Samstag, 30. Dezember 2017

Rameli tot - Jürg Ramspeck war vor 45 Jahren mein Chef


Jürg Ramspeck (rechts) mit seiner Frau Hildegard Schwaninger und dem Fotografen Willy Spiller anlässlich von dessen Fotoausstellung in der Photobastei am 20. August 2015
Ich war ihm in meiner Kindheit nie begegnet. Doch sein Übername, den ihm die Familie meiner Gotte verliehen hatte, begleitete mich durch meine ganze Jugend: der Rameli. Er war der Schulfreund eines der Buben dort und ein sicherer Wert in den Erzählungen meiner Gotte. Der Rameli ist ... der Rameli meint ... der Rameli hat gemacht ... Dieser Sohn aus dem Pianohaus Ramspeck an der Mühlegasse war in den Augen meiner Gotte offenbar ein Tausendsassa, raffinierter und musikalischer noch als die eigenen vier talentierten Söhne, auf die sie doch sonst so stolz war.
Nach dem Gymnasium verzichtete er auf ein Studium. Sanskrit und die Geschichte Mesopotamiens hätten ihn zwar interessiert, doch er wandte sich stattdessen direkt dem Journalismus zu. Dazu gibt es zumindest zwei Versionen: Die eine besagt, dass er wegen frühem Nachwuchs unbedingt Geld verdienen musste; die andere, dass er mit seinem grossen Talent ein Studium für nicht zielführend hielt.
Als ich 1972 aus Lateinamerika heimkehrte, vernahm ich, dass dieser Rameli mittlerweile Karriere gemacht hatte. Er hatte mit knapp 20 bei der Weltwoche als Journalist angeheuert. Später wurde er Chefredaktor des Gratisanzeigers Züri Leu, einer Publikation, die jede Woche in alle Briefkästen der Zürcher Haushaltungen verteilt wurde und sich bemühte, neben dem üblichen Klatsch auch einen gewissen Recherchejournalismus zu pflegen. Weil ich einen Job suchte, schrieb ich Jürg Ramspeck einen anständigen Bewerbungsbrief. Als es zu einem Vorstellungsgespräch kam, bot er mir sogleich das Du an. Beim Treffen damals ging es dann eigentlich nur noch darum, ob ich schon morgen oder erst in einer Woche anfangen sollte.
Diese Leichtigkeit im persönlichen Umgang hielt das ganze Jahr, in dem ich meine Sporen als Redaktor abverdiente, an. Jürg war ein unterhaltendes Klatschmaul. Er wusste zu jedem und jeder eine Sottise, und es blieb sein Geheimnis, wieso ihm sein loses Mundwerk nie zum Nachteil gereichte. Ich war mir sicher, dass er in meiner Abwesenheit auch über mich lästerte. Doch Argwohn kam nicht auf. Lag es vielleicht daran, dass er, im Gegenzug, unglaublich präzise arbeitete? Nicht nur gedanklich, auch technisch. Neben seiner Schreibmaschine lag ein Blatt, wo er zuoberst die erforderliche Zeilenzahl des Artikels aufschrieb. Jede Satzzeile, die er mit einer qualmenden Zigarette im Mundwinkel in die Schreibmaschine hämmerte, zog er von dieser Summe ab, bis er mit dem letzten Punkt bei null landete. Keine Zeile zu viel, keine zu wenig. Keine Korrekturen. Fertig. – Diese effiziente Schreibweise erlaubte es ihm, viel Zeit für anderes zu haben, zum Spielen mit uns Redaktionskollegen beispielsweise. Damals war Acquire angesagt, ein nicht unspannendes Wirtschaftsstrategiespiel.
Manchmal aber wurde er zum Verleger gerufen, zu Max Frey, dem Chef der Jean Frey AG. Auch von diesen Besuchen berichtete Jürg anschliessend in unterhaltend-abfälligem Ton. Wie er zum Beispiel, zusammen mit Walter Bosch, dem damaligen Chefredaktor der Annabelle, auf die Verlegerjacht eingeladen worden sei, wo auch Frauen als Gespielinnen anwesend gewesen seien. In den Augen Jürgs hatte Max Züge eines Mafiabosses. Eine andere Geschichte handelte davon, dass er für Max – die beiden waren selbstverständlich per Du – einen Flügel auswählen musste für dessen Schloss in der Toskana, unter der zusätzlichen Bedingung, dort dieses Instrument selbst ab und an auch zu bedienen. Als ob Jürg dafür Zeit gehabt hätte. Denn es kam mindestens einmal im Monat vor, dass er ganze Wochenenden in den Redaktionsräumen verbrachte. Wenn wir montags im Büro erschienen, lag der Schlafsack noch ausgebreitet auf dem Boden, sämtliche Aschenbecher waren voll mit seinen Kippen, und aus den Papierkörben stank es nach den nur halb fertig gegessenen Sandwiches. Er sagte dann bloss, so eine Familie, von der er getrennt lebte, koste halt. Deshalb redigierte er nebenher noch das 3M Kundenmagazin, was ihm vermutlich mehr Geld einbrachte als sein Chefredaktorlohn.
Zu meinen Aufgaben auf der Redaktion gehörten auch Strassenumfragen, die ich mit dem Fotografen Willy Spiller realisierte:
– Was sagen Sie zur Erhöhung der Strassenbahntarife?
– Wie verbringen Sie den Sommer in der Limmatstadt?
– Wohin würden Sie am liebsten verreisen, wenn Sie nicht auf ihr Portemonnaie achten müssten?
Auch die Betreuung des Züri-Leu-Cups, eines Eishockeyturniers auf der Kunsteisbahn Dolder, gehörte zu meinem Portefeuille, wie auch das wöchentliche Einholen der Kolumnen. Die Anlieferung von Werner Wollenbergers Texten war stets ein Derby. Seine Frau Elfie erschien auf der Redaktion am Talacker 39 mit dem Manuskript ihres Gatten regelmässig eine Stunde zu spät und fragte des Öfteren aufgelöst, aber charmant, ob der Züri Leu die Busse für die von ihr begangene Geschwindigkeitsübertretung übernehmen würde. Die Kolumnen Roman Brodmanns hingegen trafen meistens fristgerecht ein. Sie hatten es in sich. Scharfzüngig, angriffig, auf den Punkt gebracht. Mit Genuss übergab ich jeweils dem Boten diese gepfefferten Texte weiter zur Setzerei. Doch eines Tages vernahm ich, dass Max Frey in Begleitung von Jürg persönlich dort erschienen sein soll, Brodmanns Manuskript einverlangt und dessen Publikation verboten habe. Ich kann mich nicht mehr an den Inhalt erinnern, doch es erzürnte mich dermassen, und der Zorn traf auch Jürg, dem ich mangelndes Rückgrat vorwarf, dass ich kurz entschlossen meine Arbeit beim Züri Leu aufkündigte.
Jürg verübelte mir diese Aktion, und unser Kontakt beschränkte sich in den folgenden 40 Jahren auf zufällige Begegnungen an Vernissagen und anderen Events. Vor einigen Jahren jedoch setzte ich an einem Donnerstagabend meinen Fuss ins Hotel Eden au Lac, um mir seine Jazzband anzuhören. Dieser Altherrenklub berührte mich. Ich wusste nämlich nach meiner Pensionierung lange Zeit mit mir nicht sehr viel anzustellen und musste meinen Freiraum mit Aktivitäten füllen. Und da hörte ich diese Combo mit Jürg am Klavier, die trotz fortgeschrittenen Alters unbeirrt dem Jazz frönte. Das imponierte mir. In der Pause bestellte ich einen zweiten Gin Tonic und hatte ein sehr schönes Gespräch mit Jürg, der zu mir kam und vor Anekdoten nur so strotzte – wie immer. Er wollte unbedingt noch ein Buch über die Geschichte des Journalismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schreiben. Wer sonst, wenn nicht er, hätte das notwendige Wissen, die notwendigen Erfahrungen und den notwendigen Witz dazu gehabt.

© Nikolaus Wyss

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Freitag, 29. Dezember 2017

Wo liegt Panama Stadt? - Tagebuchnotiz

Ich halte mich zum ersten Mal in Panama City auf. Im Gegensatz zu Kolumbien kommt mir hier alles etwas amerikanischer vor. Die Autofahrer nehmen auf die Fussgänger hier eine Spur mehr Rücksicht. Alles ist auch ein bisschen teurer. Als Zahlungsmittel benützen sie den Dollar. 
Bis vor fünf Minuten war ich der felsenfesten Überzeugung, die Stadt liege an der Karibik. Für mich gab es nie etwas anderes. Verstörend war einzig, dass das Meer, das ich vom Hotelzimmer aus sah, nicht die für dieses Meer charakteristische blaugrüne Färbung aufwies. Ich dachte, das ist wohl dem Regenwetter geschuldet. Und jetzt, in der Mall des Shopping Centers Multicentro, wo ich mir einen Kaffee genehmige, sehe ich mir zum ersten Mal die Touristenkarte von Panama genauer an. Jemand hat sie mir tags zuvor am Flughafen zugesteckt. Und ich denke noch: jetzt haben sie auf dieser Karte ausgerechnet die Hauptstadt einzuzeichnen vergessen. Dort, wo ich sie ahne, steht Colon. Was soll denn das schon wieder? Erst beim zweiten Schluck Kaffee entdecke ich, dass die Stadt überhaupt nicht vergessen ging. Sie liegt nur woanders: im Süden des Landes, am Pazifik. Kann dies wahr sein? Meine Verblüffung ist komplett. Das Wasser, das ich da draussen sehe, ist der Pazifik! Nicht die Karibik! Nikolaus, wo bist du? Filterwechsel! 
Und jetzt überlege ich mir die ganze Zeit, woher mein Irrtum stammen mag. Kann es vielleicht an der unpräzisen Weltkarte liegen, die ich seit Kindsbeinen im Kopf habe? Mittelamerika wird auf der Höhe von Panama sehr schmal. Deshalb auch der Kanal dort. Deckt vielleicht der Punkt, der die Stadt markiert, beide Küstenstreifen ab? Aus der Geschichte weiss ich zudem, dass der Panama-Kanal ursprünglich eine französische Initiative war. Wahrscheinlich schloss ich daraus fälschlicherweise, dass deshalb auch die Stadt eine europäische Gründung sein müsse, ein Tor zum Westen, in die grüne Hölle und zum stürmischen Pazifik hinüber. Noch jetzt, beim Schreiben dieser Zeilen, kann ich mich kaum fassen. Welch ein Irrtum! Ausgerechnet mir, dem Weitgereisten, passiert sowas!
Die gesalzene Butter im Hotel macht so wenigstens Sinn. Es handelt sich um die Marke Anchor (since 1886) und stammt aus Neuseeland. Ich begegnete ihr schon in Hotels von Thailand und Indonesien. Klar doch, der Pazifik! Die Butter musste auf ihrer Anreise nicht einmal den Panama-Kanal durchqueren. So einfach ist das. Jetzt sehe ich die Stadt anders. 

© Nikolaus Wyss

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Freitag, 1. Dezember 2017

Das Frauenhaus von Getsemani

Ich weiss nicht, an welchen Wegmarken diese Geschichte noch vorbeikommen wird. Ich weiss nur, wie sie endet: in einer weihnachtlichen Sammlung für das Frauenhaus von Getsemani. Was für ein Ortsname für diese Jahreszeit! (Würde doch eher auf Gründonnerstag zutreffen...) Naja. Gerade vorhin habe ich mit meiner Bank in der Schweiz Kontakt aufgenommen und fragte nach, wie die Einrichtung eines Spendenkontos technisch funktioniere. Ich hoffe, ich bekäme die notwendigen Informationen bis zum Ende dieses Textes.
Getsemani ist eines von 14 Dörfern im Indio-Reservat von Caño Mochuelo am Rio Casanare weit draussen in den Llanos, der immensen und heissen Tiefebene im Osten Kolumbiens, wo Grossgrundbesitzer regieren, Rinderherden weiden, Vögel Paradiese vorfinden und besonders des Nachts urweltliche Schreie ausstossen, Anakondas im Unterholz ihr Fressen erwürgen, Kaimane in den Nebenarmen der Flüsse lauern und Mücken ihr Unwesen treiben. Es ist unwegsam. In der Regenzeit findet der Verkehr auf den Flüssen statt, in der Trockenzeit gibt es Trampelpfade durch endlose, steppenartige Landschaften, auf denen man sich am besten zu Pferd fortbewegt. Wer keine Angst vor platten Reifen hat, dem bieten sich als Alternative robuste Velos oder Motorräder an. 
Unsere Anfahrt schafften wir in zwei Tagen: Mit dem Flugzeug nach Arauca, wo wir übernachteten, und dann in einer sechsstündigen Fahrt in einem schweisstreibenden Bus
auf holpriger Naturstrasse bis nach Cravo Norte. Eigentlich wollten wir dort nach dieser anstrengenden Reise eine weitere Nacht verbringen, doch der örtliche Sicherheitschef, dem unsere Ankunft vorgängig gemeldet worden war, riet uns zur sofortigen Weiterreise: im Busch vernehme man verdächtige Bewegungen! Er wollte wegen uns wohl keine Scherereien bekommen. Vielleicht hatte er schon die Schlagzeile des El Espectador vor Augen: Schweizer entführt! Millionen-Lösegeld gefordert. Und er wäre an allem schuld gewesen... 
Im östlichen Teil Kolumbiens gibt es immer noch ein paar Guerilla-Nester der ELN. Vielleicht sind es auch Paramilitärs. Versprengte, kriminelle Banden, die im Zuge des einst blühenden Cocain-Narko-Imperiums von Pablo Escobar, der in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts ganz Kolumbien in Angst und Schrecken versetzte, ihre Rolle als Verteidiger irgendwelcher selbsterfundener Rechte fanden. Das Polizei-Hauptquartier in der Stadt Arauca schmückt zur Erinnerung an jene Zeit seinen Garten vor dem Hauptgebäude mit der beschlagnahmten Avioneta des Drogenkönigs.
So bestiegen wir, schon etwas erschöpft, in Cravo Norte ein bereits vollbepacktes Motorboot, das uns in zweistündiger Fahrt flussabwärts nach Getsemani brachte. Es nachtete ein, als wir von unserer Gastgeberfamilie Gualdron mit grossem Bahnhof empfangen wurden. Der Rektor des örtlichen Colegios, Don Alberto, war zugegen, das Pastorenpaar der evangelikalen Kirche kam vorbei, und eine Verwaltungsbeamtin aus Yopal, welche die Dorfbewohner für die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen registrieren liess, begrüsste uns und befreundete sich alsogleich - noch mehr als mit uns - mit dem Papagei der Gualdrons an. Am nächsten Tag jedenfalls flog das Viech, das nichts als absolut unerträglich und unaufhörlich krächzen kann, in Erinnerung an den vorangegangenen Abend direkt auf die Arme der jungen Frau und zerkratzte sie schön.
 Weitere Nachbarn stellten sich am Willkommensabend ein. Sie beäugten uns im Halbdunkel aus etwelcher Entfernung. Zum Schluss fuhr noch die Attraktion des Dorfes auf ihrem Motorrad vor: eine junge, schwarze Chemie-Lehrerin aus dem Choco, dem Westen Kolumbiens, die hierher versetzt wurde und sich rigoros zum Umweltschutz bekannte. Sie bat mich alsogleich, ihr bei der Evaluation von Abfallverwertungsmethoden zu helfen. 
Im Dorf gibt es kein elektrisches Netz. Jede Familie muss sich selber zu helfen wissen. Diejenigen, die sich einen Generator leisten können, bringen ihn abends zum Laufen, um Handys aufzuladen und eine halbe Stunde über Satellitenfernsehen das Neueste vom Tag zu erfahren. Fürs Licht jedoch ist der Kraftstoff zu teuer. Deshalb installierten wir unsere Hängematten bei Taschenlampenlicht und hatten erst am darauffolgenden Morgen Gelegenheit, bei Regen unser Werk zu begutachten.
Dann setzten wir uns zu Tische. Als Gäste wurden wir zuerst bedient. Alle anderen warteten, bis wir fertig gegessen hatten. Es gab Bohnen, Yuca und Reis. Diese Speisen sollten für die nächsten Tagen unsere Grundnahrungsmittel sein. Nein, nicht ganz. Unseretwegen schlachteten sie ein Rind. Was für eine Ehre!
Sein Fleisch begleitete unseren Aufenthalt in der Gestalt von Suppenknochen, Würsten, (zähen) Plätzlis, Kutteln, Leberli und Gelatine (für einen feinen Nachtisch). Andere Teile des Fleisches wurden den Nachbarn verkauft.
Schon am ersten Abend kam das drängendste Problem des Reservats zur Sprache: die Angst vor dem Verlust der eigenen Kultur. Wir waren zu Gast bei einer Sikuani-Familie. Ihre eigene Sprache sei am Sterben, sagten alle. Geeignete, attraktive Lehrmittel scheint es keine zu geben, und die Jungen sehen auch kaum mehr einen Sinn darin, die Sprache ihrer Eltern zu lernen, mit welcher sie ausserhalb des Dorfes überhaupt nichts anfangen können (weitere Sikuani-Dörfer gibt es nur noch in ein paar hundert Kilometern Entfernung, in anderen Reservaten). In diesem Reservat Caño Mochuelo jedoch wurden in den letzten 30 Jahren neben den Sikuanis noch sieben weitere Ethnien mit unterschiedlichsten Sprachen zusammengeführt und angesiedelt, ungefähr die Hälfte davon waren zuvor Nomaden. Sie verstehen einander nicht. Das Spanische als lingua franca hingegen höhlt die sprachliche Identität der einzelnen indigenen Gemeinschaften aus. 
Hätte ich ins erwartete Mitleid und Bedauern einstimmen sollen? Dieser beklagte Verlust schien mir unter diesen Umständen nur logisch und ist wohl Folge von jahrhundertealten Versäumnissen, Vertreibungen und politischen Fehlentscheidungen. Kommt hinzu, dass die modernen Kommunikationsmittel, die Globalisierung, die wirtschaftlichen Verstrickungen und Abhängigkeiten dem Erhalt von sehr kleinen, isolierten, kulturellen Einheiten nicht förderlich sind. Wie könnte der tief empfundene Verlust, diese Verunsicherung der eigenen Identität, mit irgend etwas Attraktivem, Zukunftsträchtigem aufgewogen werden? Das Zurückdrehen des Rades kann doch nicht die Antwort sein auf die herrschende Ohnmacht.
Während unserer Anwesenheit im Dorf standen Festivitäten an. Wir freuten uns darauf, bis wir vernahmen, dass der Gobernador des Reservats unsere Teilnahme kategorisch ablehnte. Als wir nach den Gründen fragten und um ein klärendes Gespräch baten, liess man uns wissen, dass er jetzt wegen übermässigem Alkoholkonsum für die nächsten 24 Stunden nicht ansprechbar sei. Später lockerte die Junta der Dorfältesten das Verbot ein wenig und erlaubte uns zuzuschauen, allerdings mit der Auflage, keine Fotos zu schiessen.
Es gab Kinderprogramme, kulturelle Events, an denen Gesänge aus dem eigenen Dorf vorgetragen wurden, Festspeisen, und am zweiten Abend Tanz (am ersten regnete es). Am Spannendsten waren die Fussballspiele. Zum einen diejenigen auf den Micro-Plätzen, wo eine Mannschaft nur aus fünf Spielern und einem Torhüter besteht, und wo sich vor allem einsatzfreudige Frauenmannschaften hervortaten. Zum anderen die Burschen auf dem grossen, unebenen und von Löchern durchsetzten Rasen, wo sie mit einer Verbissenheit sondergleichen um den Gesamtsieg kämpften. Im Final kam es nach einem 4:4 in der regulären Spielzeit zum Penalty-Schiessen zwischen Getsemani und Morichito. Erstere gewannen. Sie hatten offenbar die stärkeren Nerven. Abends kippte dann die Stimmung zu unseren Gunsten. Zum einen wurden wir plötzlich ausgiebig als Schweden (suecios statt suizos) gefeiert und herumgereicht, zum anderen waren wir ein willkommener Vorwand, mit uns noch eins mehr über den Durst zu trinken.
In den folgenden Tagen besuchten wir mit dem Motorrad noch andere Dörfer, wo uns dasselbe Bild in unterschiedlicher Gestalt begegnete.
Dasselbe Jammern über die sterbende Sprache und den Niedergang der Kultur. Vor den Hütten flochten Frauen schöne Körbe, Hüte, Taschen oder Armbänder, um sie nach der Fertigstellung einem Zwischenhändler in Kommission zu geben, der sie dann in Bogota auf den Markt bringt. Fast nichts bleibt ihnen von diesem Handel übrig. Gleichwohl, es sind die Frauen, die mit dem Fleiss der Verzweiflung versuchen, einigermassen anständig über die Runden zu kommen.
Auch wenn sie im Reservat die unterschiedlichsten Sprachen sprechen: in ihren kunsthandwerklichen Produkten lässt sich eine einheitliche gestalterische Linie erkennen. Sie alle häkeln und knüpfen und flechten und schleifen und färben und feilen an einem Strick, und ich hätte nicht unterscheiden können, ob jetzt diese Tasche nur von der einen Ethnie und dieser Schmuck nur von der anderen stammt. 
Zum Schluss unserer Explorationstour zeigten uns dann die Leute noch ein Haus stattlichen Ausmasses, das, so sagten sie, eigentlich als Frauenhaus und Handwerkszentrum für die ganze Region gedacht gewesen sei (siehe Bild ganz oben). Eine Tafel über dem Eingang erinnert daran, dass die katholische Stiftung Populorum Progressio diesen Bau ermöglicht hatte. Im Andenken an deren Gründer, Papst Paul VI, der 1968 Kolumbien besucht hatte, in Würdigung des Kolumbien-Besuches von Papst Johannes Paul II 1992, und in Erinnerung an den kürzlich stattgefundenen Besuch von Papst Franziskus unterstützt dieses Werk Initiativen, welche die Selbstbestimmung verschiedener Volksgruppen stärken soll. - Doch das Haus in Getsemani blieb leer.

Es fehlten wohl Gemeinsinn und noch vielmehr Geld, um diesem Rohbau Leben einzuhauchen. 
So, und hier sind wir nun. Schnell stand angesichts dieses grossen Rohbaus, in welchem sich so vieles machen und herstellen liesse, und der die Frauen vor Ort zu neuen Zielen und Vorhaben inspirieren könnte, mein Entschluss fest, zu versuchen, für die Belebung dieses Zentrums Geld zu sammeln. Meine Bank konnte mir dabei nicht helfen. Doch dann kamen mir die Freunde der Crowd-Funding-Organisation wemakeit in den Sinn. Und so entwickelte ich ein kleines Projekt, das ich hiermit zu weihnächtlichem Markte trage: Das Frauenhaus von Getsemani. Ich würde mich sehr freuen, wenn sich geneigte Leserinnen und Leser dieses Blogs finden würden, die diese Idee unterstützen könnten. Mit einem Click auf diese Zeilen befindet man sich bereits im Projekt. Jede Spende, so klein sie auch sein mag, ist willkommen. Besonders willkommen sind natürlich auch grosse Spenden mit der Aussicht, das Frauenhaus persönlich in Augenschein zu nehmen. Vielen Dank. 

© Nikolaus Wyss

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Montag, 13. November 2017

Wiedersehen mit Jin Xing

Mit Jin Xing in den Studios der Jin Xing Dance Company im Nordwesten Shanghais

Vielleicht ist die Geschichte einfach die, dass ich stolz zeigen möchte, dass ich mit jemandem befreundet bin, der in den letzten fünfzehn Jahren in China zum Megastar herangewachsen ist. Wöchentlich sehen im Schnitt 150 Millionen Chinesen ihre Fernsehshows. Dazu hostet sie auch noch eine Kindersendung und eine Dating-Show. Auf allen Kanälen gilt sie als die Oprah Winfrey Chinas. Sie heisst Jin Xing.
Ich kenne sie seit 2003. Damals suchten wir für unseren internationalen Kongress europäischer Kunsthochschulen, der im Luzerner KKL unter dem Titel Challenging the Frame stattfinden sollte, einen Keynote-Speaker. Da kam jemand im Organisationskomitee auf die Idee, diese Frau anzufragen. Bedenken hatten wir lediglich, ob sie vor kritischem Publikum sprechen und Zeit für uns opfern wollen würde. Kurz zuvor war im Fernsehen ein Dokumentarfilm über sie gelaufen. Bis zu ihrem 28. Altersjahr war sie ein Mann, gefeierter Solotänzer und Oberst der chinesischen Volksarmee. Nach einer Geschlechtsangleichung – wie das heute heisst –, gründete sie ihre eigene Tanzkompanie, adoptierte drei Kinder aus einem Waisenhaus, heiratete einen deutschen Geschäftsmann und tourte als Choreografin und Tänzerin durch die halbe Welt. Ich traf sie damals nach einem Auftritt in der Berner Dampfzentrale. Sie sagte ohne Umschweife zu. Ein Jahr später stand die zierliche Frau bei uns auf der Bühne und begann ihre Ansprache mit der Bemerkung, dass sie als früherer Offizier sehr wohl wisse, wie man Brücken sprenge und das Magazin eines Maschinengewehrs wechsle. Später zeigte sie Videoausschnitte aus ihrem künstlerischen Schaffen und eroberte so das Publikum.
Ich wusste später lange Zeit nicht, ob wir seitdem wirklich befreundet sind. Ich hätte für mich nie in Anspruch zu nehmen gewagt, diesen Kontakt als Freundschaft zu bezeichnen, obwohl er mich stets inspirierte und bereicherte. Sie war schliesslich eine umschwärmte Berühmtheit, schon damals, nicht zuletzt wegen ihrer körperlichen Selbstfindung. Sie war und ist noch heute deswegen in China eine Sensation und macht ihre Auftritte damit doppelt interessant. Ich besuchte sie später einige Male in Schanghai oder reiste zu ihren Aufführungen irgendwo in Europa. Das mit der Freundschaft klärte sich dann, als sich Jin Xing, Jahre später, bei mir einmal beklagte, ich hätte sie bei einem meiner Aufenthalte in Schanghai nicht aufgesucht. Da begriff ich, dass sie mich offenbar zu ihrem Freundeskreis zählte.
Sie hatte so viele Pläne, so viele Sorgen auch. Wird sie die Existenz ihrer Dance Company sichern können? Ich wohnte einige Male Proben bei. Da war sie jeweils der unerbittliche militärische General. Vorher und nachher aber sprach sie zärtlich von ihren Tänzerinnen und Tänzern.
Sie war ein von Unruhe und stets neuen Plänen besessener Star. Heinz Gerd, ihr Mann, mit dem ich mich in der Zwischenzeit auch befreundet hatte, half ihr beim Geschäftlichen und fuhr überdies die Kinder in die Schule. Die beiden überlegten sich, sie zur weiteren Ausbildung in die Schweiz zu schicken. Ich sandte ihnen darauf Prospekte und Links entsprechender Institutionen. Aber es scheiterte an den fehlenden Pässen. Es scheint für Kinder in China, die über keinen Geburtsschein verfügen, und das war bei diesen drei Waisen der Fall, sehr schwierig zu sein, zu offiziellen Papieren zu kommen.
Jin Xing überlegte sich auch, in Europa einen Ableger ihrer Dance Company zu gründen. Doch dann verwarf sie die Idee wieder und blieb in Schanghai. Ihre Entscheide basierten meistens auf Ratschlägen weiser Sterndeuter und auf wichtigen Zeichen numerischer Art. Inzwischen sind die Kinder herangewachsen. Der älteste Sohn besitzt mittlerweile einen Pass und besucht neuerdings ein College in England.
Und jetzt: Seit sie mit einer eigenen wöchentlichen Talkshow im staatlichen Fernsehen Fuss gefasste hat, gehört sie zu den ultimativen Celebrities des Riesenreiches. Sie wird, zusammen mit dem chinesischen Staatschef Xi Jinping, ans World Economic Forum nach Davos eingeladen, wohnt in Schanghai im 26. Stock des Governor House in der Suite, in welcher US-Präsident Richard Nixon bei seinem Chinabesuch im Februar 1972 abgestiegen ist, und das Ledersofa im Wohnraum erinnert an die Unterredungen zwischen Henry Kissinger und Deng Xiaoping. Um zu ihren Studios zu gelangen, verlässt sie das Haus durch den Hinterausgang in einem Auto mit Sichtschutz. Fans belagern regelmässig den Vordereingang.
In ihren Shows gibt es aber unumstössliche Tabus: keine Politik zum Beispiel, keine Sozialkritik, keine sexuellen Themen. Um all diese Klippen zu umschiffen, beschäftigt sie ein grosses Team von Stichwortgebern. Einmal hatte sie Brad Pitt zu Gast, der sich schon öfters als Tibet-Freund zu erkennen gegeben hat. Die Sendung wurde in der Folge nicht ausgestrahlt.
Mein Besuch 2017 in Schanghai fiel zusammen mit dem in Beijing tagenden Volkskongress, wo die Richtung Chinas für die nächsten fünf Jahre festgelegt und der Vorsitzende für eine weitere Amtsperiode bestätigt wurde. Auch damals wurde die Jin-Xing-Show zwei Wochen lang ausgesetzt.
Neben ihrer TV-Tätigkeit tourt sie mit ihrer Dance Company durch ganz China. Jetzt geht es nicht mehr ums nackte Überleben, jetzt geht es um die Befeuerung eines Apparates, den ich Jin-Xing-auf-dem-Höhepunkt-ihrer-Karriere-in-China nennen würde. Was für ein ausserordentlicher Lebenslauf. Ich wüsste nicht, was jetzt noch mehr zu erreichen wäre. Vielleicht einmal eine Lateinamerika-Tournee? Ich wäre dann für Kolumbien zuständig.
Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere scheinen mir aber die Opfer in Form von Beschränkungen der freien Meinungsäusserung gross, die Einschränkungen im Privatleben auch. Einen gewissen Ausgleich schafft wenigstens ein Leben in Luxus.

© Nikolaus Wyss

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Samstag, 4. November 2017

Vorwürfe am Wegrand


Dieses verwackelte Bild eines Wartehäuschens, das ich auf der Strecke zwischen Chiang Mai und Chiang Khong vom fahrenden Bus aus schoss, gemahnt mich an das ultimative Scheitern eines Vorhabens, das mich fast 50 Jahre lang auf all meinen Überlandreisen umtrieb. Immer wieder waren mir Wartehäuschen auf der Strecke ins Auge gestochen: in Algerien, Mali, Ghana, Nigeria, Kenia, Tansania, in Indien, China, Malaysia, Indonesien, Thailand, Vietnam, in Kolumbien, Brasilien, Peru, Chile, auf dem Balkan, im hohen Norden, in der Schweiz, wo auch immer. In ihren unterschiedlichsten Formen gewähren sie Schutz für die, die auf die nächste Transportmöglichkeit warten. Oft nehmen die Bedachungen Gestaltungsformen der örtlichen Baukultur auf. Auf der einen Strecke scheinen sie alle aus einem Guss zu sein, hingestellt von einer kundenfreundlichen Busfirma oder vom Transportministerium der Provinz. Auf anderen Strecken wiederum entsprechen sie jeweils dem lokalen Gusto, dem vorhandenen Konstruktionsvermögen und den zur Verfügung stehenden Mitteln. Improvisiert hier, mit beschattenden Palmblättern überdacht, komfortabel dort mit Windschutz und Sitzbänken ausgestattet.
Mein Vorhaben hätte darin bestanden, eine Bild-Dokumentation der unterschiedlichsten Wartehäuschen auf der ganzen Welt anzulegen, ergänzt mit Porträtaufnahmen von Wartenden und Notizen über meine Begegnungen am Strassenrand. Wie lange warten Sie schon? Wohin fahren Sie und zu welchem Behufe? Wieviel kostet die Fahrt? Wo wohnen Sie? Et cetera. Es hätte ein Kompendium weltumspannender Wartekultur und überraschender Geschichten werden können. Vielleicht etwas schräg im Ansatz, doch durchaus interessant, aufschlussreich und unterhaltsam im Resultat. Als Buch oder, heutzutage, als Website.
Gezuckt hat es mich jeweils, den Chauffeur zu bitten anzuhalten und mich aussteigen zu lassen, um das Schicksal des Wartens mit Ortsansässigen zu teilen. Was soll mich die fahrplanmässige Ankunftszeit meines Reisebusses am Zielort kümmern? Schliesslich holt mich niemand dort ab, umarmt und küsst mich. Im Normalfall musste ich mir dort immer selbst zuerst eine billige Absteige suchen und den weiteren Verbleib organisieren. Was hätte es mich gekostet, ein paar Tage später erst am Zielort einzutreffen, dafür aber einen Kratten voller Wartehäuschen-Materialien gesammelt zu haben für mein Vorhaben?
Aber nein, mir fehlte der Mut. In den entscheidenden Momenten erwies ich mich als feige, als Verräter meiner eigenen Idee. All die Jahre habe ich es nie fertiggebracht, meinem Vorhaben den notwendigen Raum zu gewähren. Immer bin ich weitergefahren und habe mir höchstens noch überlegt, am nächsten Tag mit einem Motorrad dorthin zurückzukehren, was ich natürlich nie in die Tat umsetzte. Ich brachte die Geduld, mich auf die Wartehäuschen einzulassen, nicht auf. Dabei hätten mich diese Objekte wohl viel weitergebracht, als ich es mit meinen reibungslosen Busreisen geschafft habe. Sie hätten mich vor witterungsmässiger Unbill beschützt, mich am Kosmos der Einheimischen teilhaben lassen und mich an Erfahrungen und Material reich gemacht. So aber kam ich zwar pünktlich am Zielort an – und die Wartehäuschen blieben auf der Strecke.
Mit der Zeit wurde mir jedes Objekt dieser Art, dessen ich ansichtig wurde, zur Qual. Es verkörperte den Vorwurf eines nicht eingelösten Versprechens. Diese Erscheinungen am Strassenrand verleideten mir mit der Zeit sogar das Busreisen. Natürlich hätte ich das nie zugegeben und nannte eher Rückenschmerzen oder die engen Sitzverhältnisse als Rechtfertigung, fast vollständig von Busfahrten abzusehen. Der wahre Grund meiner steigenden Reiseunlust aber ist, dass ich nicht weiter von diesen Wartehäuschen verhöhnt werden wollte. Sie erinnerten mich schmerzvoll an mein Unvermögen, einen Plan, den ich für gut befunden hatte, in Angriff zu nehmen und umzusetzen.
Das verwackelte Bild, das Ausgangspunkt dieses Textes bildet, steht nun dafür. Und so wird es bleiben.

© Nikolaus Wyss

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Mittwoch, 18. Oktober 2017

Das Drama vom Rösslibrunnen


Ich weiss nicht, wie wir Kinder auf die verwegene Idee kommen konnten, diesen Brunnen mit dem sich mächtig aufbäumenden, Furcht einflössenden Hengst Rösslibrunnen zu nennen. Hier setzt sich kein Rössli in Szene oder lädt gar zum Ritt an der Longe ein. Nein, hier verteidigt gebieterisch ein mächtiges Pferd sein Revier, kämpft mit einem unsichtbaren Nebenbuhler um eine Stute oder imponiert Zuschauer im Zirkus mit seinem wilden, muskelstrotzenden, aufrechten Gang.
Der Brunnen am Zürcher Hirschengraben soll an das Geschlecht der Manesse erinnern, einer weitverzweigten Patrizierfamilie aus dem Mittelalter, die grossen Einfluss auf die Geschicke der Stadt ausübte, Bürgermeister stellte und während zweier Jahrhunderten ununterbrochen im Rat von Zürich vertreten war. Ihr Stammsitz mit seinem turmartigen Aufbau steht mit der Hausnummer 33 eingangs Kirchgasse unmittelbar daneben.
Auf dem Wappen der Manesse sind zwei Ritter zu sehen. Hat das Pferd einen von denen abgeworfen und schlägt jetzt den anderen in die Flucht? Oder symbolisiert sich hier das Gebieterisch-Edle dieses Geschlechts, das sich mit der Manessischen Liederhandschrift im Zürcher Kulturleben unsterblich machte? Diese Skulptur manifestiert meines Erachtens eher die kriegerische Neigung der Familie und nicht ihr kulturelles Flair. Vielleicht war es auch nur eine Verlegenheitswahl, mit diesem Pferd den Manesses zu gedenken. Vielleicht waren da ganz zu Anfang einfach das Modell eines sich aufbäumenden Pferdes von Arnold Hünerwadel und der dringende Wunsch des Bildhauers Johann Rigendinger, so einen Brunnen zu realisieren. Und als es um die Frage ging, woran er denn erinnern soll, kam der Brunnenwahlkommission die Idee, man könnte damit der Familie Manesse gedenken.
Seis drum. Für uns Buben war der Rösslibrunnen Treff- und Ausgangspunkt unserer Streifzüge durch die Zürcher Altstadt. Im Chamhaus unmittelbar neben dem Brunnen wohnte Jean-Michel, an der Unteren Zäune Willy, an der Oberen Zäune Albert und ich an der Winkelwiese. Rolf aus der Froschaugasse gehörte genauso zu unserer Bande wie Edi aus der Oberdorfstrasse und Martin aus der Frankengasse.
An den Schulsilvestern rotteten wir uns in aller Herrgottsfrühe vor dem Brunnen zu lärmigen Umzügen zusammen, um mit Pfannendeckeln, Trillerpfeifen und Rätschen die Altstadt unsicher zu machen. Ergänzt wurde das laute Repertoire durchs Glögglispiel: Wir läuteten an jeder Hausglocke. Als Reaktion schütteten manchmal entnervte Bewohner einen Kübel kaltes Wasser auf die Gasse, was dann lautes Gejohle zur Folge hatte. In der Regel gefror das Wasser sofort und bildete so eine willkommene Rutschbahn.
Meine Mutter hatte diesen Aktivitäten gegenüber stets ein zwiespältiges Gefühl. Sie verstand zwar die unbändige Lust von uns Jungen, uns einmal im Jahr im Schatten der Nacht so richtig austoben zu können, doch sie hatte auch Bedenken, dass ich mich erkälten, dass ich in schlechte Gesellschaft geraten, dass ich eine Zigarette rauchen oder dass ich mich verletzen könnte.
An einem dieser Schulsilvester, ich mochte neun oder zehn Jahre alt gewesen sein, setzte sie zu einer Doppelstrategie an. Der Deal lautete: Du darfst morgens um vier auf die Gasse, aber ich koche auf halb sechs heisse Schokolade, und du kommst mit all deinen Freunden zu einem frühen Frühstück in die warme Stube. Ich erinnere mich noch, wie sie zu diesem Behufe beim Milchmann Wettstein noch ein Extrakessi Milch bestellte und bei Burch Comestible an der Rämistrasse Schokoladenpulver und Zucker einkaufte. Ich wiederum machte unter uns Jungs die Einladung bekannt. Alle fanden es eine tolle Idee. Obwohl wir beabsichtigten, gemeinsam die Altstadt zu beschallen, machten wir sicherheitshalber doch noch auf halb sechs beim Rösslibrunnen ab, sollten wir uns im Getümmel verlieren. Von dort aus wären wir dann gemeinsam zur heissen Schokolade geschritten.
Die geneigten Leserinnen und Leser ahnen es schon. Ich traf niemanden von uns zum frühmorgendlichen Lärm. Wo mochten sie bloss geblieben sein? Es war so klirrend kalt. Ich schlich leise auf frostigen Sohlen durch die Gassen, hörte Gejohle von weit her, machte aber keinen von uns ausfindig. Um halb sechs dasselbe: Niemand fand sich zum vereinbarten Zeitpunkt beim Rösslibrunnen ein. Ich wartete und wartete. Tränen der Verzweiflung gefroren auf meinen Backen. Nach einer Ewigkeit rannte ich nach Hause, wo Mutter mehrere Liter heisser Schokolade am Köcheln hielt. Ich klammerte mich an ihre Schürze und schluchzte bis zur Erschöpfung.
So viel von meiner Seite zum Rösslibrunnen. Seither habe ich nie mehr an einem Schulsilvester teilgenommen.

Dienstag, 17. Oktober 2017

Goodbye Barbara

Auf diesem Bild unterhalte ich mich mit Barbara Göpel anlässlich ihres 90. Geburtstages. Das muss 2012 gewesen sein in ihrer Wohnung im Münchner Schwabing-Quartier. Sie war eine Freundin unseres Hauses. Ich erinnere mich, wie sie und ihr Mann Erhard in den 50er und 60er Jahren jeweils bei uns an der Winkelwiese mit einem VW-Käfer vorfuhren und bei uns speisten oder wenigstens einen Tee tranken. Anlass ihrer Fahrten in die Schweiz waren die Kunstauktionen bei Kornfeld und Klipstein in Bern. 
    Ich glaube, meine Mutter kannte Erhard Göpel noch von ihrem Studium in Berlin her. Vor dem Krieg. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass die beiden damals etwas zusammen hatten. Er war für meine Mutter jedenfalls die erste und wichtigste Adresse in Kunstfragen. Auf seine Empfehlung hin erwarb sie sich mit ihrem wenig Ersparten hie und da ein damals noch erschwingliches, grafisches Blatt von Picasso, Beckmann, Auberjonois, Arp oder Toulouse-Lautrec - durchaus auch als Geldanlage verstanden. Und als es ihr nach der Pensionierung zuweilen an flüssigen Mitteln mangelte, verkaufte sie das eine oder andere Blatt mit gutem Gewinn.  - Was mir damals nicht klar war, und was auch meine Mutter Zeit ihres Lebens gegenüber mir nie zum Thema machte: Erhard Göpel war während der Nazi-Zeit ein dicker Fisch. Als Kunstsachverständiger sammelte er für den Führer Bilder und wurde von höchster Stelle mit Raubkunstaufträgen betraut, indem er sich massgeblich an der Enteignung von Kunst jüdischer Sammler beteiligte, die entweder ausser Landes geflohen waren oder in einem den zahlreichen Vernichtungslagern zu Tode kamen. Ich als Teenager hingegen bewunderte und belächelte die beiden, wie sie ihr ganzes Leben der Kunst widmeten, in München ein bescheidenes Leben führten und auf Reisen in billigen Absteigen Halt machten. Als grosses Vorhaben wollten sie den Werkkatalog von Max Beckmann herausgeben. Da starb Erhard Göpel. Barbara schickte sich darauf an, das angefangene, umfangreiche Werk zu vollenden und mauserte sich über die Jahre zur absoluten Beckmann-Spezialistin. Sie kam weiterhin zu Kunstauktionen in die Schweiz, jetzt allein, und ich amüsierte mich köstlich über ihre Erzählungen, welche Schwierigkeiten ihr die bockige Witwe Beckmann bereitete, die dem Ansinnen der Göpels Steine, wo sie nur konnte, in den Weg legte. 
    Als junger Erwachsener machte ich später auch ab und zu Besuche bei ihr in München. Sie wohnte in einem Hinterhaus an der Kaulbachstrasse. Der Weg dorthin führte durch einen etwas verwilderten Garten. Im unteren Geschoss befanden sich eine Kunstbibliothek, ein Arbeitsraum und ein Gästezimmer, wo ich nächtigen durfte. Nach oben führte eine schmale, steile Treppe zu Küche und Bad, dort tat sich auch das grosse, atelierartige Zimmer auf, in welchem diese Aufnahme gemacht wurde.
    Zwischen Barbara und meiner Mutter gab es zuweilen eine Art Rivalität. Mit Argwohn verfolgte Barbara die schriftstellerische Karriere meiner Mutter. Laure Wyss erinnerte sich in ihren Erzählungen und Romanen gerne an wirklich stattgefundene Erlebnisse. Sie berichtete darüber in schonungsloser Offenheit, welche den Betroffenen zuweilen sauer aufstiess. Barbara hielt die Arbeit meiner Mutter deswegen für grenzwertig. Doch als sie allmählich begriff, dass meine Mutter damit ein weiteres Mal Karriere machte und sowohl in kulturellen wie auch in politischen Kreisen mit ihrer Literatur Anklang fand, stellte sich Barbara darauf ein, Begeisterung zu markieren. Meine Mutter hingegen hielt wohl die Arbeit am Beckmann-Katalog für eine nicht sehr inspirierende Fleissarbeit, die ewig lang keinen Abschluss fand. Gleichwohl besuchten sie sich mehrere Male in den Ferien in Frankreich. Jetzt fuhr Barbara einen Volvo (meine Mutter einen Saab).
    Es müssen nun zwanzig Jahre her sein, als ich erstmals begriff, dass Barbara in der Zwischenzeit stinkreich geworden war. In ihrem Atelierzimmer hing zum Beispiel ein in Oel gemaltes Selbstporträt von Max Beckmann, das an Auktionen glattweg mehrere Millionen hätte erzielen können. Sie verwahrte zudem viele kostbare Blätter unterschiedlichster Künstler in einem Banksafe. Ab und zu stiftete sie ein Werk dieser oder jener Institution. Wenn sie selbst Geld brauchte, gab sie ein Bild an eine Auktion und lebte vom Erlös auf Jahre hinaus. Doch ihre Bescheidenheit blieb, und ihre Einsamkeit wuchs. Ich mochte sie sehr, wir waren uns zugetan, sie kam auch zur Abdankung meiner Mutter. Später meldete sie sich nicht mehr bei mir. Und wenn ich sie anrief, so musste sie zweimal nachfragen, wer ich sei. Und wenn sie mich dann gleichwohl identifizierte, so behauptete sie jedes Mal zuverlässig: "Nikolaus, du Lieber. Ich wollte dir schon lange schreiben..." Und wenn ich sie dann fragte, was sie den lieben langen Tag so mache, pflegte sie halb resigniert, halb amüsiert zu sagen: Ich schaue Fussball. Bundesliga.
    Vor einigen Jahren, da war sie schon ziemlich wackelig und spindeldürr, besuchte sie in Begleitung eines befreundeten Paares, das sich rührend um sie kümmerte, in Zürich eine Picasso-Ausstellung. Ich war so glücklich zu sehen, wie sehr sie umsorgt und gestützt wurde. Diese Hilfeleistungen der beiden nahmen in den folgenden Jahren noch um ein Vielfaches zu. Ich bewunderte die beiden, wie sie sich mit Eleganz und Langmut dieser Pflichten entledigten. Von ihnen bekam ich auch die Nachricht, dass Barbara jetzt in ihrem 95. Lebensjahr verstorben sei

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© Nikolaus Wyss

 

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Mittwoch, 11. Oktober 2017

Auf dem Amakong


Auf diesem Foto sieht man mich als glücklichen Passagier den Mekong hinunterfahren. Vor mir auf dem Teaktisch eine Früchteschale, im Hintergrund der braunfarbene Fluss. Als einschläfernde Geräuschkulisse hörte ich das regelmässige Tuckern des Motors im Heck, dort, wo die Kapitänsfamilie ihre Kajüte bewohnte, dort, wo die köstlichen Mahlzeiten zubereitet wurden. Wenn es Stromschnellen passierte, ächzte das Boot. Wir glitten dem Urwald entlang flussabwärts, hingen unseren eigenen Gedanken nach und dösten zuweilen ein.

Der Eindruck der Erhabenheit dieses Flusses kann man nur vom Ufer aus vollumfänglich erfassen. Von dort aus siehst du die ruhende Landschaft, durch die sich dieser grosse Strom geräuschlos, langsam, aber stetig seinen Weg bahnt. Seit Jahrtausenden. Tag und Nacht. Unbeirrt. Dringlich, aber ohne Hetze. Wenn du dich jedoch selbst auf dem Wasser befindest, so tritt das Majestätische zugunsten einer anderen Erfahrung in den Hintergrund. Es sind die unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Bewegungen, die du nun leise tagträumend beobachten kannst. Das Boot im Verhältnis zum Flusslauf, die Strudel im Verhältnis zur Gischt, die anderen Boote im Verhältnis zum eigenen, das Ufer im Verhältnis zu den dahinter liegenden Hügeln, die Wolken im Verhältnis zur Sonne, die Vögel im Verhältnis zum Auspuffrauch. Alles bewegt sich in eigenem Tempo. Es ergibt keinen Rhythmus. Und doch befindet sich alles in geordnetem Ablauf.

Die Beobachtung erinnerte mich an meine Flussfahrt auf der Lord Kelvin den Amazonas hinunter. Vor nunmehr rund 50 Jahren. Das Boot war übervoll, die Indios bezahlten die Fahrt mit Schildkröten, die bis zu ihrer Verspeisung kopfüber in die Luft paddelten. Die Toilette war so schrecklich, dass wir Männer über Bord pinkelten und dabei die Frauen mitleidig anlächelten ... Von dieser Fahrt gibt es keine Aufnahmen. Die Kamera und sämtliches Gepäck wurden mir nach der Ankunft in Belém gestohlen. In Erinnerung sind mir aber die verschiedenen Tempi der Horizonte geblieben, wie ich sie jetzt wieder auf dem Mekong beobachtete. Damals kamen zusätzlich noch Zeitverzerrungen dazu, wie sie sich beim Rauchen von Marihuana einstellen. Zudem schliefen wir in schaukelnden Hängematten. Das verlieh den komplexen Bewegungsabläufen noch eine zusätzliche Dimension.



Die Flussfahrten von damals und von heute scheinen mir wie eine Klammer meines Erwachsenenlebens zu sein. Damals machte ich mich auf zu neuen Horizonten, jetzt verabschiedete ich mich von diesen. Auf dem Mekong war mir der Gedanke gegenwärtig, hier vermutlich nie mehr vorbeizukommen. Dieser Gedanke war mir auf dem Amazonas fremd gewesen. Damals hatte ich Pläne, das nächste Mal in Manaus und in Santarém länger zu bleiben. Ein anderes Vorhaben war, den Rio Negro hinaufzufahren oder auf dem Amazonas bis nach Iquitos vorzudringen. Hier auf dem Mekong hingegen tauchte bei aller Schönheit dieser Fahrt in keinem Augenblick der Wunsch nach einem Wiedersehen auf. Auch die Lust, weiter stromabwärts bis nach Kambodscha zu schippern, um nachzuschauen, wie sich dieses Land verändert hat, stellte sich nicht ein. So wird das Kambodscha meiner Erinnerungen das Land der Roten Khmer bleiben. Unvergesslich der Schusswechsel unmittelbar am Eingang zu Angkor Wat und kurz darauf die wilde Anfahrt zweier Militärcamions voller süsser Kindersoldaten mit geladenen Sturmgewehren. Eindrücklich das Totenhaus mit Tausenden von Schädeln, die ans Schreckensregime der Roten Khmer und an die systematische Vernichtung von geschätzten zwei Millionen Menschen erinnern sollten. Unvergesslich eines der damals raren, unbeschädigten Hotels in Phnom Penh, wo ich das schmuddelige Zimmer mit einem chinesischen Geschäftsmann teilte. Abends vergnügte er sich im Dunkeln mit einer Prostituierten, derweil ich mich schlafen stellte. – Wie mag sich das Land in der Zwischenzeit entwickelt haben? Ich war mir sicher, ich würde es, mit Ausnahme des Königspalastes und des wunderbaren Blicks auf den Tonle Sap, einem Zufluss zum Mekong, nicht mehr wiedererkennen. So weit so gut.

Mich stimmen diese Feststellungen nicht traurig. Es ist ein wunderbares Gefühl, die Neugier hinter sich zu lassen und wunschlos zu geniessen. Ich fühlte mich wie Treibholz im Strom, das nicht weiss, welches Ungeheuer es darstellt und was es in der nächsten Biegung noch erwartet. Werde ich an Land geschwemmt? Bleibe ich in einem Strudel hängen? Nur eines ist gewiss: Es geht abwärts, und am Schluss lande ich im ewigen Meer.
Auf dem Mekong wollte ich nicht wissen, wie es weitergeht mit diesem Strom, sonst hätte ich bedauernd, ja, entsetzt zur Kenntnis nehmen müssen, dass ich zwei Jahre später diese Reise gar nicht mehr hätte antreten können, weil dann bereits die Bagger aufgefahren und zwei Staudämme errichtet worden wären. Ich will nicht wissen, dass dieser Landschaft grosse Veränderungen bevorstehen. Dorfbewohner müssen umgesiedelt werden, die Boote werden ihre liebe Mühe haben, die Schleusen zu passieren, und aus grosser Ferne, von Vietnam her, werden Reisbauern und Fischer des Deltas Klage erheben gegen den Irrwitz, diesem Fluss Elektrizität abzugewinnen und ihn dadurch zu bändigen. Nein, ich werde nie mehr diesen Mekong hinunterfahren. So wenig, wie ich ein zweites Mal auf dem Amazonas gefahren bin, aller Vorsätze zum Trotz.

Dienstag, 3. Oktober 2017

Wieder in Bogotá

Nächtliche Taxifahrt bei offenen Fenstern...

Da kommst du nach einer überlangen Flugreise, deren Unterhaltungswert insofern Erwähnung verdient, als sich die Toiletten der Business Class in Sichtweite der Economy-Passagiere befinden, während diejenigen der Letzteren meilenweit hinten im Flugzeugrumpf installiert sind, was zur Folge hat, dass die Passagiere der Holzklasse in ihrer Dringlichkeit lieber nach vorne streben und so den besser bezahlenden Vornesitzenden deren WCs besetzen, was je nach Laune des Kabinenpersonals Belehrungen und Rückweisungen zur Folge hat, du kommst also übernächtigt und mit Mundgeruch am Flughafen von Bogotá an, fröstelst nicht nur wegen des rauen Klimas hier, sondern auch aus Übermüdung, und steigst nach langem Warten vor der Pass- und Zollkontrolle und nach der ultimativen Gepäckdurchleuchtung, deren Sinn mir bis heute noch nicht einleuchtet, denn die Kontrolleure schauen kaum auf den Bildschirm, endlich in ein Taxi. Die rolos, so nennt man die Einheimischen hier, frieren auch bei frostigen Temperaturen nicht, und um dies den Ankömmling spüren zu lassen, halten die heissblütigen Taxichauffeure aus Prinzip ihre Fenster auch bei höherem Tempo ganz offen und unterstreichen ihre Furchtlosigkeit gegenüber der Kälte zusätzlich mit dem Tragen von dünnen Leibchen oder Kurzarmhemden. Das ist also mein Bogotá, voll von Temperatur-Heroen, und ich komme mir schon sehr verweichlicht vor, den Fahrer zu bitten, die Fenster auf einen Spaltbreit zu schliessen. Um meinen Imageschaden in Grenzen zu halten, beginne ich eine Konversation übers Wetter. Ob es denn die letzten Tage geregnet habe, frage ich, obwohl ich weiss, dass es in der Geschichte dieser grossen Stadt auf 2600 Metern über Meer wohl noch kaum je einen Tag gegeben hat, wo der Himmel nicht irgendwo Wasser gelassen hätte.
Dann auf der Fahrt die Feststellung, dass alles noch gleich ist. Die Kleinbusse stossen mehr denn je ihre dreckigen Abgase in die Luft und erbringen so den rollenden Beweis, dass es hier nach Korruption stinkt. Das Gesetz sieht nämlich durchaus vor, dass die Fahrzeuge regelmässig einem Abgastest unterzogen werden. Den Stempel zur Weiterfahrt bekommen sie aber mittels einer kleinen Aufmerksamkeit gegenüber den Beamten und sicher nicht aufgrund der Testergebnisse.
Nein, nicht alles ist gleich seit meiner Abreise vor zwei Monaten. Die Strassen weisen weniger Löcher auf, zumindest auf den grossen Avenidas. Papst Franziskus sei Dank. Für seinen Besuch vor ein paar Wochen scheint die Stadt sich herausgeputzt und die ärgsten Schlaglöcher beseitigt zu haben. Die Ankunft seiner Heiligkeit verpasste ich, profitiere aber noch von deren Spuren. An den öffentlichen Messen hätten unglaublich viele Leute teilgenommen, erzählt der Taxichauffeur, aus allen Landesteilen seien sie in die Stadt geströmt. Una grande fiesta, wohl unserer Street Parade vergleichbar, was die Massen angeht. Seither schwebt ein feiner, doch leider kaum mehr wahrnehmbarer Heiligenschein über Santa Fé de Bogotá. Möge er alle Probleme mit einer Lösung segnen. Seit 60 Jahren zum Beispiel spricht man hier vom Bau einer Stadtbahn, einer Metro. Jede Regierung versprach sie und biss sich daran die Zähne aus. Kein Meter wurde je gebaut. Nächstens sind Wahlen. Friedenspräsident Juan Manuel Santos tritt ab. Und womit bewerben sich die hoffnungsvollen Kandidaten? Sie klauben die verstaubten Pläne dieser Metro hervor und fordern einmal mehr den Bau derselben, wobei es immer noch nicht klar scheint, welche Streckenabschnitte überhaupt oberirdisch und welche unter dem Boden verlaufen sollen. Niemand nimmt das mehr ernst. Es scheint, dass es sich in Bogotá mit dem ruinierten Ruf einer Metropole ungenierter lebe.
So bin ich also angekommen und lege zur Vorbereitung des folgenden Tages dicke Socken und einen Pullover bereit. Doch schon morgens um zwei ziehe ich sie mir über. Ich kann nicht schlafen. Die Zeitverschiebung tut ihr Werk. So spiele ich halt Solitaire im Bett.

© Nikolaus Wyss

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Freitag, 29. September 2017

Zürich Ende September: eine Zuspitzung



Nach satter Asienreise in Zürich zwischengelandet. Es stellt sich ein Gefühl zur Stadt ein, das sich weder mit fremd noch mit bestens bekannt bezeichnen lässt. Wie Stopovers halt so sind. Man ist noch nicht ganz da – und schon wieder weg. Ich warte die ganze Zeit auf den Augenblick, dass mir das weh tut. In meiner Heimatstadt. Eben bin ich auf Bali noch den schmalen Strassenrändern entlang herumgeturnt, um den Autos keine Gelegenheit zu geben, mich umzufahren. Kaum eine Woche ist es her, dass ich in einem Shoppingcenter in Schanghai durchs Schaufenster der Confiserie Teuscher lugte, um mit einer gewissen Befriedigung festzustellen, dass sie dort mit etwas weniger Papierrüschen und Rosetten auskommt als im Hauptgeschäft hier in Zürich. Dem Bund entlang teilte ich abends mit Millionen Chinesen die Freude an der grossartigen Stadtaussicht. Überall wurden Hochzeitsfotos geschossen mit dem Lichtermeer von Pudong im Hintergrund. In Hongkong schliesslich spielte uns der Morgendunst einen Streich und vereitelte den Blick hinüber nach Kowloon. Auf dem Markt kauften wir dann einen Wackeldackel. Als Spardose gedacht, schüttelt sich das Viech, wenn man eine Münze auf den Fressnapf legt. Batteriebetrieben. Eben noch haben wir mit dem Schiff den gewaltigen Mekong bereist und im Méridien in Chiang Mai an einer Weindegustation teilgenommen. In Bangkok liess ich mir die Zähne professionell reinigen, und schliesslich staunte ich dort, was sie in ihren Museen unter moderner Kunst verstehen. Im Übrigen waren die Vorbereitungen zu den Trauerzeremonien für den verstorbenen König allgegenwärtig. Im Oktober wird deswegen die Stadt für einige Wochen lahmgelegt.
Überall war ich der Fremde, herzlich aufgenommen und mit Angeboten bedacht: mit Massagen, massgeschneiderten Anzügen, Essen, Souvenirs, T-Shirts und Ausflügen zu Wasserfällen und Riverraftings. Hier in meiner Heimatstadt jedoch bin ich als Fremder nicht zu erkennen. Die Angebote bleiben entsprechend aus. Von mir wird erwartet, dass ich in der Aufführung des Stückes, das Zürich heisst, den Einheimischen spiele. Das ist auch richtig so. Schliesslich kenne ich die Gassen, Strassen und Plätze alle. Doch die Menschen, die in Zürich die Rolle der Einheimischen spielen, kommen mir eigenartig fremd vor. Welcher Regisseur hat ihnen die Anweisung gegeben, ihre Selbstgefälligkeit so zur Schau zu stellen? War ich als Zürcher auch so und hatte seinerzeit diese Attitüde einfach so verinnerlicht, dass sie mir gar nicht mehr auffiel? Jetzt aber frappiert sie mich, diese Schamlosigkeit dem Rest der Welt gegenüber, dieser arrogante Anspruch auf Privilegien und Luxus. Diese Rechtfertigung, dass man sich doch sonst nichts gönne, als ob man sich als Zürcher je etwas nicht gegönnt hätte. Dieses Zu-wissen-Meinen, was rechtens ist und was zu geringschätzen. Man führt sich selbst spazieren in der felsenfesten Überzeugung, dass alle anderen Arschlöcher sind. Die Politiker, die Beamten, die Andersdenkenden, die Polizisten, das Schweizer Fernsehen, die EU, die Impfzwangbefürworter ... Und jetzt, wo sich Roger Federer zur Eröffnung des hiesigen Filmfestivals einfindet, sowieso. Heissa, das Stück sollte eigentlich nicht Zürich heissen, sondern Der Nabel der Welt. Je mehr Näbel dieser Welt einer allerdings gesehen hat, umso lächerlicher kommt ihm die unbescheidene Zürcher Aufführung vor. Dabei reisen wir Zürcher doch gern. Es scheint, dass wir dabei anderes, zuweilen auch wesentlich Besseres und Fortschrittlicheres in anderen Weltnäbeln gar nicht zur Kenntnis nehmen oder sofort nach der Rückkehr in heimatliche Gefilde wieder vergessen im Irrglauben, dass Zürich alles neutralisiert, was anderswo eine gute Figur macht, weil hier sowieso die beste aller Welten herrscht.