Donnerstag, 20. Oktober 2022

Das Fröilein und das Herrlein


Danika, mit Künstlernamen LOMAASBELLO, mit mir beim Brunch  
    

 

Auf diesem Bild sieht man uns im Restaurant Roca an der Cra.7#68. Anstelle von Namen sind die Strassen hier in Bogotá bloss mit Zahlen versehen. Diejenigen, die von Ost nach West verlaufen, sind durchnummerierte Calles, diejenigen von Nord nach Süd heissen Carreras und sind ebenfalls durchnummeriert. So lokalisiert man einen Ort. Eigentlich gleich wie in Manhattan, wo sie streets und avenues heissen. Das Roca befindet sich an der Ecke der Carrera sieben, der Septima also, mit der 68. Strasse. - Es gibt aber auch Ausnahmen in dieser Strassenanordnung. Zum Beispiel bei Diagonalen. Oder wenn grosse Überbauungen oder Parks das System stören. Oder wenn ein Hügel umfahren werden muss und so eine Richtungsänderung gebietet. Das verwirrt zuweilen selbst erfahrene Taxifahrer.

Geübte Leserinnen und Leser ahnen es schon. Ich will darauf hinaus, dass selbst bei einem gut und logisch angedachten Schema nicht immer alles so ist, wie man es erwarten möchte. Manchmal weichen auch Lebenskonzepte von der Norm ab und verwirren. Danika in der obigen Fotografie zum Beispiel, mit welcher ich seit über sechs Jahren zusammenlebe, hat mich an Weihnachten des vergangenen Jahres mit dem Entschluss konfrontiert, von jetzt an eine Transperson zu sein. Anstelle ihres Namens Johan Danilo will sie von nun an Joan Danika genannt werden.

Mir fällt die Umstellung schwer. Dabei vergesse ich leicht, dass es für sie vermutlich ebenso schwer war, sich zu diesem Entschluss durchzuringen. Mich aber stört, dass sie sich jetzt einer Gruppe zugehörig fühlt, mit der ich, ehrlich gesagt, wenig anzufangen weiss. Fühlte sie sich schon früher als Transperson, ohne dass ich mir dessen gewahr gewesen bin und ohne dass sie es mich spüren liess? Jetzt hingegen korrigiert sie mich ständig, wenn ich sie aus Unachtsamkeit noch als männlichen Johan anspreche. Ja, sie wird sauer. Dabei war sie für mich ihrem Wesen nach schon immer exotisch, auch als junger Mann. Von Anfang an. Das war für mich sogar der Reiz: nicht einer bestimmten Gruppe verpflichtet. Eine seltene Art von Unabhängigkeit. Als identifizierbare Transperson hingegen geht der Reiz dieser flirrenden Einzigartigkeit verloren. 

Als ich Danika vor nunmehr sechs Jahren in Cali kennenlernte, lag sie mit einer Tuberkulose im Spital und nannte sich noch Johan Danilo. Schläuche saugten gurgelnd Flüssigkeit aus seinen Rippen. Am Bettrand sass die übernächtigte Mutter. Seit 14 Tagen kümmerte sie sich schon um das Wohl ihres Sohnes und sorgte mit Selbstgekochtem für sein leibliches Wohl. Die Nächte verbrachte sie neben ihm auf der viel zu schmalen Couch, während im Vorraum Neffe Alex auf einem abgewetzten Sofa fläzte und verschwand, als ich auftauchte.

Ich weiss nicht mehr, worüber wir uns unterhielten. Mein erster Eindruck vom damaligen Johan war einfach der eines interessanten Menschen, spindeldürr und hochgeschossen, intelligent, kommunikativ und stolz. Es gab für ihn keine Zweifel, dass er sich von seiner schweren Krankheit erholen würde. Das imponierte mir. Das, was sie auch heute noch auszeichnet, hatte er damals schon: Charisma. Das führte dazu, dass ich ihn von Anbeginn für eine spannende und aussergewöhnliche Person hielt. Ich meinte, mit Johan jemanden wichtigen kennengelernt zu haben, auch wenn ich mich zu jenem Zeitpunkt ausserstande gefühlt hätte zu bezeichnen, was an ihm besonders wichtig gewesen wäre. Er gab mir einfach das Gefühl, es lohne sich, ihn zu kennen. So kam es zu einer zweiten Begegnung 14 Tage später. Ich offerierte der Mutter, für ihn Nachtwache zu schieben und im Spitalzimmer mit dieser schäbigen Couch Vorlieb zu nehmen. Immerhin sparte ich mir damit eine Hotelnacht. Mir taten allerdings Rücken und Glieder schon bei der Vorstellung weh, darauf eine ganze Nacht verbringen zu müssen.

Auch vom zweiten Treffen habe ich keine präzise Erinnerung. Worüber haben wir gesprochen? Doch das Erlebnis des ersten Males wiederholte sich, an seiner Seite nämlich interessante Stunden zu verbringen. Als am darauffolgenden Morgen seine Mutter, erschöpft vom Treppensteigen in den 6. Stock, eintraf (sie betritt aus Prinzip und Angst keine Fahrstühle), bedankte ich mich bei ihr für die Zeit, die ich hier an der Seite ihres Sohnes verbringen durfte.

Ich trug mich zu jener Zeit mit dem Gedanken, meinen Lebensabend in Kolumbien zu verbringen. Ich wollte aus verschiedenen Gründen meiner Lebensgeschichte noch ein neues Kapitel zufügen. Das in kürzester Zeit hergestellte Vertrauensverhältnis zwischen Johan und mir gab der Realisierung dieser Idee mächtig Vorschub. Seine Signale waren deutlich, und mir schien, sie könnten nicht das Schlechteste sein, was mir in jenem Augenblick widerfuhr. War da Verliebtheit im Spiel? – Ich weiss es nicht. Sicher nicht so, wie man dies jungen Menschen zuschreibt. Ich glaube, gerade der riesige Altersunterschied zwischen ihm und mir erlaubte uns, diese sich anbahnende Verbindung relativ vernünftig anzugehen, als Zweckbündnis sozusagen. Ich hielt mich eher für seinen Grossonkel mit etwas inzestuösen Anwandlungen, wobei sich diese für uns beide als der unbefriedigendste Teil unserer Beziehung erwiesen und bald schon wieder eingestellt wurden. Was mich hingegen überzeugte, war der Umstand, dass er schon einen Job als Modedesigner hatte und wusste, dass man hart arbeiten muss, um es zu etwas zu bringen.

So ergab es sich, dass er mir nach seiner Genesung half, hier in Bogotá eine Bleibe zu finden, und es war irgendwie selbstverständlich, dass er bei dieser Gelegenheit gerade bei mir einzog. Seither sind wir eine Art Paar. Wir hängen aneinander, auch wenn ich anfangs Mühe bekundete, auf der Strasse an seiner Seite zu wandeln, weil er in Gehabe und Kleidung schon sehr auffällig war und immer wieder verwunderte und neugierige Blicke auf sich zu ziehen wusste. Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als er aufgebracht heimkam und berichtete, wie ihn auf offener Strasse ein Macho angerempelt und ihm Schlötterlinge nachgeworfen habe, weil dieser es offenbar nicht ertrug, dass sich Johan nicht so aufführte, wie man das von einem "normalen" jungen Mann erwarten würde. Johan war eine Marica, eine Schwuchtel also. Doch mein Held liess offenbar diese Anpöbelung nicht auf sich sitzen, löste den Gurt von seiner Hose und schlug diesen widerlichen Macho windelweich. Die ganze Nachbarschaft sei zusammengelaufen und war zunächst der Ansicht, Johan sei der Übeltäter. Eine ältere Dame aber hatte den ganzen Vorfall beobachtet und hielt überzeugend dagegen, dass der Typ Johan in Schwierigkeiten bringen wollte. Das Gute an diesem Vorfall war meine Erkenntnis, dass sich diese Schwuchtel offensichtlich gut zu wehren weiss. 

Laut seinen eigenen Erzählungen waren seine dominante Stimme, seine Schlagfertigkeit und seine Wehrhaftigkeit, aber auch seine klaglose Entgegennahme von Schlägen der Mutter (die ihn aber nie von weiteren Streichen abhielten), charakteristische Merkmale von ihm. Er wuchs in einem vaterlosen Haushalt auf, seine Verwandtschaft verteilte sich in der ganzen Nachbarschaft. Alle nannten ihn Piti. Dieser Name scheint mir zutreffend und hört sich keck an. Danika erzählte mir einmal, dass er als Neunjähriger von einem Losverkäufer am Strassenrand aufgefordert worden sei, ihm unanständige Wörter ins Ohr zu flüstern. Piti kam diesem Ansinnen mit seinem schon damals unerschöpflichen Wortschatz (auch an anstössigen Ausdrücken) gerne nach, allerdings verlangte er pro Wort ein paar Pesos...  

Doch so schadlos schien Danikas Jugend als Johan dann doch nicht verlaufen zu sein. Sein Milieu in der Hafenstadt Buenaventura am Pazifik war geprägt von Homophobie. Seine Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, Halbbrüder und Halbschwester störten sich an seinem nicht ganz männlichen Gehabe und äusserten früh schon den Verdacht, er könnte schwul sein. Das war nicht als Hänselei gemeint, sondern als Drohung. Sein weibisches Getue und sein Interesse an Puppen und Kleidern stellten offenbar die Rechtschaffenheit und Gottesfürchtigkeit seines Familienclans infrage. Was, wenn wegen seiner sündhaften Neigung die ganze Sippschaft zur Hölle fahren muss? - Das durfte nicht sein. Eine der Massnahmen bestand darin, Piti von da weg Danilo zu rufen, so wie er, zusammen mit seinem zweiten Vornamen Johan, auf dem Zivilstandsamt auch registriert war. Die Familie entschied sich aber für Danilo, weil der Name am Schluss noch ein maskulines O aufwies, was vielleicht doch noch etwas viriler klang als Johan, der leicht ins weibliche Joan zu kippen drohte mit all den amerikanischen Filmschauspielerinnen, die so hiessen: Joan Collins, Joan Fontaine, Joan Crawford und so fort. Mit Danilo hingegen sollte die als notwendig empfundene Geschlechtsangleichung erfolgreich vollbracht worden sein.  - Doch weit gefehlt. Auch als Danilo liess er zum Entsetzen der Verwandtschaft die Marica erkennen. Es musste also gröberes Geschütz aufgefahren werden. Diesem Vorhaben kam entgegen, als Danilo während der Pubertät in auffälliger Weise Brüste wuchsen. Der Familienrat befand darauf, diese entfernen zu lassen, und sammelte Geld für einen operativen Eingriff. 

Es scheint, als ob sich diese damalige körperliche Verletzung als Trauma erst heute so richtig manifestiert, jetzt mit 32 Jahren. Denn zum Bekenntnis, eine Transperson zu sein, trat noch der dringende Wunsch hinzu, sich operativ Brüste einsetzen zu lassen, um den voradoleszenten Zustand wieder herzustellen. Dass Danika schon ein halbes Jahr zuvor heimlich mit der Einnahme von Hormonen begann, vervollständigte das bekenntnisreiche Weihnachtspaket 2021.

Ich gestehe, dass meine erste Reaktion schroff ausfiel. Ich nahm es persönlich, als Danika meinte, sie möchte endlich glücklich werden. Konnte es sein, dass sie die vergangenen Jahre an meiner Seite unglücklich war? Ich antwortete ruppig: "Ich habe noch keine Transperson kennengelernt, die ihrer implantierten Brüste wegen glücklicher geworden wäre. Im Gegenteil. Das angestrebte Gefühl wird sich auch mit Vorbau nicht einstellen. Entweder wird das Verlangen wachsen, noch mehr an sich herumzuschnipseln, oder sich auf halbem Weg einzugestehen, dass sich das Empfinden, nirgends so richtig dazuzugehören, eher noch verstärkt hat." 

Während Danikas Bekenntnis aber einem fait acompli gleichkam, sah ich mich gezwungen, meine Gefühle dazu erst einmal neu zu überdenken. Es zeigte sich, dass ich als alter Mann, der meinte, sein Menschenbild sei durch langjährige Erfahrung gefestigt und sinnvoll angeordnet, meine mehrfach geäusserten, dezidierten Ansichten zu diesen Themen einer Prüfung unterziehen musste. Nicht, dass ich nicht gewusst hätte, dass die geschlechtliche Orientierung der Menschen eine komplexere Angelegenheit darstellt als die simple Aufteilung in Mann und Frau und deren gegenseitige Anziehung, wie das die Bibel lehrt. Schliesslich gehöre ich selbst zu einer Minorität, die für sich in Anspruch nimmt, den Begriff der Normalität in geschlechtlicher Hinsicht zu erweitern. Ich hielt aber das weitergehende Aufdröseln individueller Neigungen weder für dringend noch für opportun. Ja, meine Vorurteile gipfelten in lustvoller Überheblichkeit. Transmenschen, denen ich begegnete, hielt ich in ihrem Gehabe und in ihrer Kleiderwahl grossmehrheitlich für dumm und lächerlich. Die minutiöse Splittung in non-binär, trans und in weitere Verästelungen spezifischer Gefühlslagen, kurz LGBTQIA+, interessierten mich nicht eigentlich. Ich hielt sie für Erschwernisse auf dem Weg zur gesellschaftlichen Anerkennung von Homosexualität. 

Gerade dieser Tage, als bei der Übergabe des Deutschen Buchpreises der/die diesjährige Transgender-PreisträgerIn Kim de l'Horizon bei der Verdankung seinen/ihren Kopf kahlrasierte (um sich einerseits mit den gegen die Kopftuch-Tragpflicht kämpfenden Frauen im Iran zu verbünden und andrerseits zu betonen, dass nichts so ist, wie man meint, es sei), bekam ich eine WhatsApp-Nachricht eines guten, alten, heterosexuellen Freundes aus der Schweiz, der diesen Akt mit Kopfschütteln verfolgt hat und mich fragte, was ich denn zu all diesem Gendergetue denke. Ich schrieb ihm, etwas flapsig und nicht sehr wohlüberlegt, wie bei WhatsApp-Nachrichten üblich, vorhin zurück:  

Wenn ich jeweils nicht mehr so richtig weiter weiss, so halte ich mich gern an Pierre Bourdieu und an seine Theorie der "distincion", das heisst: an meine Interpretation davon und deren Erweiterung. Das Bedürfnis, sich von anderen abzugrenzen, ist fast gleich gross wie das Bedürfnis, sich genau damit einer bestimmten Gruppe zugehörig zu fühlen. Bei Bourdieu geht es vor allem um Ästhetisches und um Besitz, um die Präsenz bzw. Absenz eines Gemäldes mit röhrendem Hirsch im Wohnzimmer zum Beispiel... also um den Geschmack als Merkmal sozialer (Klassen-)Zugehörigkeit und -Abgrenzung. Doch ich denke, anstelle des Geschmacks können auch Empfindungen treten, partikuläre Neigungen und prekäre Gefühlslagen. 

Wir sind immer mehr Menschen auf dieser Erde, und es wird für den einzelnen immer schwieriger, sich als Individuum zu begreifen und dem Gefühl der Vermassung und der Nichtbeachtung zu entkommen. Eine individuelle Strategie dagegen könnte die Kultivierung einer Eigenschaft, einer Neigung oder eines Merkmals sein, um sich damit abzuheben von den anderen, um sich zu unterscheiden, vielleicht noch mit der zusätzlichen Hoffnung, damit sogar einen Trend auszulösen oder zumindest daran teilzuhaben und sich damit als individueller, einmaliger und besonders zu fühlen. Ein gewichtiger Teil des Trans-Hype dieser Tage gründet meines Erachtens seinen Erfolg in der Sehnsucht, etwas anderes zu sein als die überwältigende Mehrheit der Menschen, den Normalos. Näher bei sich selbst und dadurch individuell erkennbarer. So ein Hype umfasst also vermutlich nicht nur diejenigen, die tatsächlich unter ihrem angeborenen Geschlecht leiden, er erfasst auch viele, die der Masse des Normalen entfliehen möchten, um etwas Spezielleres zu sein.

Diesem Hype kommt die wissenschaftliche Erkenntnis entgegen, dass in jedem Menschen viele Gene wirken, die ein diffuseres Geschlechtsbild zeichnen, als es die öffentliche Meinung postuliert. Das heisst, die meisten Menschen tragen, in unterschiedlichem Grad, auch Gene des anderen Geschlechts in sich und haben darum in unterschiedlichen Massen auch Neigungen beziehungsweise Bedürfnisse, welche dem anderen Geschlecht zugeschrieben werden. Bewusst oder unbewusst. Im Normalfall stören diese Ausweitungen ein normales Sexualleben nicht und verlangen nicht nach grundsätzlicher Überprüfung der Geschlechtszugehörigkeit. Wenn man diese Erkenntnis aber zulässt und erst noch ausweitet, dass es nicht nur um sexuelle Empfindungen geht sondern auch um die Frage, ob man im richtigen oder falschen Körper lebt, so gäbe es nicht nur keine reine Hetero- oder Homosexualität mehr, es wären an ihren Stellen, rein hypothetisch, Millionen von Varianten geschlechtlicher Ausformungen und Identitäten möglich, ob das jetzt rein physisch oder rein psychisch ist oder in Kombination... Trans-Menschen betonen ja sehr, dass es vor allem auch um eine mentale Disposition geht und nicht so sehr um eine körperliche. Weiter weiss ich auch nicht. 

Ich weiss nicht, ob diese Aussagen bereits meinen Lernprozess, der durch Danikas Bekenntnis ausgelöst wurde, widerspiegeln. Für meinen Geschmack entbehren sie beim Wiederlesen nicht eines gewissen überheblichen Spottes, den ich in der Zwischenzeit offenbar noch nicht ganz ablegen konnte. Vielleicht sind sie aber auch eine unnötige Konzession an meinen heterosexuellen Adressaten in der Schweiz. Auch betonte ich zu wenig das Leiden derjenigen, die sich aus purer Not als Transmenschen verstehen und nicht aus strategischen Gründen. Doch doch, die gibt es schon. Und es gibt hier in Kolumbien auch Hilfsorganisationen, wie zum Beispiel "Colombia diversa", die sich darum kümmern, dass diese Menschen in diesem unsäglichen Macho-Land nicht unter die Räder kommen. Während der Durchschnitt der Lebenserwartung hier bei 74 Jahren liegt, können Trans-Menschen hier im Durchschnitt mit nicht mehr als 35 Jahren rechnen. Sie leben gefährlich und sind oft Opfer von Gewalt, Verbrechen und Drogen. 

Wie dem auch sei: Im Januar dieses Jahres reservierte ich einige Abende auf unserem roten Sofa, um mir auf Netflix die zwei ersten Staffeln von Pose zu Gemüte zu führen, einer Serie aus der New Yorker Subkultur, wo vornehmlich Trans-Gruppen an sonntäglichen Tanz- und Kostüm-Wettbewerben teilnehmen. Mit all den dazugehörigen Intrigen, Geschwätzigkeit, Kümmernissen und Triumphen. Und mit der Zeit stellte sich ein, was ich nicht für möglich gehalten hätte. Die Figuren der Serie begannen mir sympathisch zu werden. Ihre Empfindlichkeiten und Befindlichkeiten, ihre Schlachten auf dem Tanzparkett, ihre pseudofamiliären Strukturen, denen jeweils immer eine mother vorstand, liessen mich allmählich verstehen, wie diese Art von Subkultur tickt und worauf es ihnen ankam. Vor allem aber: im Grunde durchlebten sie Sehnsüchte und Gewohnheiten, die mir aus meinem eigenen Leben durchaus vertraut sind. Die Serie half mir bei der Anhebung meiner zuvor niedrigen Motivation, Johan jetzt Danika zu rufen. 

Bei ihrer eigenhändigen Umtaufung war für mich immerhin der Umstand hilfreich, dass Danika ja unter ihrem Künstlernamen Lomaasbello mit ihren Videos schon seit längerem auf dem Feld der Geschlechterverwirrung respektable Arbeit leistet. Im Anhang habe ich dazu einige ihrer Werke aufgelistet.

Hilfreich war zudem, dass ich in meiner Zeit als Rektor der Luzerner Kunsthochschule immer wieder das Mantra sang, dass zur veritablen, kreativen und leidenschaftlichen Kunstausübung das Anbohren des innersten Kerns seines Selbst gehöre. Dort sitze die eigentliche Energie. - Offenbar war bei Johan noch eine störende Schicht vorhanden, die abgetragen werden musste, um zur Danika zu gelangen, die fortan Energiequelle ihres künstlerischen Wirkens sein soll. Ich bin gespannt auf weitere Werke von ihr. - Nur sind eben nicht alle Transen KünstlerInnen, und ihre Gefühlslage wirkt sich in einem Bürojob wohl delikater aus als auf einer Bühne oder in einem Video.

Bleiben die Brüste Danikas, die jetzt unbedingt implantiert werden sollen. Verleihen ihr diese einen weiteren Schub zum eigentlichen Selbst? Das Nichtbeantwortenkönnen dieser Frage lässt mich alt aussehen. Ich sehe mich mit meinen Vorbehalten in eine konservative Ecke gedrängt. Oder ist diese Ecke gar der eigentliche Kern meines eigenen Selbst? - Wichtiger jedoch als die Ergründung meines eigenen Innersten scheint mir allerdings das Bekenntnis, dass Danika und ich, bei allen Differenzen und halsbrecherischen Theorien, die sich hier manifestieren, zusammenbleiben wollen, was immer noch kommt. Darauf vorbereitet bin ich heute besser als noch anfangs dieses Jahres.

© Nikolaus Wyss     

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Und hier, wie versprochen, noch ein paar Video-Links:

VIVAS - Wurde eben als 1. Preis beim Kurzfilmfestival von Bogotá vorgeschlagen und handelt von Trans-Menschen, die sich nicht unterkriegen lassen wollen. Kernsatz: "tu normalidad nos cuesta la vida" (deine Normalität kostet uns das Leben)

RICO - Der simple Inhalt heisst: Du vögelst gut. Wurde in unserer Wohnstube gedreht mit mehreren Kilo Sand auf dem Fussboden und Green Screen an den Wänden. Der Spiegel hängt noch, und am Tisch essen wir immer noch regelmässig.

PENSANDOTE - Sehnsucht nach einem vermissten Geliebten. 

SHUT UP - Dieses Video entstand kurz vor Ausbruch der Covid-Pandemie grösstenteils auf unserer Dachterrasse. Kernaussage: "Ich bin nicht so geboren, ich habe mich erfunden".  --------- Davon gibt es von mir unter dem Titel FELLINI AUF DEM HAUSDACH  auch eine Art von Making Off.

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LoMaasBello übrigens hat kürzlich ihre eigene Homepage aufgemöbelt. Hier ist sie unterlegt.

Und hier noch die Fortsetzungen der Geschichte:  

Die Brüste sind drin

Ein Tag im Leben von Danika / Lomaasbello

In diesem Kontext vielleicht auch interessant zu lesen dieser Beitrag: Wenn das Schaumbad kalt wird (über mein eigenes Coming-out)

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Ich freue mich immer über Kommentare und Grüsse. Danke. Hier noch die thematisch gegliederte Liste weiterer Blog-Einträge auf einen Click. 


Samstag, 8. Oktober 2022

Brief an meinen ungeborenen Bruder

Lieber Karlsohn oder Emilsohn, was weiss ich

    Karl war längere Zeit der Geliebte meiner Mutter, und Emil hiess mein Vater, vielleicht auch deiner, was weiss ich. Oder wärst du ein Mädchen geworden? Mein Schwesterherz? Was weiss ich... Ich weiss lediglich, dass unsere Mutter dich abgetrieben hat.

    Es gab in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts eine Welle von selbstbewussten Frauen, welche das Thema an die Öffentlichkeit trugen. Meine Mutter war auch darunter und bekannte sich in einer grossen Zeitungsannonce, zusammen mit tausend anderen Frauen, zu ihrer Tat. Das Inserat bekam ich nie zu Gesicht. Doch anlässlich einer späteren Begegnung sah unsere Mutter in der Meinung, ich hätte von dieser Veröffentlichung erfahren, den richtigen Zeitpunkt für gekommen, mich auch noch persönlich von deinem kurzen Leben in ihrem Bauch in Kenntnis zu setzen und allfällige Fragen zu beantworten. Daraus hätte sich bestimmt ein lohnendes Gespräch entwickeln können. Doch ich sah mich in diesem Moment ausserstande, darauf in adäquater Weise einzugehen. Ich hätte überrascht und neugierig sein und alles über dich erfahren müssen. Diese Neugier aber wurde gestört vom lächerlichen Umstand, dass ich ihre Mitteilung für unpassend hielt, weil sie meines Erachtens dreissig oder vierzig Jahre zu spät gemacht wurde. Meine Mutter ging zu diesem Zeitpunkt auf die 80 zu, und ich war nicht darauf vorbereitet, so ein Bekenntnis, das sie so lange und so cool bei sich aufbewahren konnte, als tiefgreifendes Erlebnis in ihrem eigenen Leben zu begreifen und zu würdigen. Das tut mir heute leid für sie wie auch für dich. Ändern kann ich es nicht mehr. Vielleicht bist du ihr drüben schon einmal begegnet, und ihr konntet eure Standpunkte - hoffentlich friedlich - austauschen, was weiss ich. Ich meine einzig zu wissen, dass du auf seltsame Weise bei mir immer wieder präsent gewesen bist, auch zu Zeiten, wo ich noch gar nicht von deiner allzu kurzen Existenz wusste.

    Überdeutlich zum ersten Mal, als ich als Dreikäsehoch dem Christkind einen Zettel schrieb mit dem Wunsch, ein kleines Brüderlein zu bekommen. Meine Mutter half mir beim Texten, und gemeinsam legten wir das Stück Papier, mit einem Stein beschwert, abends auf das Fenstersims. Am nächsten Morgen war der Zettel weg, und bei mir wuchs die Hoffnung, das Christkind würde meinen Wunsch erfüllen. An Weihnachten jedoch lag unter dem Christbaum lediglich ein Teddybär.

     Zum zweiten Mal warst du mir präsent im Skilager auf Trübsee. Ich war da vermutlich in der 5. Primarklasse und musste in Reih und Glied warten, bis ich an einem der paar Kaltwasser-Spülbecken meine Zähne putzen und mit dem Waschlappen übers Gesicht fahren konnte. Das Warten machte mir aber nichts aus, denn vor mir stand ein Junge, der mir ausserordentlich gut gefiel. Ich erschrak über meine Empfindungen, gleichzeitig fühlte ich mich diesem Buben aber so nah und verbunden, dass ich meine Gefühle für ihn als brüderliche Nähe deutete.

    Dieses Erlebnis wurde zu einem Grundmuster in meinen Neigungen zu jungen Männern. Ich war wohl auf der Suche nach dir, mein Lieber. So legte ich mir das wenigstens zurecht. Und es hält an bis heute. 

Wieso ich dir aber ausgerechnet heute schreibe, hat mit der Verleihung des diesjährigen Nobelpreises für Literatur zu tun. Ich habe zwar von der Preisträgerin Annie Ernaux nichts gelesen, aber bei der Würdigung ihres literarischen Schaffens erwähnte ein begeisterter Literaturkritiker im Radio das Buch L'Autre Fille aus dem Jahr 2011, worin die Schriftstellerin einen Brief an ihre Schwester schreibt, die als sechsjähriges Kind, zwei Jahre vor der Geburt der Autorin, gestorben war. Offenbar hatte die Familie einen Mantel des Schweigens über deren Tod gelegt, und Ernaux hat erst viel später von der Existenz der verstorbenen Ginette, so ihr Name, erfahren, was sie dann anregte, zu ihr eine persönlich-literarische Verbindung herzustellen, um ihr nicht nur vieles geschwisterlich anzuvertrauen, sondern ihr auch ein ehrendes Denkmal zu setzen.

    Ich glaube zwar nicht, dass es zwischen uns so weit kommen wird. Aber der Gedanke, dass zu mir eigentlich ein Bruder (oder doch eine Schwester?) gehört, macht mich glücklich und rückt mich in die Nähe familiärer Normalität, deren Ausbleiben ich damals, in jungen Jahren, so schmerzlich empfand. Ich wuchs, du weisst es, als Einzelkind bei unserer Mutter auf, der Vater war in unserem Alltag kaum präsent. Im Kindergarten bei Fräulein Werling und später im Wolfbach-Schulhaus wurde ich oft nach meinem Vater und meinen Geschwistern gefragt und hatte darauf keine passende Antwort. Ich beneidete meine Schulkameraden aus kinderreichen Familien, den Rolf Stoffner zum Beispiel von der Froschaugasse, und konnte nicht verstehen, dass Rolf wiederum mich beneidete, weil ich die Spielzeuge mit niemandem teilen musste. - Wie wäre das bei uns gewesen, Karl-Emil? Ich als älteres Geschwister hätte vermutlich stets nachgeben und dir die Spielsachen überlassen müssen. Und hätte mich dann eifersüchtig an den Rockzipfel unserer Mutter gehängt und weinend mein Schicksal beklagt. Diese Situation halte ich noch heute für zehnmal attraktiver als das Alleinsein mit all seinen angeblichen Privilegien. Ich hätte mit dem Akzeptieren solcher Situationen zusätzlich noch soziale Kompetenz gelernt. Du hast mir gefehlt.

    Ja, du wurdest umgebracht. Das ist schon so. Noch bevor du hättest leben können. Du warst ein Opfer der Umstände, die ich auch nicht so genau kenne. Wenn dein Vater auch mein Vater war, dann sicher auch wegen der Unverträglichkeit unserer Eltern. Unsere Mutter wollte sich wohl nicht noch mehr Lärm, wie Vater ihn zu veranstalten pflegte, aufhalsen. Warst du hingegen Karls Fötus, so hätten wohl auch noch gesellschaftliche Faktoren eine Rolle gespielt. Karl war verheiratet, hatte selbst zwei Kinder und eine schweizweit bekannte Frau. Er hätte unsere Mutter wohl wissen lassen, dass er nicht bereit wäre, dich anzuerkennen. Damals konnten Männer noch bestimmen, ob sie sich zu ihrer Brut bekennen wollten oder nicht. Das war bei meinem Vater (oder dem unsrigen) auch so. Ich war als uneheliches Kind nicht erbberechtigt und trug den Familiennamen meiner Mutter, welche wiederum auf den Ämtern als "Fräulein Wyss" angesprochen wurde.

    Ich glaube, unsere Mutter sah sich damals wohl als Opfer und körperlich wie seelisch überfordert, noch ein weiteres Kind aufzuziehen, was ihren Scharfsinn zur Situation der Frauen in unserem Land sicher schärfte, der sich dann später in ihrem feministisch-journalistischen und schriftstellerischen Wirken fruchtbar niederschlug. Doch davon hast du nichts. Was du hingegen allen, die jetzt noch leben auf diesem Planeten, voraus hast, ist dein Tod. Du weisst, wie es drüben aussieht, während wir hier immer noch darüber rätseln. Klar, wir gehen unwissend unseren Weg, bis es so weit ist. Wir machen uns unsere Gedanken über Verstorbene und über den eigenen Tod, und wenn es gut kommt, so stellt sich sogar eine gewisse Befriedigung und Dankbarkeit ein über das, was wir verleben durften. Das fehlt dir. Du kannst dich lediglich für die Wärme im Uterus unserer Mutter bedanken, hast vielleicht von aussen auch noch Stimmen vernommen oder Mutters vielgeliebten Mozart. Tröstet dich das, oder hast du das Gefühl, unsere Mutter sei dir noch etwas schuldig?

    Ich sage dir, und vielleicht kannst du es von weitem beobachten, unsere Welt hat auch schon bessere Tage gesehen. In meinem Umkreis lebte ich meine 73 Jahre in der falschen Gewissheit, dass wir Menschen anstehende Probleme auf anständige und friedliche Art lösen können, ohne eindeutige Opfer und ohne eindeutige Sieger. In Balance sozusagen. Du hingegen musstest die Erfahrung machen, dass unsere Mutter deine Präsenz nicht auf die Reihe kriegte und dich, als Konsequenz davon, abtrieb. Du wirst für ewig dich als eindeutiges Opfer sehen und kaum Verständnis dafür finden, dass sich meine Mutter auch in einer beklemmenden Situation befinden mochte und Entscheidungen treffen musste, über die sie später offenbar jahrzehntelang schwieg, weil sie sie so heftig schmerzten. Deine traumatische Sterbenserfahrung hingegen lässt dich anders auf die Weltgemeinschaft blicken, die momentan in existentielle Krisen hineinschlittert. Du hast den Zusammenbruch, das Nicht-mehr-Können früh erfahren und musstest mit deinem Leben büssen. Ich hingegen, ohne von deinem Schicksal zu wissen, wog mich im Glauben ans Gute im Menschen, an die Liebe, an die Machbarkeit und an die Lösung von Konflikten, an Vergebung, Reue, Zuversicht und Vernunft. In mir taucht erst jetzt allmählich die Ahnung auf, dass wir kurz davor sein könnten, in globo von dieser Welt abgetrieben zu werden.

    Ohne dass ich von dir wusste, hast du mir in der Gestalt verschiedener Liebhaber und treuer Freunde immer wieder das Gefühl vermittelt, das Leben sei schön und lebenswert. Dafür danke ich dir. Deine feinstoffliche Präsenz ermöglichte mir Glücksgefühle, Erfahrungen und auch Enttäuschungen, die mich, unter dem Strich, immer ein Stück weitergebracht haben. Aber solange ich selbst bin, bist du mir immer etwas voraus. Soll ich mich freuen, mich bei dir dereinst einzufinden. Was rätst du mir? Was ist noch zu tun, bevor ich komme?

    Ich warte gerne noch ein bisschen auf deine Antwort.   

Alles Liebe

dein Bruder Nikolaus

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©Nikolaus Wyss

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Dienstag, 4. Oktober 2022

Un po' di spaghetti alla bolognese

Lina Rossi in der Küche von Mutters Wohnung an der Winkelwiese 6
Ich kann ziemlich genau sagen, wieviele Male im Jahr mir Lina Rossi in den Sinn kommt: ein- bis zweimal. Nämlich immer dann, wenn ich ein Bolognese-Ragù zubereite. Sowas koche ich nur, wenn ich das Hackfleisch für ein Chili con carne oder für einen Braten nicht ganz aufgebraucht habe. Dann gibt es eben eine Bolognese, was nicht mehr als ein- bis zweimal im Jahr vorkommt.

Frau Rossi aus dem Friaul war die Haushaltshilfe meiner Mutter im fortgeschrittenen Alter. Sie kam einmal pro Woche an die Winkelwiese in Zürich und hielt nicht nur die Wohnung sauber, sie kochte auch das Mittagessen, und zwar in grösserer Menge, damit meine Mutter das Übriggebliebene später einfach aufwärmen konnte. 

Es kam vor, dass ich Frau Rossi antraf, wenn ich meine Mutter besuchen ging. Oft köchelte dann auf dem Herd gerade eine Bolognese-Sauce vor sich hin und verströmte ihren appetitanregenden Geruch in der ganzen Wohnung. Eine Stunde lang. Besser zwei. Bis alles sämig war. Frau Rossi erklärte immer wieder gern aufs Neue, worauf es dabei ankam: bei sehr kleinem Feuer lange kochen. Den Deckel einen Spalt breit offenlassen, im Laufe der Zeit mit Wasser etwas nachgiessen, damit die Sauce flüssig bleibt und nicht anbrennt. Weitere Schlüsselwörter von ihr waren jeweils "un po": un po' di olio d'oliva, un po' di passata di pomodoro, un po' d'aglio und so weiter. Und zum Schluss: un po' di burro. Ich wartete jeweils noch auf den Hinweis "un po' di vino rosso", der allerdings stets mit einiger Verzögerung vorgebracht wurde, denn Alkohol war in ihrer Familie ein leidiges Thema. Ihr Mann war ihm allzufest zugetan, so dass der Gutsch Wein in der Sauce einer kleinen Sünde gleichkam.  

Meine Mutter konnte es gut mit Frau Rossi. Sie besuchte ihre Familie manchmal in Seebach draussen und wurde dabei wie eine Königin empfangen. Herr Rossi zeigte sich stets von der besten Seite und liess seinen lateinischen Charme spielen, und die halbwüchsigen Kinder zogen sich extra schön an, wenn sie zu Besuch kam. Die Tochter Francesca konnte anpacken und war ehrgeizig. Die Schulen schaffte sie mit Bravour. Die zwei Söhne hingegen, deren Namen mir entfallen sind, waren eher von sanfter Natur und wirkten schüchtern und fragil. Doch wenn es bei meiner Mutter in der Wohnung etwas zu reparieren oder anzustreichen galt, waren sie immer zur Stelle. Ja, meine Mutter stattete einmal sogar einen Besuch bei der Familie Rossi im Friaul ab.  Daraus entstand ein Text, der glaub ich in ihrem Lesebuch "Das blaue Kleid" publiziert wurde. Da ich aber schon fast aus Prinzip die Bücher meiner Mutter nie las, kann ich das nicht genau belegen. 

Mir schien, dass sich die beiden Frauen in bestimmten sprachlichen Dingen im Laufe der Zeit annäherten. Aus dem Mund meiner Mutter meinte ich immer öfters Diminutive zu hören, wenn es um Quantitäten ging. Sie antwortete zum Beispiel auf die Frage, ob sie noch etwas Wein möchte, mit "nur ganz weneli" (nur ganz wenig). Oder wenn sie sich zum Mittagsschlaf hinlegte, so ruhte sie sich "nur es bitzeli" (nur ein bisschen) aus. Sie wurde öfters "e chli" (ein wenig) müde, und wenn es ihr zu viel wurde, dann bezeichnete sie es "es Spürli zvill" (eine Spur zuviel). 

Was der einen die Sauce war, waren der anderen ihre Empfindungen. Wobei ich glaube, dass ihre Gefühle um ein Vielfaches stärker waren, doch sie wurden in Rossi'scher Art gefiltert und auf ein undramatisches Niveau eingekocht. Dies war umso erstaunlicher, als meine Mutter gleichzeitig gewisse Dinge, die ich für nicht so besonders schlimm hielt, mit Worten wie "grauenhaft", "entsetzlich" oder "wahnsinnig" bezeichnen konnte. Auch diese hemmungslosen Urteile schienen mir bei ihr im Verlaufe des Alterns inflationär. Ein Auseinanderdriften also von einer von Bescheidenheit getriebenen Sanftmut und übertriebener Erschrockenheit.

Frau Rossi habe ich aus den Augen verloren. Ist sie ins Friaul zurückgekehrt? Was ist aus ihren Kindern geworden? Wobei: diese Fragen interessieren mich eigentlich nur "es bitzeli", nicht so, dass ich sie jetzt wirklich beantwortet haben möchte. Die Erinnerungen genügen mir vollauf mit der jährlichen Würdigung ihres Wirkens beim Kochen meiner Bolognese-Sauce.

©Nikolaus Wyss  

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