Mittwoch, 18. Oktober 2017

Das Drama vom Rösslibrunnen


Ich weiss nicht, wie wir Kinder auf die verwegene Idee kommen konnten, diesen Brunnen mit dem sich mächtig aufbäumenden, Furcht einflössenden Hengst Rösslibrunnen zu nennen. Hier setzt sich kein Rössli in Szene oder lädt gar zum Ritt an der Longe ein. Nein, hier verteidigt gebieterisch ein mächtiges Pferd sein Revier, kämpft mit einem unsichtbaren Nebenbuhler um eine Stute oder imponiert Zuschauer im Zirkus mit seinem wilden, muskelstrotzenden, aufrechten Gang.
Der Brunnen am Zürcher Hirschengraben soll an das Geschlecht der Manesse erinnern, einer weitverzweigten Patrizierfamilie aus dem Mittelalter, die grossen Einfluss auf die Geschicke der Stadt ausübte, Bürgermeister stellte und während zweier Jahrhunderten ununterbrochen im Rat von Zürich vertreten war. Ihr Stammsitz mit seinem turmartigen Aufbau steht mit der Hausnummer 33 eingangs Kirchgasse unmittelbar daneben.
Auf dem Wappen der Manesse sind zwei Ritter zu sehen. Hat das Pferd einen von denen abgeworfen und schlägt jetzt den anderen in die Flucht? Oder symbolisiert sich hier das Gebieterisch-Edle dieses Geschlechts, das sich mit der Manessischen Liederhandschrift im Zürcher Kulturleben unsterblich machte? Diese Skulptur manifestiert meines Erachtens eher die kriegerische Neigung der Familie und nicht ihr kulturelles Flair. Vielleicht war es auch nur eine Verlegenheitswahl, mit diesem Pferd den Manesses zu gedenken. Vielleicht waren da ganz zu Anfang einfach das Modell eines sich aufbäumenden Pferdes von Arnold Hünerwadel und der dringende Wunsch des Bildhauers Johann Rigendinger, so einen Brunnen zu realisieren. Und als es um die Frage ging, woran er denn erinnern soll, kam der Brunnenwahlkommission die Idee, man könnte damit der Familie Manesse gedenken.
Seis drum. Für uns Buben war der Rösslibrunnen Treff- und Ausgangspunkt unserer Streifzüge durch die Zürcher Altstadt. Im Chamhaus unmittelbar neben dem Brunnen wohnte Jean-Michel, an der Unteren Zäune Willy, an der Oberen Zäune Albert und ich an der Winkelwiese. Rolf aus der Froschaugasse gehörte genauso zu unserer Bande wie Edi aus der Oberdorfstrasse und Martin aus der Frankengasse.
An den Schulsilvestern rotteten wir uns in aller Herrgottsfrühe vor dem Brunnen zu lärmigen Umzügen zusammen, um mit Pfannendeckeln, Trillerpfeifen und Rätschen die Altstadt unsicher zu machen. Ergänzt wurde das laute Repertoire durchs Glögglispiel: Wir läuteten an jeder Hausglocke. Als Reaktion schütteten manchmal entnervte Bewohner einen Kübel kaltes Wasser auf die Gasse, was dann lautes Gejohle zur Folge hatte. In der Regel gefror das Wasser sofort und bildete so eine willkommene Rutschbahn.
Meine Mutter hatte diesen Aktivitäten gegenüber stets ein zwiespältiges Gefühl. Sie verstand zwar die unbändige Lust von uns Jungen, uns einmal im Jahr im Schatten der Nacht so richtig austoben zu können, doch sie hatte auch Bedenken, dass ich mich erkälten, dass ich in schlechte Gesellschaft geraten, dass ich eine Zigarette rauchen oder dass ich mich verletzen könnte.
An einem dieser Schulsilvester, ich mochte neun oder zehn Jahre alt gewesen sein, setzte sie zu einer Doppelstrategie an. Der Deal lautete: Du darfst morgens um vier auf die Gasse, aber ich koche auf halb sechs heisse Schokolade, und du kommst mit all deinen Freunden zu einem frühen Frühstück in die warme Stube. Ich erinnere mich noch, wie sie zu diesem Behufe beim Milchmann Wettstein noch ein Extrakessi Milch bestellte und bei Burch Comestible an der Rämistrasse Schokoladenpulver und Zucker einkaufte. Ich wiederum machte unter uns Jungs die Einladung bekannt. Alle fanden es eine tolle Idee. Obwohl wir beabsichtigten, gemeinsam die Altstadt zu beschallen, machten wir sicherheitshalber doch noch auf halb sechs beim Rösslibrunnen ab, sollten wir uns im Getümmel verlieren. Von dort aus wären wir dann gemeinsam zur heissen Schokolade geschritten.
Die geneigten Leserinnen und Leser ahnen es schon. Ich traf niemanden von uns zum frühmorgendlichen Lärm. Wo mochten sie bloss geblieben sein? Es war so klirrend kalt. Ich schlich leise auf frostigen Sohlen durch die Gassen, hörte Gejohle von weit her, machte aber keinen von uns ausfindig. Um halb sechs dasselbe: Niemand fand sich zum vereinbarten Zeitpunkt beim Rösslibrunnen ein. Ich wartete und wartete. Tränen der Verzweiflung gefroren auf meinen Backen. Nach einer Ewigkeit rannte ich nach Hause, wo Mutter mehrere Liter heisser Schokolade am Köcheln hielt. Ich klammerte mich an ihre Schürze und schluchzte bis zur Erschöpfung.
So viel von meiner Seite zum Rösslibrunnen. Seither habe ich nie mehr an einem Schulsilvester teilgenommen.

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