Mit Jin Xing in den Studios der Jin Xing Dance Company im Nordwesten Shanghais |
Vielleicht ist die Geschichte einfach die, dass ich
stolz zeigen möchte, dass ich mit jemandem befreundet bin, der in den letzten fünfzehn
Jahren in China zum Megastar herangewachsen ist. Wöchentlich sehen im Schnitt
150 Millionen Chinesen ihre Fernsehshows. Dazu hostet sie auch noch eine
Kindersendung und eine Dating-Show. Auf allen Kanälen gilt sie als die Oprah
Winfrey Chinas. Sie heisst Jin Xing.
Ich kenne sie seit 2003. Damals
suchten wir für unseren internationalen Kongress europäischer Kunsthochschulen,
der im Luzerner KKL unter dem Titel Challenging the Frame stattfinden sollte, einen
Keynote-Speaker. Da kam jemand im Organisationskomitee auf die Idee, diese Frau
anzufragen. Bedenken hatten wir lediglich, ob sie vor kritischem Publikum
sprechen und Zeit für uns opfern wollen würde. Kurz zuvor war im Fernsehen ein
Dokumentarfilm über sie gelaufen. Bis zu ihrem 28. Altersjahr war sie ein Mann,
gefeierter Solotänzer und Oberst der chinesischen Volksarmee. Nach einer
Geschlechtsangleichung – wie das heute heisst –, gründete sie ihre eigene Tanzkompanie,
adoptierte drei Kinder aus einem Waisenhaus, heiratete einen deutschen
Geschäftsmann und tourte als Choreografin und Tänzerin durch die halbe Welt.
Ich traf sie damals nach einem Auftritt in der Berner Dampfzentrale. Sie sagte ohne Umschweife zu. Ein Jahr später stand
die zierliche Frau bei uns auf der Bühne und begann ihre Ansprache mit der
Bemerkung, dass sie als früherer Offizier sehr wohl wisse, wie man Brücken
sprenge und das Magazin eines Maschinengewehrs wechsle. Später zeigte sie Videoausschnitte
aus ihrem künstlerischen Schaffen und eroberte so das Publikum.
Ich wusste später lange Zeit nicht,
ob wir seitdem wirklich befreundet sind. Ich hätte für mich nie in Anspruch zu nehmen
gewagt, diesen Kontakt als Freundschaft zu bezeichnen, obwohl er mich stets
inspirierte und bereicherte. Sie war schliesslich eine umschwärmte Berühmtheit,
schon damals, nicht zuletzt wegen ihrer körperlichen Selbstfindung. Sie war und
ist noch heute deswegen in China eine Sensation und macht ihre Auftritte damit
doppelt interessant. Ich besuchte sie später einige Male in Schanghai oder
reiste zu ihren Aufführungen irgendwo in Europa. Das mit der Freundschaft
klärte sich dann, als sich Jin Xing, Jahre später, bei mir einmal beklagte, ich
hätte sie bei einem meiner Aufenthalte in Schanghai nicht aufgesucht. Da
begriff ich, dass sie mich offenbar zu ihrem Freundeskreis zählte.
Sie hatte so viele Pläne, so viele
Sorgen auch. Wird sie die Existenz ihrer Dance Company sichern können? Ich
wohnte einige Male Proben bei. Da war sie jeweils der unerbittliche
militärische General. Vorher und nachher aber sprach sie zärtlich von ihren
Tänzerinnen und Tänzern.
Sie war ein von Unruhe und stets
neuen Plänen besessener Star. Heinz Gerd, ihr Mann, mit dem ich mich in der
Zwischenzeit auch befreundet hatte, half ihr beim Geschäftlichen und fuhr
überdies die Kinder in die Schule. Die beiden überlegten sich, sie zur weiteren
Ausbildung in die Schweiz zu schicken. Ich sandte ihnen darauf Prospekte und
Links entsprechender Institutionen. Aber es scheiterte an den fehlenden Pässen.
Es scheint für Kinder in China, die über keinen Geburtsschein verfügen, und das
war bei diesen drei Waisen der Fall, sehr schwierig zu sein, zu offiziellen
Papieren zu kommen.
Jin Xing überlegte sich auch, in
Europa einen Ableger ihrer Dance Company zu gründen. Doch dann verwarf sie die
Idee wieder und blieb in Schanghai. Ihre Entscheide basierten meistens auf
Ratschlägen weiser Sterndeuter und auf wichtigen Zeichen numerischer Art.
Inzwischen sind die Kinder herangewachsen. Der älteste Sohn besitzt
mittlerweile einen Pass und besucht neuerdings ein College in England.
Und jetzt: Seit sie mit einer
eigenen wöchentlichen Talkshow im staatlichen Fernsehen Fuss gefasste hat,
gehört sie zu den ultimativen Celebrities des Riesenreiches. Sie wird, zusammen
mit dem chinesischen Staatschef Xi Jinping, ans World Economic Forum nach Davos eingeladen, wohnt in Schanghai im
26. Stock des Governor House in der
Suite, in welcher US-Präsident Richard Nixon bei seinem Chinabesuch im Februar
1972 abgestiegen ist, und das Ledersofa im Wohnraum erinnert an die
Unterredungen zwischen Henry Kissinger und Deng Xiaoping. Um zu ihren Studios
zu gelangen, verlässt sie das Haus durch den Hinterausgang in einem Auto mit
Sichtschutz. Fans belagern regelmässig den Vordereingang.
In ihren Shows gibt es aber
unumstössliche Tabus: keine Politik zum Beispiel, keine Sozialkritik, keine
sexuellen Themen. Um all diese Klippen zu umschiffen, beschäftigt sie ein
grosses Team von Stichwortgebern. Einmal hatte sie Brad Pitt zu Gast, der sich
schon öfters als Tibet-Freund zu erkennen gegeben hat. Die Sendung wurde in der
Folge nicht ausgestrahlt.
Mein Besuch 2017 in Schanghai fiel
zusammen mit dem in Beijing tagenden Volkskongress, wo die Richtung Chinas für
die nächsten fünf Jahre festgelegt und der Vorsitzende für eine weitere
Amtsperiode bestätigt wurde. Auch damals wurde die Jin-Xing-Show zwei Wochen
lang ausgesetzt.
Neben ihrer TV-Tätigkeit tourt sie
mit ihrer Dance Company durch ganz China. Jetzt geht es nicht mehr ums nackte
Überleben, jetzt geht es um die Befeuerung eines Apparates, den ich Jin-Xing-auf-dem-Höhepunkt-ihrer-Karriere-in-China
nennen würde. Was für ein ausserordentlicher Lebenslauf. Ich wüsste nicht, was
jetzt noch mehr zu erreichen wäre. Vielleicht einmal eine
Lateinamerika-Tournee? Ich wäre dann für Kolumbien zuständig.
Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere scheinen mir aber
die Opfer in Form von Beschränkungen der freien Meinungsäusserung gross, die
Einschränkungen im Privatleben auch. Einen gewissen Ausgleich schafft
wenigstens ein Leben in Luxus.
© Nikolaus Wyss
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