Heinz Hess war und ist für mich die Autorität in Sachen Bau. Ein erfolgreicher Architekt und - zu früheren Zeiten - Stadtpolitiker, streitbar mit den Behörden. Er war gleichermassen grosszügig und widerspenstig, wenn es um die Durchsetzung eigener Meinungen und Gestaltungsideen ging. Selber Mitglied des Heimatschutzes, kannte er bei Disputen mit der Denkmalpflege kein Pardon, höhlte in genialer Weise sein grosses Bauernhaus in Zürich-Schwamendingen aus und versah es mit Dachfenstern, um es noch in den verborgensten Winkeln bewohnbar zu machen. Eine kaum schluckbare Kröte für Beamte. Doch er war jeweils schneller, stellte sie vor vollendete Tatsachen und rechnete mit dem zermürbenden Zahn der Zeit.
Diskussionen mit ihm waren zuweilen Monologe, denen ich gerne auswich, so wie er manchmal in sein Büro im oberen Stock auswich, wenn es um Diskussionen in Familienangelegenheiten ging. Die vier Buben gehörten eindeutig in den Wirkungsbereich seiner Frau Dorothee. Wenn ich als Nachbar bei Hessens auftauchte und etwas Familien-Atmosphäre schnuppern wollte, so konnte ich nicht zwingend mit seiner Präsenz rechnen. Dorothee und die Buben jedoch waren eine sichere Grösse an der Winterthurerstrasse, zusammen mit der Katze, die alle fünf Minuten ihre Meinung wechselte und entweder herein- oder dann wieder hinauswollte und uns ab und zu mit einem Vogel oder einer Maus beschenkte. Oft waren in Hessens Stube auch Nachbarn zu Gast und Freunde - ein offenes Haus halt und wunderbar. Manchmal rumpelte es dann im Treppenhaus, und durch die Schwenktür trat Heinz ein, um uns zu grüssen und sich grad wieder zu verabschieden, weil er zu einer Besprechung mit einem Bauherrn musste oder zum montagabendlichen Volleyball. Draussen in der Einfahrt wartete schon der Döschwo. Und weg war er.
Um Heinz rankte sich eine Art Mysterium. Er atmete zum Beispiel auf eine Weise durch die Nase, die Aufmerksamkeit auf sich zog und dem Gespräch das Tempo vorgab. Man musste warten, bis er zum nächsten Satz ansetzte. (Früher rauchte er Pfeife.) Und im Gegensatz zu seinen strengen gestalterischen Vorstellungen konnte er anderes völlig unbeteiligt geschehen lassen, weil er bestimmten unkontrollierbaren Vorgängen weitreichendes Vertrauen schenkte, was jeweils Dorothee in die Sätze brachte. Er nahm zuweilen das Gehabe eines buddhistischen Mönches an, und es wunderte mich auch nicht weiter, als er für sich eines Tages den Tibet entdeckte und sich dort für den Bau von Waisenhäusern einsetzte. Er umrundete auch einige Male den heiligen Berg Kailash. Besonders berührt hat mich dann seine letzte Reise dorthin mit der bereits schwerkranken und der Sprache nicht mehr mächtigen Dorothee. Irgendwie schafften es die beiden noch, einen Blick in den himmlischen Frieden zu werfen. Das fand ich als Vorgang und Liebesbeweis ganz wunderbar und aussergewöhnlich.
Heinz bleibt mir auch als Frauenverehrer in Erinnerung. Ich weiss nicht, was daran wirklich handfest war, doch das verschmitzteste Lächeln und die grösste Freude konnte ihm die Präsenz interessanter Frauen abgewinnen. So wenige wirkliche Freunde er hatte, so stark fühlte er sich mit den Frauen in seinem Umfeld befreundet. Manchmal gewann ich den Eindruck, dass er auch seine Gattin Dorothee zu dieser Art von Freundeskreis zählte, was sie wohl eher irritiert haben dürfte, sie, die sich doch immer Sorgen machte, ob die Familie über die Runden kommt, ob die Söhne auch gut herauskommen, sie, die zu schneidern begann, als sich finanziell stürmische Zeiten ankündigten.
Als wir vor Jahren Dorothee zu Grabe tragen mussten, stellte sich die Frage, wie es wohl mit Heinz, schon damals in respektablem Alter, weitergehen würde in diesem grossen Haus in Schwamendingen. Eines Tages jedoch verkündete er mir bei einem Mittagessen beim Chinesen wie nebenher, er würde übermorgen seine Freundin in Berlin besuchen. Ich musste nachfragen. Doch seine Antwort blieb kryptisch, vielleicht weil er wusste, wie nah ich mich Dorothee auch nach ihrem Tod fühlte. Später lernte ich aber seine Elisabeth persönlich kennen. Sie verbrachte von da weg auch regelmässig Weihnachten in Schwamendingen, an deren Feier auch ich und mein Partner Benedict teilnehmen durften. Ich glaube, wir alle freuten uns, dass Heinz nun ein Grossteil seiner alten Tage in Berlin verbringen durfte in der liebevollen Gesellschaft von Elisabeth. So fügte er seinem Leben noch ein ganz neues, erfrischendes und glückliches Kapitel bei.
Heinz beschäftigte sich stark mit dem Sterben und mit dem Tod. Er war überzeugt, dass die Zeit kommt, wann sie will. Dafür brauchte es nicht unbedingt Ärzte. So nahm er deren medizinische Leistungen herzlich wenig in Anspruch, und als diese dann doch notwendig wurden, verabschiedete er sich, so schnell es halt ging. So bleiben Erinnerungen an einen aussergewöhnlichen Mann zurück, der seiner Umgebung gleichermassen Freude als auch Irritation bereiten konnte, der eine seltsame, aber durchaus gelungene Mischung von Grosszügigkeit und Eigenwilligkeit vereinte, die sich bei mir eigentlich schon lange als kritischer Flüsterton in meinen Ohren eingenistet hat.
© Nikolaus Wyss
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