Ich weiss nicht, wie wir Kinder auf die verwegene Idee
kommen konnten, diesen Brunnen mit dem sich mächtig aufbäumenden, Furcht einflössenden
Hengst Rösslibrunnen zu
nennen. Hier setzt sich kein Rössli in Szene oder lädt gar zum Ritt an der
Longe ein. Nein, hier verteidigt gebieterisch ein mächtiges Pferd sein Revier,
kämpft mit einem unsichtbaren Nebenbuhler um eine Stute oder imponiert
Zuschauer im Zirkus mit seinem wilden, muskelstrotzenden, aufrechten Gang.
Der Brunnen am Zürcher
Hirschengraben soll an das Geschlecht der Manesse erinnern, einer
weitverzweigten Patrizierfamilie aus dem Mittelalter, die grossen Einfluss auf
die Geschicke der Stadt ausübte, Bürgermeister stellte und während zweier
Jahrhunderten ununterbrochen im Rat von Zürich vertreten war. Ihr Stammsitz mit
seinem turmartigen Aufbau steht mit der Hausnummer 33 eingangs Kirchgasse
unmittelbar daneben.
Auf dem Wappen der Manesse sind zwei
Ritter zu sehen. Hat das Pferd einen von denen abgeworfen und schlägt jetzt den
anderen in die Flucht? Oder symbolisiert sich hier das Gebieterisch-Edle dieses
Geschlechts, das sich mit der Manessischen
Liederhandschrift im Zürcher Kulturleben unsterblich machte? Diese Skulptur
manifestiert meines Erachtens eher die kriegerische Neigung der Familie und
nicht ihr kulturelles Flair. Vielleicht war es auch nur eine Verlegenheitswahl,
mit diesem Pferd den Manesses zu gedenken. Vielleicht waren da ganz zu Anfang
einfach das Modell eines sich aufbäumenden Pferdes von Arnold Hünerwadel und
der dringende Wunsch des Bildhauers Johann Rigendinger, so einen Brunnen zu
realisieren. Und als es um die Frage ging, woran er denn erinnern soll, kam der
Brunnenwahlkommission die Idee, man könnte damit der Familie Manesse gedenken.
Seis drum. Für uns Buben war der Rösslibrunnen Treff- und Ausgangspunkt
unserer Streifzüge durch die Zürcher Altstadt. Im Chamhaus unmittelbar neben dem Brunnen wohnte Jean-Michel, an der Unteren Zäune Willy, an der Oberen Zäune Albert und ich an der Winkelwiese. Rolf aus der Froschaugasse gehörte
genauso zu unserer Bande wie Edi
aus der Oberdorfstrasse und Martin
aus der Frankengasse.
An den Schulsilvestern rotteten wir
uns in aller Herrgottsfrühe vor dem Brunnen zu lärmigen Umzügen zusammen, um
mit Pfannendeckeln, Trillerpfeifen und Rätschen die Altstadt unsicher zu
machen. Ergänzt wurde das laute Repertoire durchs Glögglispiel: Wir läuteten an
jeder Hausglocke. Als Reaktion schütteten manchmal entnervte Bewohner einen
Kübel kaltes Wasser auf die Gasse, was dann lautes Gejohle zur Folge hatte. In
der Regel gefror das Wasser sofort und bildete so eine willkommene Rutschbahn.
Meine Mutter hatte diesen
Aktivitäten gegenüber stets ein zwiespältiges Gefühl. Sie verstand zwar die
unbändige Lust von uns Jungen, uns einmal im Jahr im Schatten der Nacht so
richtig austoben zu können, doch sie hatte auch Bedenken, dass ich mich
erkälten, dass ich in schlechte Gesellschaft geraten, dass ich eine Zigarette
rauchen oder dass ich mich verletzen könnte.
An einem dieser Schulsilvester, ich
mochte neun oder zehn Jahre alt gewesen sein, setzte sie zu einer
Doppelstrategie an. Der Deal lautete: Du darfst morgens um vier auf die Gasse,
aber ich koche auf halb sechs heisse Schokolade, und du kommst mit all deinen
Freunden zu einem frühen Frühstück in die warme Stube. Ich erinnere mich noch,
wie sie zu diesem Behufe beim Milchmann Wettstein
noch ein Extrakessi Milch bestellte und bei Burch Comestible an der Rämistrasse
Schokoladenpulver und Zucker einkaufte. Ich wiederum machte unter uns Jungs die
Einladung bekannt. Alle fanden es eine tolle Idee. Obwohl wir beabsichtigten,
gemeinsam die Altstadt zu beschallen, machten wir sicherheitshalber doch noch
auf halb sechs beim Rösslibrunnen ab,
sollten wir uns im Getümmel verlieren. Von dort aus wären wir dann gemeinsam
zur heissen Schokolade geschritten.
Die geneigten Leserinnen und Leser
ahnen es schon. Ich traf niemanden von uns zum frühmorgendlichen Lärm. Wo
mochten sie bloss geblieben sein? Es war so klirrend kalt. Ich schlich leise
auf frostigen Sohlen durch die Gassen, hörte Gejohle von weit her, machte aber
keinen von uns ausfindig. Um halb sechs dasselbe: Niemand fand sich zum
vereinbarten Zeitpunkt beim Rösslibrunnen
ein. Ich wartete und wartete. Tränen der Verzweiflung gefroren auf meinen
Backen. Nach einer Ewigkeit rannte ich nach Hause, wo Mutter mehrere Liter
heisser Schokolade am Köcheln hielt. Ich klammerte mich an ihre Schürze und
schluchzte bis zur Erschöpfung.
So viel von meiner Seite zum Rösslibrunnen. Seither habe ich nie mehr
an einem Schulsilvester teilgenommen.
© Nikolaus Wyss
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