Samstag, 4. November 2017

Vorwürfe am Wegrand


Dieses verwackelte Bild eines Wartehäuschens, das ich auf der Strecke zwischen Chiang Mai und Chiang Khong vom fahrenden Bus aus schoss, gemahnt mich an das ultimative Scheitern eines Vorhabens, das mich fast 50 Jahre lang auf all meinen Überlandreisen umtrieb. Immer wieder waren mir Wartehäuschen auf der Strecke ins Auge gestochen: in Algerien, Mali, Ghana, Nigeria, Kenia, Tansania, in Indien, China, Malaysia, Indonesien, Thailand, Vietnam, in Kolumbien, Brasilien, Peru, Chile, auf dem Balkan, im hohen Norden, in der Schweiz, wo auch immer. In ihren unterschiedlichsten Formen gewähren sie Schutz für die, die auf die nächste Transportmöglichkeit warten. Oft nehmen die Bedachungen Gestaltungsformen der örtlichen Baukultur auf. Auf der einen Strecke scheinen sie alle aus einem Guss zu sein, hingestellt von einer kundenfreundlichen Busfirma oder vom Transportministerium der Provinz. Auf anderen Strecken wiederum entsprechen sie jeweils dem lokalen Gusto, dem vorhandenen Konstruktionsvermögen und den zur Verfügung stehenden Mitteln. Improvisiert hier, mit beschattenden Palmblättern überdacht, komfortabel dort mit Windschutz und Sitzbänken ausgestattet.
Mein Vorhaben hätte darin bestanden, eine Bild-Dokumentation der unterschiedlichsten Wartehäuschen auf der ganzen Welt anzulegen, ergänzt mit Porträtaufnahmen von Wartenden und Notizen über meine Begegnungen am Strassenrand. Wie lange warten Sie schon? Wohin fahren Sie und zu welchem Behufe? Wieviel kostet die Fahrt? Wo wohnen Sie? Et cetera. Es hätte ein Kompendium weltumspannender Wartekultur und überraschender Geschichten werden können. Vielleicht etwas schräg im Ansatz, doch durchaus interessant, aufschlussreich und unterhaltsam im Resultat. Als Buch oder, heutzutage, als Website.
Gezuckt hat es mich jeweils, den Chauffeur zu bitten anzuhalten und mich aussteigen zu lassen, um das Schicksal des Wartens mit Ortsansässigen zu teilen. Was soll mich die fahrplanmässige Ankunftszeit meines Reisebusses am Zielort kümmern? Schliesslich holt mich niemand dort ab, umarmt und küsst mich. Im Normalfall musste ich mir dort immer selbst zuerst eine billige Absteige suchen und den weiteren Verbleib organisieren. Was hätte es mich gekostet, ein paar Tage später erst am Zielort einzutreffen, dafür aber einen Kratten voller Wartehäuschen-Materialien gesammelt zu haben für mein Vorhaben?
Aber nein, mir fehlte der Mut. In den entscheidenden Momenten erwies ich mich als feige, als Verräter meiner eigenen Idee. All die Jahre habe ich es nie fertiggebracht, meinem Vorhaben den notwendigen Raum zu gewähren. Immer bin ich weitergefahren und habe mir höchstens noch überlegt, am nächsten Tag mit einem Motorrad dorthin zurückzukehren, was ich natürlich nie in die Tat umsetzte. Ich brachte die Geduld, mich auf die Wartehäuschen einzulassen, nicht auf. Dabei hätten mich diese Objekte wohl viel weitergebracht, als ich es mit meinen reibungslosen Busreisen geschafft habe. Sie hätten mich vor witterungsmässiger Unbill beschützt, mich am Kosmos der Einheimischen teilhaben lassen und mich an Erfahrungen und Material reich gemacht. So aber kam ich zwar pünktlich am Zielort an – und die Wartehäuschen blieben auf der Strecke.
Mit der Zeit wurde mir jedes Objekt dieser Art, dessen ich ansichtig wurde, zur Qual. Es verkörperte den Vorwurf eines nicht eingelösten Versprechens. Diese Erscheinungen am Strassenrand verleideten mir mit der Zeit sogar das Busreisen. Natürlich hätte ich das nie zugegeben und nannte eher Rückenschmerzen oder die engen Sitzverhältnisse als Rechtfertigung, fast vollständig von Busfahrten abzusehen. Der wahre Grund meiner steigenden Reiseunlust aber ist, dass ich nicht weiter von diesen Wartehäuschen verhöhnt werden wollte. Sie erinnerten mich schmerzvoll an mein Unvermögen, einen Plan, den ich für gut befunden hatte, in Angriff zu nehmen und umzusetzen.
Das verwackelte Bild, das Ausgangspunkt dieses Textes bildet, steht nun dafür. Und so wird es bleiben.

© Nikolaus Wyss

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