Mittwoch, 1. März 2017

¿Qué más? ¿Qué me cuentas? - Oder warum mir hier in Bogotá immer wieder Annemarie Burckhardt-Wackernagel in den Sinn kommt


Zu diesem Bild, das mir Annemarie Burckhardt im Sommer 1997 zugeschickt hatte, schreibt sie: Dieser Schnappschuss von Andreas soll zeigen, dass wir nun Kassel geräumt haben (am 18.6.97). Die Bananenkisten warten in Basel, bis sie geleert werden! Wichtig ist das Auge.

    Annemarie Burckhardt-Wackernagel war die Gattin von Lucius Burckhardt, einer professoralen Ausnahmeerscheinung, welcher sinnvolle, überraschende und oft auch provozierende Verknüpfungen von Ökonomie mit Städteplanung, Soziologie, Ästhetik, Architektur, Promenadologie und Design gelangen wie niemand anderem sonst. Ihm war eine ausserordentlich trockene, hermetische und humorvolle Brillanz eigen.
    Die handfesten Kontakte zur Aussenwelt hingegen gewährleistete Annemarie. Sie organisierte die Einsätze dieses smarten Kopfes, der die angeborene Arroganz des Basler Daigs in stringente, manchmal witzige und manchmal auch bösartige Analysen vom Zustand dieser Welt umzumünzen verstand. Auch Annemarie hatte ihre Wurzeln im Basler Daig. Sie zu heiraten galt damals als gute Partie, an welcher sich, so die Kunde, etwelche Ehrenmänner die Zähne ausgebissen hatten. Dass sie sich dann für Lucius entschied, hatte wohl mit der Chance zu tun, am reichen Kosmos dieses inspirierenden Querdenkers teilzuhaben. Sie wurde zu seinem alter ego: während er seine Gedanken entwickelte, verstärkte sie diese durch ihr Verständnis und ihr Talent, damit geeignete Foren zu bedienen. Sie sagte deshalb zu Recht, "gestern hielten wir einen Vortrag in Marburg", oder: "wir schreiben gerade einen Artikel über Fehlplanungen im Städtebau". Mit der Zeit kamen auch ihre künstlerischen Talente zum Tragen, welche immer etwas mit den Erkenntnissen ihres Gatten zu tun hatten, was Lucius wiederum zu Landschafts-Aquarellmalerei zu inspirieren vermochte.
    Wenn Annemarie von "wir" und "uns" sprach, so hatte dies also nichts Anmassendes an sich. Was für einen Verlauf hätte wohl Lucius' Karriere genommen, wäre sie ihm nicht tatkräftig beigestanden und hätte ihn auf all seinen Unternehmungen und Entdeckungen hilfreich begleitet. Sie gab mir auch das Gefühl, mit Lucius befreundet zu sein, auch wenn die meisten Telefongespräche und Abmachungen über sie liefen. Mit Lucius hatte ich Zeit meines Lebens wohl nicht mehr als dreimal telefoniert. Doch wenn wir uns begegneten, so war er über alles im Bild, was ich je mit Annemarie ausgetauscht hatte.
    Annemarie hatte die Gewohnheit, mich oft sonntags mit einem Anruf zu überraschen. Es wurden daraus oft stundenlange Gespräche, durchsetzt mit viel wunderbarem Klatsch. Seltsam dabei aber war, dass sie mir stets das Gefühl vermittelte, als hätte ich sie angerufen. Sie gab mir zu verstehen, dass ich sie grad etwas störe, doch es würde ihr nicht viel ausmachen. Es war jeweils ein fliegender, unverhoffter Rollentausch, der mich insofern irritierte, als ich ihn zuliess. Sie war imstande mich zu fragen, was denn das Anliegen meines Anruf sei. Und ich geriet ins Plaudern, getrieben vielleicht auch von einer gewissen Eitelkeit. Ich konnte schliesslich davon ausgehen, dass alles, was ich ihr zum Besten gab, auch bei Lucius landete.
    Annemarie kommt mir hier in Kolumbien oft in den Sinn. Hier nämlich funktioniert Initial-Kommunikation oft nach demselben Dreh. Da sitze ich im Park auf einer Bank und lese die Zeitung, und wenn sich jemand zu mir gesellt, fragt er mich als erstes: Qué más? Qué me cuentas? - Dasselbe im Internet. Unbekannte kontaktieren mich mit der Aufforderung, ihnen von mir zu berichten. Dabei war es doch der andere, der sich mit mir in Verbindung setzen wollte, offenbar aus dem Bedürfnis heraus, sich mir bekannt zu machen. Und jetzt soll ich ihm, dem Unbekannten, von mir erzählen? Wäre es nicht an ihm, mir etwas von sich zu berichten, damit ich überhaupt beurteilen kann, ob daraus eine spannende Begegnung werden könnte oder bloss Zeitverschwendung? Diese Rollenumkehr, dass also der Initiant zum scheinbar aufmerksamen Zuhörer mutiert, hat System. Soll doch damit Interesse dem Gegenüber angezeigt werden. Ich hingegen fühle mich zunächst eher belästigt und ausspioniert und breche in neun von zehn Fällen den Kontakt ab. 
    Es ist eine Art der Freundschaftssuche, an die ich mich bis noch nicht gewöhnen konnte. Und klar, es ist eine Redewendung, die ihre strenge Bedeutung verloren hat, bei mir aber in ihrer unziemlichen Aufforderung immer noch nachwirkt und mir wenigstens Annemarie ins Gedächtnis ruft.

© Nikolaus Wyss

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