aufgescheucht, abwerfen würde? Um mich wäre es glatt geschehen gewesen.
Und nun also zum dritten Mal auf einem Pferderücken. Jede Bewegung
des Tieres verlangt nach einer Gegenbewegung meines Körpers. Bereits der
Gedanke daran verursacht mir heute noch Muskelkater. In Serpentinen
ging es steil hinab und unter überhängenden Felsen durch. Manchmal
rutschten die Pferde auf dem feuchten Stein. Funken sprühten, und dieses
scharfe Kratzgeräusch der Hufeisen auf dem Felsen werde ich meines Lebtags
nie vergessen. Man hörte aber aus nicht allzu weiter Ferne auch das
Schnattern von Gänsen, das Geschrei keifender Frauen, das Klappern von
Geschirr und Pfannen. Das alles musste vom gegenüber liegenden Montebonito herstammen, das sich aber hinter einer tropfenden Nebelwand
verborgen hielt.
Wieso nur haben die Webmasters des Google-Universums dieses Fleckchen
Erde auf ihrer Karte nicht eingetragen? Wurde es in der Zwischenzeit
vielleicht durch eines der vielen Erdbeben vom Kamm geschüttelt und in
die reissenden Fluten unten in der Schlucht geworfen? Oder wurde es von
irgendeiner wahnwitzigen Guerilla-Einheit als strategische
Vorsichtsmassnahme oder Racheakt abgefackelt, wobei die Einwohnerinnen und Einwohner zuvor als Geiseln
genommen und womöglich in einer Massenexekution hingerichtet worden
waren? Dies alles war - leider - damals möglich in dieser Gegend. Was, wenn wir heute in der Erde buddeln und auf die Gebeine all
unserer Gastgeberinnen von damals stossen würden? – Ich erinnere mich noch an
ein Gespräch zwischen unserer Freundin Maria und ihren Verwandten im
Dorf. Sie liessen die Geschehnisse des Jahres Revue passieren, worunter
auch die Rede von einem Cafetero war, der kürzlich umgebracht worden
sei. Anteilnehmend mischte ich mich ein und fragte, was denn der Grund
dafür gewesen sei. Die Antwort war so lapidar wie auch im
kolumbianischen Kontext von damals überzeugend: Er hatte keine Freunde, no tuvo amigos.
Und schon wurde der nächste Klatsch durchgenommen: Ernte-Ergebnisse der
herumliegenden Kaffeeplantagen. Unwetter und Bergrutsche und wie viele
Bauern schon zur Coca-Pflanze gewechselt und sich damit dem Schutzdienst
der Guerilla überverantwortet haben. Dann kamen die Vermählungen, die
frisch Geborenen, die Wechsel von Besitzverhältnissen, Krankheiten,
Vorfälle und Vorhaben in der Gemeinde und weitere Todesfälle zur
Sprache…
Auch wenn es mir schwerfällt es einzugestehen: je näher wir uns nach
steilem Aufstieg auf der anderen Seite der Schlucht zum Dörfchen
gelangten, um so mehr fand ich Gefallen an diesem Pferdetreck. Am
eigenen Leib erlebte ich, wie sich, das Ziel vor Augen, die Angst in
Stolz zu verwandeln begann. Noch auf dem Weg brannte Marias Pferd durch
und musste von ihren Brüdern in einer kühnen Aktion kurz vor dem Abgrund
gestoppt werden. Ich weiss nicht mehr, ob sie dazu ein Lasso geworfen
oder sich mit dem eigenen Pferd dem rasenden Tier kühn in den Weg
gestellt hatten. Doch nach so einem Abenteuer auf dem Sattel geriet für mich der Einmarsch ins Dorf zum
Triumphzug. Ich fühlte mich jetzt als Held und spürte befriedigt die
neugierigen Blicke der Dorfbewohner auf mir ruhen, auch wenn mich das
gutmütige Pferd, im Gegensatz zu demjenigen von Maria, in keinem Augenblick zu einer Heldentat gezwungen hatte.
Wir waren Gast in jedem Haus. Überall standen für uns auf dem Tisch
schön aufgereiht Süsswasser, Bier und Schnaps bereit, und noch bevor wir
am Ende des Dorfes unsere eigene Unterkunft erreichten, hatten wir
schon einen ordentlichen Schwips beisammen.
Ja, so hatte ich mir Kolumbien eigentlich vorgestellt. Ein volles
Leben mit einer Machete am Gürtel und mit Schüssen in die Luft. Mit
Cowboy-Hut und gezwirbeltem Schnurrbart auf einem durchbrennenden Gaul.
Die Lasso-Kunst übend. Leidenschaftlich bis zu den äussersten
Fingerspitzen, euphorisch, kompromisslos. Steile Berge, die sich nur
gefaltet haben, um von ihnen herunterzustürzen. Doch sie belassen einen
beim Wiederaufrappeln die Hoffnung, es das nächste Mal doch noch zu
schaffen und oben zu bleiben. Musik voller rhythmischer Liebessehnsucht
und metaphorischer Poesie. Hier befanden sich Herzlichkeit und
Aggression auf einer Linie und nicht geschichtet wie bei uns. Vor jedem
Haus krabbelten ein Dutzend Kinder zwischen gackernden Hühnern herum,
und hundertjährige, dunkel gewandete und zahnlose Grossmütter, die mit
ihren Kopftüchern wie Vogelscheuchen aussahen, sassen vor den Türen
ihrer Behausungen und häkelten in einem fort…
Mit solchen Bildern vor Augen hatte ich zwei Jahre zuvor meinen
vertrauten Lebensraum der Schweiz verlassen, den ich dafür
verantwortlich gemacht hatte, nicht zu mir selbst finden zu können. Ich
reiste nach Kolumbien mit der ernsthaften Absicht, mich meines schweren
Rucksacks europäischer Neurosen zu entledigen, ihn in eine Schlucht zu
schleudern, mich frei zu fühlen und endlich mich selbst zu sein.
Was soll nur aus mir werden? – Das war mein Leitthema damals. Je
länger aber mein Aufenthalt in Kolumbien dauerte, um so weniger fand ich
auf diese drängende Frage eine Antwort. Ich arbeitete in der dünnen
Luft des Hochlands von Bogotá in einer Buchhandlung, später in einer
Käserei, half bei der Entwicklung eines Armenviertels mit, wo ich Maria
und Merced kennenlernen durfte, machte zusammen mit gestandenen
Ethnologen Ausflüge in den Dschungel, reiste nach Ecuator und Peru, fuhr
den Amazonas hinunter, und in Geldnot verkaufte ich im Nordosten
Brasiliens auf Kommissionsbasis Grzimeks Tierleben in 13 Bänden.
Vor allem aber bemühte ich mich schriftstellerisch, doch es reichte
jeweils nur zu Tagebuchaufzeichnungen, in denen ich mich über meine
Unfähigkeit beklagte, mich glücklich zu fühlen und taugliche Sätze zu
formulieren. Nichts brachte ich auf den Punkt.
Allmählich versank ich in schreckliche Melancholie. Sie zeigte sich
vor dem Hintergrund des vibrierenden Südamerikas in noch gesteigertem
Masse, als ich sie von der ruhigen Schweiz her schon kannte, und die
mich damals ja veranlasst hatte, das Land zu verlassen.
Doch in Lateinamerika ging ich ein wie einen Enzian im Flachland. Ich
schnappte nach Luft, ass kaum noch etwas, die Sehnsucht nach der inneren
Befreiung frass mich förmlich auf. Was soll nur aus mir werden? Ein
seelisch behindertes Wrack? - Erst beim triumphalen Einzug nach Montebonito und nach etlichen Schnäpsen löste sich die innere Spannung und liess mich nicht mehr weiter an all die
Stationen meines Versagens erinnern. Jetzt, zu Weihnachten 1971, wo
meine letzten Tage in Lateinamerika angebrochen waren und ich bereits
das Flugticket zurück nach Europa in der Tasche hatte, jetzt arbeitete
es in meiner inneren Buchhaltung ganz heftig, und unverhofft wurden nach
einer tiefroten Bilanz endlich einmal Gewinne verbucht.
Dabei standen mir immer alle Türen weit offen. Ich hätte mich
mit drei verschiedenen Mädchen verloben können, ich hatte überall
Freunde, die mir Kost und Logis anboten, Einladungen, in diesem Projekt
mitzutun oder dort zu partizipieren. Unvergesslich zum Beispiel die
Fahrt ins Lepradorf Agua de Dios, wo padres aus dem
Salesianer-Orden ihren humanitären Dienst taten und eine Schule für die
Dorfjugend unterhielten. Bei unserem Besuch ging es um die Erstellung
einer Wasserfassung, wobei das Überlaufbecken so ausgestaltet werden
sollte, dass es auch als Schwimmbecken benutzt werden konnte. Architekt
Fredi Habermacher, oder Don Alfredo, wie er sich von den
Einheimischen gerne anreden liess, war dorthin im Auftrag einer
Entwicklungshilfe-Organisation unterwegs. Ich durfte ihn zu diesem
Ortstermin begleiten.
Wäre ich doch nur dortgeblieben! Zu unserem Empfang sang die
Schülerschar in ihrer adretten Schuluniform und mit gellender Stimme den
Schlager Macondo. Dabei schwang die Soutane des dirigierenden
Pater Vargas in einem Rhythmus, wie ich diese Bewegung von den langen
Gewändern der Waggis an der Basler Fasnacht her kannte, wenn sie mit
Trommeln und Pfeifen im Gleichschritt durch die Gassen der Altstadt
marschieren. Mein Herz trat über. Ich liebte sie alle, diese Mädchen und
Buben mit ihren grossen, staunenden Augen, mit ihrem pechschwarzen,
glänzenden Haar und mit ihrer verführerisch samtenen Haut. Kinder von
Lepra-Kranken? Ich weiss es nicht, ich fühlte mich einfach im
Paradies. Das klösterliche Essen am Mittag schmeckte exzellent und war
reichhaltig. Wein gab es auch. Und die Gebete hielt ich für die Würze
Gottes, die das Aufgetragene noch besser munden liessen. Wieso nur
schlug ich das Angebot der padres, dort zu bleiben und an diesem Werk der Nächstenliebe mitzuwirken, aus?
Es gab viele solcher Momente spontaner Angebote für eine Beheimatung,
viele Möglichkeiten, sich auf die reichhaltigen Geschenke dieses
Kontinents einzulassen, einzutauchen in eine Welt, wo ich mich hätte
leicht fühlen können, im Hier und Jetzt. Muss ich sie alle, zur eigenen
Qual, noch einmal auflisten? Muss ich heute, nach 40 Jahren, in meinen
Tagebüchern nachlesen, wie wenig nachhaltig ich mich damals verhalten
und was ich alles verpasst habe, weil ich offenbar auf der Suche war
nach etwas, das gar nicht zu finden war?
Der Zwang zur Befreiung von meinen Fesseln wurde zum unüberwindbaren
Hindernis. Meine prinzipielle Verweigerung, vom gedeckten Tisch zu
kosten, begann krankhafte Ausmasse anzunehmen. Mit der Zeit kam mir als
einziges nur noch der Gedanke, lieber als Versager wieder nach Europa
zurückzukehren, als mich unfähig zu erweisen, hier etwas Nützliches anzufangen. Lieber machte ich ein zweites Mal meine Herkunft dafür
verantwortlich, nicht derjenige zu sein, den ich eigentlich sein wollte,
als auszuprobieren, wer ich denn sonst noch hätte sein können.
Cecilia zum Beispiel. Cartagena im Sommer 1971. Ich verbrachte mit
Carlos, meinem besten Freund aus der Buchhandlung, ein paar erholsame
Tage am Meer. Wir beide hatten kaum Geld, doch Carlos kannte billige
Absteigen an der Calle de la Media Luna im Stadtteil Getsemani. Die Halbmond-Strasse war damals
auch das Halbwelt-Quartier der Stadt, wo Mädchen auf der Strasse
standen und mit ihren tiefen Ausschnitten und hohen Stöckelschuhen
Männer in ihre Séparées zu locken versuchten. Carlos hielt vor einer
Apotheke und hiess mich warten. Einige Augenblicke später kam er aus dem
Geschäft und streckte mir eine Handvoll Kondome entgegen. Damit ich
mich schütze, sagte er diskret, und liess mich allein meines Weges
ziehen, während er behauptete, zurück in unsere Pension zu gehen, um
sein Buch, Erich Fromms Die Kunst des Liebens, El Arte de Amar,
zu Ende zu lesen. Ein Bestseller damals. In der Buchhandlung verkauften wir täglich einige
Dutzend Exemplare davon. Ich aber hatte mir geschworen, nie darin auch
nur eine Seite zu lesen, es wäre mir vermutlich zu nahe gegangen. Die
Kundschaft bestand fast ausschliesslich aus Frauen mittleren Alters mit
Panik in den Augen, die sie mit einem verklärten Blick zu übertünchen
versuchten. Sie alle befanden sich vermutlich gerade an einer Wegscheide
ihres Lebens. Entweder drohte der Partner sie zu verlassen, oder sie
waren daran, unter Vermeidung all ihrer früher begangenen Fehler eine neue
Beziehung aufzubauen. Diesmal systematisch. Da kam ihnen ein solches Büchlein gerade zupass.
Ich glaube, Carlos hingegen las es aus professionellem
Interesse eines engagierten Buchhändlers, eine Freundin hatte er zur
damaligen Zeit nicht…
Plötzlich befand ich mich also allein in diesem heissen Cartagena,
mit Kondomen in der Hand, und streifte durch die Halbmondstrasse, als gringo
leicht erkennbar, als Ausländer oder Amerikaner also, angeblich mit
Geld und schlechten Manieren. Aufgedonnert, wie sie waren, stürzten sich
die Mädchen mit lärmigen Trippelschrittchen von allen Seiten auf mich zu,
zupften mich am Ärmel, zogen mich hierhin und dorthin und bekamen deswegen untereinander Streit. Ich hätte mich in diesem Moment nicht
gewundert, wenn ich wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses sofort
festgenommen, befragt und erst gegen eine satte Kaution wieder
freigelassen worden wäre. Doch nichts dergleichen geschah. Die Mädchen
kreischten in einem fort und versuchten sich bei mir mit ihren
körperlichen Vorzügen gegenseitig auszustechen. Die süsslichen und
billig wirkenden Parfum-Düfte, die sie verströmten, betäubten mich
förmlich, und fluchtartig versuchte ich dem angedrohten Kidnapping zu
entrinnen.
Dort hinten aber stand eine junge, sympathische Frau, die mich
lediglich mit grossen Augen ansah. Sie
beteiligte sich nicht am Gekreisch um mich. Sie wartete bloss und bot sich stumm als Retterin meiner misslichen Lage an. Ich lenkte hilfesuchend meine Schritte auf sie zu, und sie lächelte aufmunternd zurück. Ich folgte ihr, und sie zog mich in einen Hauseingang hinein, wo es dunkel war und kühl. Wir
gelangten durch verschiedene Patios an kochenden Müttern und quengeligen
Kindern vorbei in eine bescheidene Absteige mit einem raumfüllenden
Bett mit nicht mehr ganz sauberen Laken. An der Wand klebten
verschmierte Überreste einer Tapete, und über dem Kopfende des Bettes
hing ein Bild der Jungfrau Maria und ein Kruzifix. Die schäbigen Wände
verloren sich im Dunkel des Dachgestühls. Von dort oben, wo bestimmt
Dutzende von Fledermäusen der nächsten Nacht entgegendösten, hätte man
wohl Einblick in die anderen Zimmer des Hauses haben können – eine wunderbare
Totale für einen Pornofilm, so schoss es mir durch den Kopf. Wir aber
sprachen noch immer kein Wort. Wir küssten uns und küssten uns nach
einer Weile heftiger, und irgendwann lagen wir nackt auf ihrem Bett, und
ich versuchte vorsichtig in sie zu dringen. Immer noch fiel kein
Wort und erst später, sehr viel später, sagte sie, indem sie mir
den Arm streichelte und den Nacken kraulte, me llamo Cecilia, ich
heisse Cecilia. Und ich antwortete, immer noch erschöpft, dass ich
Nicolas heisse, und dann verging wieder eine lange Zeit des vertrauten
Beisammenseins, bis wir weitere Informationen auszutauschen begannen.
Irgendwann kam mir in den Sinn, dass ich mir ein Kondom hätte
überstreifen müssen, und dann kam mir auch noch in den Sinn, dass ich
ausser ein paar Pesos gar kein Geld auf mir trug. Mache alles nichts,
bedeutete Cecilia mir, ich solle doch einfach wieder kommen, und wenn
ich dann ein regalito, ein Geschenklein, bei mir hätte, so würde es sie freuen.
Bezaubert machte ich mich auf den Rückweg, nur einige Schritte bis zu
unserer Pension auf der anderen Strassenseite. Es war schon dunkel und
Carlos wartete bereits auf mich. Er hatte Hunger und wollte mit mir
essen gehen. Kein Wort über mein Abenteuer. Er hingegen hatte in der
Zwischenzeit die Kunst des Liebens fertig gelesen…
In diesen Tagen von Cartagena war ich öfters bei Cecilia, und
jedes Mal verpasste ich den Moment, mir ein Kondom überzustreifen.
Cecilia war es recht, denn sie war sich solche Männer gewohnt, und ein
Kind von einem Gringo würde doch all ihre Träume übertreffen.
Mittlerweile wusste ich ihre Familiengeschichte, aber eigentlich
beschäftigte es mich mehr, was ich machen würde, wenn sie mir eine
Geschlechtskrankheit angehängt hätte.
Diese Frage besetzte mich mehr als die Chance, mit meinem Samen einem
jungen Wesen auf den Weg geholfen und den Keim zu einer
Familiengeschichte gelegt zu haben, die mir ein ganzes Engagement
abverlangt und mich in eine schicksalshafte Verstrickung von
Kinderwiegen, von Sorgen, Last und Not ums Brot eingebunden hätte.
Was ich in Montebonito noch nicht ahnte: Zwanzig Jahre später suchte
ich, vom Gewissen geplagt, Cartagena abermals auf. Insgeheim hatte ich
den Plan, Cecilia zu finden und mein bereits erwachsenes Kind in die
Arme zu nehmen und es an den besten Universitäten dieser Welt ausbilden
zu lassen. Die Calle de la Media Luna sah immer noch so aus wie damals,
nur dass dort in der Zwischenzeit die meisten Häuser durch reiche
Heimweh-Kolumbianer und Drogenbosse aufgekauft worden sind und einen
neuen Anstrich bekommen hatten. Mittlerweile war die ganze Altstadt zu
einem UNESCO-Weltkulturerbe aufgestiegen und sah entsprechend
herausgepützelt aus. Leichte Mädchen waren in diesem Quartier kaum mehr
anzutreffen, und Cecilia fand ich natürlich auch nicht. Hätte ich überhaupt
noch gewusst, wie sie aussah? Braune Haut, schwarze Haare, volle Lippen,
staunende Augen, süsses Lächeln, eher pummelig, pralle Brüste und
Lenden – sah dort nicht jede zweite junge Frau so aus? Vielleicht hätte
Cecilia heutzutage graue Strähnen, die sie sich regelmässig aus dem
verschwitzten Gesicht streift, sähe verhärmt aus, denn vermutlich musste
sie schwer arbeiten, in einer staubigen Bäckerei vielleicht, um ihre
Kinder aufzuziehen, bei all diesen Vätern, die ihr eines angehängt hatten
und danach verschwunden sind. Resigniert gab ich nach einer Weile die
Suche auf. Dafür begegnete ich einem halbwüchsigen Jungen, einem Schuhputzer, der mich vor allen anderen Schuhputzern in der Gegend
warnte. Diese würden versuchen, meine Schuhe zunächst mit stinkigem
Hundedreck zu beschmutzen, um sich anschliessend anzuerbieten, sie
wieder sauber zu machen. Er jedoch, Terri, sei ehrlich und ein armer Tropf. Er
öffnete darauf sein zerschlissenes Hemd und zeigte mir die Narbe eines
Schnittes, der von der Kehle bis fast zum Bauchnabel reichte. Ich war
entsetzt. Wie konnte es so weit kommen, fragte ich ihn. Und dann
erzählte er mir seine Geschichte. Er wuchs in Medellín auf und ging dort
auch ein halbes Jahr zur Schule. Lesen und schreiben aber hätte er sich später selbst beigebracht. Seine Mutter, eine Alkoholikerin,
schlug ihn regelmässig windelweich. Sie beauftragte ihn jeweils, das
Essen zusammenzubetteln, was nichts anderes bedeutete als
zusammenzustehlen. Eines Abends kam Mutter mit einem neuen Liebhaber
nach Hause und behauptete, es hätte jetzt keinen Platz mehr für ihn, den
Sohn. Das jedoch kam Terri gerade recht, und er schloss sich darauf einer Gang
an und übernachtete von nun an auf der Strasse. Dort allerdings wollte
man ihn eines Nachts betäuben und die paar Pesos, die er auf sich trug,
wegnehmen. Da hätte er sich gewehrt, worauf die anderen das Messer
gezückt und ihn damit ohne Vorwarnung quer über die Brust aufschlitzten.
Blutend rannte er zur nahen Kirche und suchte bei den padres
Schutz. Diese verarzteten ihn und empfahlen, die Stadt zu verlassen. So
sei er nach Tagen durch den Urwald und als blinder Passagier auf
Ladebrücken von Camions nach Cartagena gelangt und meide seither den
Kontakt zu den anderen Jungs auf der Strasse.
Terri hatte rotblonde Haare, blaue Augen
und mochte etwa 16 Jahre alt sein. Zu jung zwar für meinen möglichen
Sohn, aber immerhin. Ich führte ihn zu einer Imbissbude, wo ihm der
Einlass verwehrt wurde. Strassenkinder würden nicht bedient, meinte der
Mann hinter der Theke, worauf ich laut wurde. Terri wählte darauf einen
Hamburger mit Käse, Pommes-frites und eine Cola. Er hätte sowas zuvor
noch nie gegessen, sagte er, aber er hätte jeweils von draussen die
Leute beobachtet, wie sie es bestellten. Als wir bezahlt und uns mit dem
Essen auf dem Tablett auf eine festgeschraubte Bank an einen
festgeschraubten Tisch gesetzt hatten, brachte Terri kaum einen Bissen
runter. Es wurde ihm schlecht, und er musste sich übergeben. Ich rettete
das, was noch zu retten war, und verlangte nach einer Tüte. Der Mann
hinter der Theke konnte sich dabei die Bemerkung nicht verkneifen, dass ich
jetzt wohl wüsste, weshalb sie keine Strassenkinder bedienen würden.
Draussen überreichte ich Terri die Tüte mit den Resten. Wir
verabschiedeten uns. Seither habe ich ihn nie mehr gesehen und auch
nichts mehr von ihm gehört.
Weihnachten in Montebonito mit dem Entschluss, nach Europa
zurückzukehren: ich weiss nicht mehr genau, was dazu den Ausschlag gab. Wahrscheinlich eine Ansammlung von immer wiederkehrenden, bedrängenden Gefühlen des Versagens. Und
wenn ich dann zurück in der Schweiz sein würde, so würde ich mich zum Lehrer ausbilden
lassen und unterrichten. So hatte ich es mir vorgenommen. Es ist mir aus
heutiger Optik schleierhaft, wie ich zu einem solchen Berufsziel kommen
konnte. Vielleicht war es der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel,
dessen Milchmann mich damals nachhaltig beeindruckt hatte.
Bichsel lebte seiner Leserschaft vor, wie man neben dem Brotberuf eines
Lehrers immer noch über genügend Zeit verfügte, sich schreibend zu
betätigen. Und ganz hatte ich ja die Hoffnung nicht aufgegeben, dereinst
doch noch schreibenderweise mein Leben zu bewältigen.
Ja Herrschaft, in diesem Südamerika hätte ich weiss Gott genug Zeit
zum Schreiben gehabt. Dafür hätte ich nicht erst Lehrer zu werden
brauchen. Ich hätte in der Zeit, in der ich in Kolumbien weilte, in
aller Ruhe zehn Romane und Theaterstücke verfassen können, soviel Zeit
hatte ich.
Der Entschluss, zurückzukehren, barg wenigstens das befreiende
Eingeständnis in sich, das die Schande des Versagens halbwegs aufwog:
offenbar war ich nicht geschaffen für eine weiterführende Existenz weit
weg von meiner ursprünglichen Heimat. Aber ich zweifelte natürlich, ob
ich, zurück in der alten Heimat, plötzlich zu machen imstande gewesen
wäre, was mir in der Fremde auch nicht gelang. Es gab schliesslich
einen Grund, weshalb ich mich damals auf den Weg gemacht hatte und
fortging, wie es denselben Grund gab, wieder zurückzukehren, ohne dass
sich bei mir in der Zwischenzeit irgend etwas Grundlegendes verändert
hätte.
Dabei hatte alles so gut angefangen. Kaum in Bogotá angekommen, nahm ich Kontakt mit Jaime auf, den ich auf der Donizetti, einem italienischen Auswandererschiff, kennengelernt
hatte. Wir beide hatten eine Schiffspassage von Genua nach La Guaira,
dem Hafen von Venezuelas Hauptstadt Caracas, gebucht. Er hatte in
Belgien Recht studiert und befand sich auf dem Rückweg nach Kolumbien.
Auf dem Schiff erzählte er mir, in die väterliche
Kanzlei einsteigen zu wollen und später eventuell in die Politik zu gehen. Als
ich, später als er, in Bogotá eintraf, kümmerte er sich rührend um mich, indem er mich zu seiner Familie einlud, in der Zeitung El Tiempo die
Zimmerangebote durchkämmte und mich auf meiner Suche nach einer
Unterkunft begleitete. Schliesslich gelangten wir zu einem stattlichen Haus in
einem ruhigen Wohnquartier auf der Höhe der 48. Strasse unterhalb der
14. Carrera. Eine attraktive, zierliche Frau öffnete uns die Tür. Im
Hintergrund lärmten Kinder. Möbel im Haus gab es keine. Alles war leer.
In den Räumen des Erdgeschosses lagen bloss ein paar Matratzen herum.
Der einzige Tisch des Hauses mit ein paar Stühlen stand in der Küche. Im
Obergeschoss, wohin ich geführt wurde, war auch alles leer. Ich konnte
mir ein Zimmer aussuchen, musste mir aber noch ein Bett mit Bettzeug,
eine Matratze, einen Tisch und einen Stuhl erstehen. Kein Problem, sagte Jaime, er
würde mich gerne zu den Strassen führen, wo solche Dinge günstig zu
kaufen seien. Also mietete ich das Zimmer, machte eine Anzahlung und zog
ein.
Zur selben Zeit nahm ich meine Arbeit in der Buchhandlung Buchholz
in Chapinero auf. Die Zeichen schienen mir günstig. Ich befreundete
mich in kürzester Zeit mit vielen wertvollen Menschen an, und ich
gelangte zur Überzeugung, ein Land, das einen derart schlechten Ruf
geniesst wie Kolumbien, das geprägt war von einem bereits jahrzehntelang
dauernden Bürgerkrieg und dominiert wurde von der mächtigsten
Drogenmafia dieser Welt, ein Land, das andauernd bedroht war von Armut, Hunger,
Korruption und überforderten Institutionen, ein solches Land bringe im
Gegenzug dazu besonders freundliche und zuvorkommende Menschen hervor.
Ich erlebte ein Wochen andauerndes, euphorisches Glücksgefühl, das mir
insofern zum Verhängnis wurde, als ich alles, was mir später an Schönem
oder weniger Schönem widerfuhr, daran gemessen habe – mit erschütternden
Ergebnissen natürlich.
Meine Wirtin hiess Aida. Sie hatte drei Kinder, zwei Buben und ein
Mädchen. Von Anbeginn klebten diese an mir. Ich war für sie der Onkel
Nicolas, der tio, sie schenkten mir täglich neue Zeichnungen und
forderten mich auf, sie in den Lunapark zu begleiten. Ihre Mutter hatte den Kindsvater in Venezuela zurückgelassen, der in Caracas eine Fernsehstation betrieb und sich mit einer anderen Frau liiert hatte, während Aida jetzt allein für die Kleinen aufkam. Aida wiederum lebte in wilder Ehe mit dem
Schriftsteller Hector Sanchez zusammen, einem damals bildhübschen Mann, den man eher als Fotomodell für Herrenunterwäsche oder für ein Aftershave vermutete, denn als Literat. Er war tagsüber abwesend und verdiente wohl etwas
Geld, abends jedoch hämmerte er seine Geschichten in die Schreibmaschine
auf dem Küchentisch, dort, wo gleichzeitig auch die Suppe serviert wurde. Und
immer wieder las er Aida und den Kleinen daraus vor. Ich hörte den
familiären Geräuschen vom ersten Stock aus zu und zählte mich zu den
allergrössten Glückspilzen, die es auf dieser Erde nur geben konnte.
Sein Schreibmaschinen-Geklapper animierte mich selbst zu
schriftstellerischen Versuchen. Auch wenn ich vom langen Stehen in der
Buchhandlung und von den unterschiedlichsten Wünschen der Kunden müde
war, setzte ich mich jeweils spätabends noch an meinen kleinen Holztisch
und versuchte, Sätze zu Papier zu bringen. Damals festigte sich in mir die
Überzeugung, mich schreibenderweise aus meiner Verpuppung zu befreien.
Eines Tages jedoch, ich befand mich wohl bereits auf Seite 30 meiner
ersten Novelle, klopfte es an der Tür. Aida trat ein, die Kinder im
Schlepptau. Mit Tränen in den Augen übergab sie mir ein handschriftlich schwungvoll
verfasstes Schreiben, das besagte, die Familie könne sich leider dieses
Haus nicht mehr länger leisten. Deshalb müsse ich binnen zweier Tage
ausziehen. Zum Schluss dankte sie mir noch für das schöne, wenn auch nur
kurze Zusammenleben unter einem gemeinsamen Dach und wünschte mir für
meine Zukunft alles Gute.
Nach einer schlaflosen Nacht und einem emotionalen und von vielen
Umarmungen geprägten Abschied von den Kindern tags darauf, die mir
nochmals neue Zeichnungen mit auf den Weg gaben, durfte ich immerhin
feststellen, dass sich mein frisch gewobenes Netzwerk als tragfähig
erwies. Ich fand sofort eine neue Unterkunft. Mal schlüpfte hier unter, mal dort. Doch
irgendwie war es von nun an anders. Dieses gleichsam romantische Werden
einer Dichterexistenz, das wie geschaffen gewesen wäre für den Anfang
einer Biografie eines nachmalig berühmten Schriftstellers, bekam einen
empfindlichen Dämpfer. Weder schrieb ich den angefangenen Text zu Ende,
noch fand ich je wieder die Bedingungen, die ich offenbar fürs
literarische Schreiben gebraucht hätte. Von jetzt weg schlugen sich
einzig meine Klagelieder in den unzähligen Tagebüchern nieder, eine
Auflistung all meiner Unfähigkeiten, vor deren Lektüre ich mich jetzt
noch, 40 Jahre später, herumdrücke, die damals aber dazu beitrugen, dass bei
mir irgendwann der Entschluss reifte, nach Europa zurückzukehren.
Trotz Übermüdung von der Anreise und trotz meines Schwipses dort
oben auf der Krete von Montebonito durfte ich mich im Haus meiner Gastgeber nicht ins Bett fallen lassen
und mich ausruhen. Man wollte mir keine Gelegenheit geben, jetzt zum Schluss meines
Kolumbien-Abenteuers in aller Ruhe Bilanz zu ziehen. Marias Verwandte
forderten meine ganze Gegenwart. Also zog ich mir die Schuhe wieder an
und stieg nach unten. Der Plattenspieler wurde angeworfen, die ersten
Cumbias ertönten und forderten zum Tanz auf. Das ganze Stromnetz des
Dörfchens hing an einem einzigen Generator. Er befand sich am Ende der
Strasse und lief nicht sehr regelmässig. Manchmal flackerten die Lampen
im Zimmer hell auf und blendeten uns, um bald darauf den Raum wieder in
schummriges Licht zu tauchen, auf und ab. Je nach Spannung lief
der Plattenteller einmal schneller und einmal langsamer und verursachte
andauernd glissandi und accelerandi und ritardandi in den unterschiedlichsten, schwebend wechselnden Tonarten,
was von uns Tänzern einiges an Geschick abforderte, um nicht aus dem
Takt zu fallen. Das Mitsingen populärer Lieder geriet so zum
Wolfsgeheul. Als Besucher konnten wir darüber herzlich lachen, doch nicht zu
laut, hätte es doch leicht als Auslachen missverstanden werden können, denn die Menschen von Montebonito hätten darob vielleicht das Gesicht verlieren können und wären
auf uns böse geworden. Dabei war es – unter anderem – gerade diese
lächerliche Qualität der Stromanlage, welche Weihnachten zu dem werden
liess, was mir bis heute als eines der schönsten und intensivsten Feste
meines Lebens in Erinnerung bleibt.
Von unserem Aufenthalt in Erinnerung geblieben ist mir auch die
Atemlosigkeit, in welcher sich dieses weihnachtliche Geschehen vollzog.
Kaum hatten wir uns im einen Hause niedergelassen, wurden wir ins
nächste gerufen. Und auch dort gab es Selbstgebratenes, Gebäcke,
Gekochtes und Getränke bis zum Umfallen. Und wieder schwangen wir das
Tanzbein, bis unser Wohlbefinden die Einladung ins nächste Haus
provozierte. Wir befanden uns in einem Wettbewerb, konstatierte ich
plötzlich. Welches Haus konnte uns am längsten behalten? Je länger wir
blieben, um so grösser der Druck, aufzubrechen und weiterzuziehen. Ich
konnte schon von Beginn weg nicht mehr. Doch ich musste. Und je mehr
ich vor lauter Erschöpfung nicht mehr in der Lage war, einen weiteren
Besuch abzulehnen, umso mehr steigerte ich mich in einen tranceartigen
Zustand, der einzig von gelegentlichen Gängen aufs Klosett unterbrochen
wurde. Auf dem Weg dorthin befand ich mich dann plötzlich in
Gesellschaft der einen oder anderen jungen Frau, die mich unbedingt
begleiten wollte. Mehr als einmal wurde mir geholfen, den Reisverschluss
meiner Hosen zu öffnen. Könnte es sein, dass ich einmal in meiner Not
sogar in den Rachen einer Begleiterin urinierte? Alles floss. Und wenn
ich mich dann, allein und mit sturmem Kopf, doch noch auf die Klobrille
setzen durfte, schienen mir alle Hemmnisse und Vorbehalte, die sich
während meiner Südamerika-Zeit angestaut hatten, den Hang hinunterzuplumpsen. In Montebonito entledigte ich mich endlich meines schweren Rucksacks an Bedenken und Versagensängsten auf natürlichste Weise.
Zurück vom Klo, wurde alles noch heftiger und wilder und verwandelte
sich allmählich zu dem, wozu ich ursprünglich die Reise auf der
Donizetti unternommen hatte. Nicht das Schreiben als wünschbare Existenz
oder die Beschreibung einer Story trieben mich in die neue Welt,
sondern der Wunsch, in eine Welt einzutauchen, die mich die Last meines
Ungenügens vergessen machte.
Ich war nicht der einzige Europäer. Im elften oder zwölften Haus
wurden wir einem Franzosen vorgestellt, der hier Sprachforschung
betrieb. Er sass hinter der üblichen Batterie von Süsswassern, Bieren
und Schnaps und schaute uns mit glänzenden Äuglein durch seine runden dicken Brillengläser an. Er hiess Professor Barbu, Claude Barbu. Offenbar
kam er seit Jahren um die Weihnachtszeit ins Dorf und untersuchte den
Wandel des lokalen Sprachgebrauchs unter dem Einfluss der Heimkehrer,
die jeweils mit neuen Ausdrücken, modernen Denkmustern und trendigen
Wendungen aus den Städten den lokalen Sprachschatz bereicherten. Seine
Frage lautete: Was bleibt kleben? Was wird übernommen, was abgestossen?
Gleichzeitig interessierte ihn aber auch, was an Lokalem in die grossen
Städte getragen wurde. Deshalb weilte er, wie ich später erfuhr, einen
Teil des Jahres auch in Bogotá, und plötzlich konnte ich mich schwach
daran erinnern, dieser Person einmal in unserer Buchhandlung begegnet zu
sein. Ich machte ihm aber offenbar keinen kompetenten Eindruck, denn er
erkundigte sich nach dem Chef, der allein ihm erschöpfend Auskunft
geben konnte über die Bestände in der linguistischen Sektion.
Als er hier auf dem Berg, selbst schon flott alkoholisiert, unser
ansichtig wurde, versuchte er umständlich, hinter dem Tisch aufzustehen.
Dabei fiel ihm aber die ganze Getränkebatterie vom Tisch. Sie
zerschellte auf den Holzboden und verursachte eine rasch sich
ausbreitende Pfütze aus Cola, Fanta, Schnaps und Bier, in welcher viele
scharfkantige Scherben herumschwammen. Statt sich aber zerknirscht zu
zeigen und sich zu entschuldigen, fragte er gleich alle Anwesenden, wie
man dem jetzt sage, diesem See, diesem Vorkommnis, dieser Situation, und
er verwickelte uns alle in ein äusserst anregendes Linguistik-Seminar,
bei welchem sich die Schuldfrage angesichts der vielfältigen
Beschreibungsmöglichkeiten eines solchen Vorfalls allmählich im
vorherrschenden Geruch aus Schnaps und Bier auflöste. Leider bekam ich
wegen meinen immer noch beschränkten Spanisch-Kenntnissen nur die Hälfte
mit. Die Hausherrin jedoch putzte später den Scherbensee auf und schnitt sich
dabei in den Finger. Kein Pflaster im Haus. Ich jedoch hatte in meinem
Gepäck einen Notverband, wankte in unsere Absteige hinüber und punktete
so als betrunkener Samariter.
Als ruchbar wurde, dass ich über einen kleinen Verbandkasten
verfügte, stellte ich ein Anschwellen von Verletzungsfällen fest.
Plötzlich hatte ich mit zittriger Hand laufend zu tun, wobei mein
schmerzfreies Desinfektionsmittel die grösste Aufmerksamkeit auf sich
zog. Offenbar benützte man im Ambulatorium von Montebonito, das über
Weihnachten geschlossen war, noch das auf der Wunde brennende Jod, was
Merced den Kopf schütteln liess. Sie versprach Maria umgehend, dafür zu
sorgen, dass das Dorf von nun an mit Wunddesinfektionsmittel versorgt
würde, das auf der offenen Haut nicht mehr brennt.
Professor Barbu fand den Unterschied zwischen brennendem Jod und moderneren Desinfektionsmitteln sehr interessant, denn er führe
vor Augen, wie Innovation seine Verbreitung finde: Jod werde zur
Vermeidung von Schmerzen durch Merfen ersetzt, allerdings erst unter
Mitwirkung der Aufschreie der Betroffenen und des Mitleids Aussenstehender. Ich gab darauf zu bedenken,
dass die Verantwortlichen des Ambulatoriums vielleicht sehr wohl über
schmerzfreies Merfen verfügten, aus pädagogischen Gründen aber Jod
applizierten, um zu verhindern, von allzu vielen Hilfesuchenden
konsultiert zu werden. Die Angst vor brennendem Jod könnte zu
sorgfältigerem Arbeiten und zur Vermeidung von Schnittwunden führen.
Damit war die Debatte aber noch lange nicht zu Ende. Barbu meinte,
Schnittwunden würden wegen des brennenden Jods unbehandelt gelassen, was
eitrige Wunden zur Folge haben könne…
Meine Trance hielt an, sie wurde immer schön alimentiert mit
Nachschub von Schnaps und Bier. Auch Merced war längst nicht mehr die
fromme Merced, wie ich sie kannte, sondern ein keckes, kicherndes, ja
quietschendes Häschen, das sich auf den Knien bulliger Cowboys und Kaffeebauern mit ihren
Schnurrbärten, rot angelaufenen Nasen und tränenden Augen bequem
machte. Ich tanzte bis zum Umfallen, versuchte aber doch noch
kontrolliert zu wirken, was zur Folge hatte, dass man mich mit noch mehr
Alkohol abzufüllen trachtete, um mich annähernd in den Zustand der
anderen zu bringen, der Schnapsleichen also, welche mehr und mehr Montebonitos Gasse säumten.
Was für ein Unterschied zu diesen vielen Lungenzügen mit Marijuana,
welches ich während meines Südamerika-Aufenthaltes bei
unterschiedlichsten Gelegenheiten angeboten bekam. Diese bewirkten bei
mir immer eine Scheibe, verstärkten mein Leiden, meine Distanz zu den
anderen. Klar, Johannes Brahms unter dem Einfluss von Gras zu hören, wie
ich dies am Tota-See viele Male tat, war ein besonderes Erlebnis. Noch
nie hörte ich die Bass-Linien seiner Symphonien so deutlich heraus wie
dort, und die Musik wollte nie enden und gewährte mir so Einblicke in die
Ewigkeit. Klar, auch eine Schiffsfahrt auf dem Amazonas mit dem Genuss handgedrehter Raketen hatte ihren besonderen Reiz. Wie sich die Wolken
am Himmel bewegten, wie sich asynchron dazu der Horizont verschob, wie
die Strömung des Flusslaufes mit der Bugwelle des Lord Kelvin, unseres Schiffes, interferierten, wie ich in meiner schaukelnden Hängematte all
diese Bewegungen nicht mehr zusammenbringen vermochte und mich vielmehr
in einem verrückten Dampfhaus zu befinden meinte, wo sich Millionen von
Wasserstoffmolekülen, in Kohorten zusammengefügt, einen andauernden
Kampf um Position und Strömung lieferten! Und jedes Steak schmeckte,
selbst wenn es zäh war wie Leder, grandios und wunderbar und veranlasste
mich zu andauerndem Kichern.
Doch in einem solchen Zustand nahm ich die Leute um mich herum nur
noch aus der Ferne wahr. Ich hatte kein Bedürfnis mehr nach Kommunikation,
vergrub mich vielmehr in meinen eigenen Empfindungen, von denen ich
bestenfalls später berichten konnte.
In Montebonito jedoch schob sich keine Milchglasscheibe zwischen mich
und den anderen. Ich war da, besoffen zwar, schwer von Begriff und noch
schwereren Schritts, aber ich war Teil eines grösseren Geschehens, ich
konnte lallen und wurde gehört. Und ich hörte das Lallen der anderen
und meinte zu verstehen, was sie sagten. Versuchte ich mich zurückzuziehen, so wurde mir schwindlig. Also blieb ich unter den Leuten. Sie
gaben mir Halt, und wenn mich jemand fürsorglich oder geil begleitete,
was hier keinen Unterschied mehr ausmachte, so nahm ich das gerne an.
Allmählich verwandelte sich Montebonito zu einer Bühne, zum
Dorftheater, das verrückte Weihnachten spielte. Und wie zu jedem Schwank
gehörten auch dort oben auf der Krete Irrungen und Wirrungen dazu, die sich gegen Ende des
Stückes wieder in Minne auflösten. Professor Barbu, so stellte sich
heraus, war sehr an Maria interessiert. So ein hübsches Mädchen, flüsterte er mir auf Deutsch mit französischem Akzent zu, damit sie es nicht verstehen konnte. Ob sie denn meine Freundin sei?
Unsicher, wie ich darauf antworten sollte, um nicht Komplikationen
heraufzubeschwören, rief ich fragend durch die ganze Stube, damit es
alle hören konnten Maria, eres mi novia?, bist du meine Braut? Und sie antwortete komplizenhaft si claro soy!, natürlich,
bin ich! Sie schien das Ansinnen des Professors und meine tollpatschige
Frage durchschaut zu haben und machte sich einen Spass daraus, sich mit
einer kecken Behauptung vor dem alten Knacker zu schützen. Alsogleich
wusste es auch das ganze Dorf, wer Marias neuer Freund sei, und in einer
Welle von Begeisterung wurden wir beide als künftiges Brautpaar
gefeiert. Noch mehr Schnaps wurde aufgefahren, bis Maria dann, im
Morgengrauen des nächsten Tages, mit der Wahrheit herausrückte. Ich sei
nur ein guter Freund von ihr, meinte sie und enttäuschte damit alle,
ausser den Professor natürlich, der sich sofort neue Hoffnungen machte.
Auch ich war ein bisschen enttäuscht. Denn in dieser Nacht wuchs in
mir plötzlich die Vorstellung, wie das wäre, wenn ich doch der
Bräutigam von Maria wäre, dieser gescheiten Frau, mit der es sich so gut
auskommen und zusammen feiern liess. Schliesslich hatten wir schon
einiges miteinander erlebt. Ich hatte sie in meiner Freizeit öfters in
ihrer Schule besucht, wurde dort leidlich akzeptiert als ihr Begleiter.
Ich war dabei, als sie einmal zu einem Kurpfuscher musste, um die Frucht
einer Vergewaltigung abzutreiben. Ich war dabei, als sie nur einige
Monate später ins Spital eingeliefert wurde, weil Verdacht auf
Gebärmutterhalskrebs bestand. Und doch, irgendwie schien mein
vorläufiges Dasein auf sie als Barriere zu wirken, unwürdig einer Braut,
die von einem Mann mehr als nur ein Provisorium erwartete.
Irgendwann mussten wir alle dann doch noch den Weg ins Bett gefunden
haben. Ich konnte mich allerdings nicht flachlegen, sonst wäre ich nach
hinten weggerutscht und hätte mich nur noch übergeben. So blieb ich
torkelnd auf dem Bettrand sitzen, unfähig eines Gedankens und doch so
luzid, mir des besonderen Augenblicks gewahr zu sein. Irgendwie befand
ich mich in einer Mischung aus Dankbarkeit und Staunen, und zu meiner
nicht geringen Überraschung fiel mir dazu das Eichendorff-Gedicht ein,
das ich Monate zuvor in einer Sammlung Deutscher Lieder im Bücherregal
deutscher Texte unserer Buchhandlung entdeckt und in mein Tagebuch
kopiert hatte: Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in
die weite Welt, dem will er seine Wunder weisen in Berg und Wald und
Strom und Feld. Weiter wusste ich in diesem Montebonito nicht
auswendig, aber es genügte, um in mir plötzlich einer gewissen
Gottesnähe, oder wenigstens der Gewissheit, dass alles richtig ist, wie
es ist, bewusst zu werden.
Das erhabene Gefühl jedoch hielt nicht an, weil sogleich das
schlechte Gewissen da war, sich der Wunder dieser Welt nicht würdig
genug erwiesen zu haben. Eigentlich war ich mit meiner
Rückkehr-Fahrkarte nach Europa doch ein Sünder. In zwei Tagen war
Abfahrt. Ade du weite Welt, ich fahr zurück zu den Trägen, die zu Hause liegen, und die nur wissen von Kinderwiegen, von Sorgen, Last und Not ums Brot.
Ich glaube, so schlief ich dann ein, im Hause von Marias Familie, die
das Kinderwiegen, die Sorgen, Last und Not ums Brot zur Genüge kannte,
es sich aber nicht nehmen liess zu feiern, wenn dafür Zeit war. Mir schien,
die Last und Not ums Brot seien geradezu der Nährboden für ein
gelungenes Fest, und in meinen verwirrlichen Träumen kam ich zum
Schluss, mein Problem sei eigentlich, in meinem bisherigen Leben zu
wenig eigene Sorgen, Last und Not ums Brot erfahren zu haben, um die
Geschenke eines so reichen Kontinents annehmen und eine eigene Existenz
darauf aufbauen zu können. So lese ich es jedenfalls aus dem
dazugehörigen Tagebüchlein heraus, Jahrzehnte später, und die Lektüre
versetzt mich noch heute in den merkwürdigen Zustand der Trauer, den
falschen Weg eingeschlagen zu haben, aber auch der Einsicht, dies heute
wenigstens zu erkennen und in Worte fassen zu können. Auch so bekommt,
ich hoffe es wenigstens, das Leben einen Sinn.
Im Flugzeug zurück in die Schweiz zückte ich mein Tagebüchlein und schrieb: Abschied
von Montebonito herzlich, wenn auch mit Kater. Alle kamen zusammen,
umarmten und küssten uns. Bevor wir das Dörflein verliessen, segnete uns
der Pater. Abends zuvor hatte er ohne Soutane mit uns das Tanzbein
geschwungen, ich glaube, Merced hatte ein Auge auf ihn geworfen. Maria
ist noch geblieben und kehrt erst nach Neujahr zurück. Wir beide aber
gingen den langen Weg zur Polizeistation zu Fuss zurück, holten dort den
VW ab und fuhren in mehrstündigen Etappen nach Bogota zurück. Merced
bat mich, sie daran zu erinnern, Merfen zu organisieren. – Bin traurig,
aber gefasst. Das wird wohl für eine Weile noch anhalten. Auf dem
Flughafen übrigens per Zufall Aida angetroffen. Als sie mich sah, brach
sie sogleich in Tränen aus. Sie war noch magerer als sonst. Als ich mich
nach ihrem Befinden erkundigte, erzählte sie unter Schluchzen, dass
Hector sie zu Gunsten einer Prostituierten verlassen habe. Die beiden
Buben musste sie darauf ihrem Ex nach Venezuela zurückgeben, die Tochter
wohne jetzt bei der Grossmutter, Aidas Mutter. Sie selbst sei nervlich
am Ende und jetzt auf dem Weg nach Mexico City zu ihrer Schwester, die
dort verheiratet sei. Aida wurde schon namentlich aufgerufen, als wir
uns verabschiedeten.
©Nikolaus Wyss
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