Mittwoch, 11. Oktober 2017

Auf dem Amakong


Auf diesem Foto sieht man mich als glücklichen Passagier den Mekong hinunterfahren. Vor mir auf dem Teaktisch eine Früchteschale, im Hintergrund der braunfarbene Fluss. Als einschläfernde Geräuschkulisse hörte ich das regelmässige Tuckern des Motors im Heck, dort, wo die Kapitänsfamilie ihre Kajüte bewohnte, dort, wo die köstlichen Mahlzeiten zubereitet wurden. Wenn es Stromschnellen passierte, ächzte das Boot. Wir glitten dem Urwald entlang flussabwärts, hingen unseren eigenen Gedanken nach und dösten zuweilen ein.

Der Eindruck der Erhabenheit dieses Flusses kann man nur vom Ufer aus vollumfänglich erfassen. Von dort aus siehst du die ruhende Landschaft, durch die sich dieser grosse Strom geräuschlos, langsam, aber stetig seinen Weg bahnt. Seit Jahrtausenden. Tag und Nacht. Unbeirrt. Dringlich, aber ohne Hetze. Wenn du dich jedoch selbst auf dem Wasser befindest, so tritt das Majestätische zugunsten einer anderen Erfahrung in den Hintergrund. Es sind die unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Bewegungen, die du nun leise tagträumend beobachten kannst. Das Boot im Verhältnis zum Flusslauf, die Strudel im Verhältnis zur Gischt, die anderen Boote im Verhältnis zum eigenen, das Ufer im Verhältnis zu den dahinter liegenden Hügeln, die Wolken im Verhältnis zur Sonne, die Vögel im Verhältnis zum Auspuffrauch. Alles bewegt sich in eigenem Tempo. Es ergibt keinen Rhythmus. Und doch befindet sich alles in geordnetem Ablauf.

Die Beobachtung erinnerte mich an meine Flussfahrt auf der Lord Kelvin den Amazonas hinunter. Vor nunmehr rund 50 Jahren. Das Boot war übervoll, die Indios bezahlten die Fahrt mit Schildkröten, die bis zu ihrer Verspeisung kopfüber in die Luft paddelten. Die Toilette war so schrecklich, dass wir Männer über Bord pinkelten und dabei die Frauen mitleidig anlächelten ... Von dieser Fahrt gibt es keine Aufnahmen. Die Kamera und sämtliches Gepäck wurden mir nach der Ankunft in Belém gestohlen. In Erinnerung sind mir aber die verschiedenen Tempi der Horizonte geblieben, wie ich sie jetzt wieder auf dem Mekong beobachtete. Damals kamen zusätzlich noch Zeitverzerrungen dazu, wie sie sich beim Rauchen von Marihuana einstellen. Zudem schliefen wir in schaukelnden Hängematten. Das verlieh den komplexen Bewegungsabläufen noch eine zusätzliche Dimension.



Die Flussfahrten von damals und von heute scheinen mir wie eine Klammer meines Erwachsenenlebens zu sein. Damals machte ich mich auf zu neuen Horizonten, jetzt verabschiedete ich mich von diesen. Auf dem Mekong war mir der Gedanke gegenwärtig, hier vermutlich nie mehr vorbeizukommen. Dieser Gedanke war mir auf dem Amazonas fremd gewesen. Damals hatte ich Pläne, das nächste Mal in Manaus und in Santarém länger zu bleiben. Ein anderes Vorhaben war, den Rio Negro hinaufzufahren oder auf dem Amazonas bis nach Iquitos vorzudringen. Hier auf dem Mekong hingegen tauchte bei aller Schönheit dieser Fahrt in keinem Augenblick der Wunsch nach einem Wiedersehen auf. Auch die Lust, weiter stromabwärts bis nach Kambodscha zu schippern, um nachzuschauen, wie sich dieses Land verändert hat, stellte sich nicht ein. So wird das Kambodscha meiner Erinnerungen das Land der Roten Khmer bleiben. Unvergesslich der Schusswechsel unmittelbar am Eingang zu Angkor Wat und kurz darauf die wilde Anfahrt zweier Militärcamions voller süsser Kindersoldaten mit geladenen Sturmgewehren. Eindrücklich das Totenhaus mit Tausenden von Schädeln, die ans Schreckensregime der Roten Khmer und an die systematische Vernichtung von geschätzten zwei Millionen Menschen erinnern sollten. Unvergesslich eines der damals raren, unbeschädigten Hotels in Phnom Penh, wo ich das schmuddelige Zimmer mit einem chinesischen Geschäftsmann teilte. Abends vergnügte er sich im Dunkeln mit einer Prostituierten, derweil ich mich schlafen stellte. – Wie mag sich das Land in der Zwischenzeit entwickelt haben? Ich war mir sicher, ich würde es, mit Ausnahme des Königspalastes und des wunderbaren Blicks auf den Tonle Sap, einem Zufluss zum Mekong, nicht mehr wiedererkennen. So weit so gut.

Mich stimmen diese Feststellungen nicht traurig. Es ist ein wunderbares Gefühl, die Neugier hinter sich zu lassen und wunschlos zu geniessen. Ich fühlte mich wie Treibholz im Strom, das nicht weiss, welches Ungeheuer es darstellt und was es in der nächsten Biegung noch erwartet. Werde ich an Land geschwemmt? Bleibe ich in einem Strudel hängen? Nur eines ist gewiss: Es geht abwärts, und am Schluss lande ich im ewigen Meer.
Auf dem Mekong wollte ich nicht wissen, wie es weitergeht mit diesem Strom, sonst hätte ich bedauernd, ja, entsetzt zur Kenntnis nehmen müssen, dass ich zwei Jahre später diese Reise gar nicht mehr hätte antreten können, weil dann bereits die Bagger aufgefahren und zwei Staudämme errichtet worden wären. Ich will nicht wissen, dass dieser Landschaft grosse Veränderungen bevorstehen. Dorfbewohner müssen umgesiedelt werden, die Boote werden ihre liebe Mühe haben, die Schleusen zu passieren, und aus grosser Ferne, von Vietnam her, werden Reisbauern und Fischer des Deltas Klage erheben gegen den Irrwitz, diesem Fluss Elektrizität abzugewinnen und ihn dadurch zu bändigen. Nein, ich werde nie mehr diesen Mekong hinunterfahren. So wenig, wie ich ein zweites Mal auf dem Amazonas gefahren bin, aller Vorsätze zum Trotz.

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