Donnerstag, 25. Juni 2020

HERR BÜTTIKOFER FÄLLT AUS



Anton Büttikofer (AB):  Herr Wyss, ich habe mir jetzt einige Videos von Ihnen angesehen. Ich gestehe, ich weiss nicht, was sie sollen. Ich sehe den Witz nicht. Das einzige, was ich verstehe, ist der Titel der Serie: BEVOR MIR DIE ZÄHNE AUSFALLEN. Offenbar wackeln bei Ihnen schon ein paar Zähne und sie wollen unbedingt, ja panikartig, noch vorher diese Videos zustande bringen
Nikolaus Wyss (NW): Ja, das stimmt, hier hinten ist ein Zahn locker, und da drüben auch. Es finden Bewegungen statt in meinem Mund, regelrecht Verschiebungen. Da drin wackelt alles etwas [...]
AB: Darf ich davon ausgehen, dass Sie mit diesen Videos aufhören, wenn Ihnen Zähne dann auch wirklich ausgefallen?
NW: Ja, ich gehe davon aus. Oder die Serie bekommt eine neue Überschrift. Zum Beispiel: Das Alter lässt grüssen. Hm, tönt nicht sexy. Vielleicht ist besser: Aus der Welt eines Zahnlosen, hm, auch nicht so gut. Ich muss mir noch etwas überlegen.
AB: Mir scheint aber, ihre Videos hätten schon jetzt keinen Biss. Mir erschliesst sich der Sinn nicht. Sie sind weder zum Lachen noch zum Nachdenken. Am ehesten zum Weinen. Sie, Herr Wyss, erscheinen mir in diesen Videos schon fast als tragische Gestalt, als jemand, der unbedingt noch etwas hinterlassen will, bevor es zu spät ist, und sei es noch so blöd und unsinnig.
NW: Sehr gut. Daran habe ich auch schon gedacht. Tragische Figur ist gut. Ich würde noch hinzufügen: Hilflose, tragische Gestalt [...]
AB: Jetzt aber ernsthaft. Was bezwecken Sie mit Ihren Videos?
NW: Spass
AB: Spass vermitteln sie aber nicht. Ich habe beim Anschauen eher das Gefühl, dass mir Zeit gestohlen wird, die ich mit anderem besser nutzen könnte.
NW: Mir geht es nicht um Ihren Spass, Herr Büttikofer, es geht um meinen. Die Videos sind Gefässe, in welchen sich ausdrücken lässt, was ich empfinde. Das hat etwas Befreiendes und macht Spass.
AB: Aber wenn ich Ihren Videos kein Verständnis entgegenbringe, so bleiben Sie, Herr Wyss, unverstanden.
NW: Genau. Ein Grundgefühl in meinem ganzen Leben war immer, nicht ganz verstanden worden zu sein, immer als Exot gegolten zu haben. In diesem Sinne sind diese Videos sehr authentisch und drücken aus, was mich immer wieder mal eingeholt und begleitet hat.
AB: Sie betreiben aber einen grossen Aufwand um zu zeigen, dass Sie nicht verstanden werden.
NW: Ach, es geht. Es ist eine Art von Beschäftigung wie Blumen spritzen oder der Katze Futter geben. Überschaubar.
AB: Nochmals: Ihre Botschaft in ihren Videos ist also: Hallo, ich werde nicht verstanden? Schüttelt nur den Kopf über mich?
NW: Wenn Sie das so sehen wollen, kann ich dagegen nichts unternehmen. Meine Stossrichtung ist eher, dass ich am Ankommen bin. Ich befinde mich mit meinen Videos näher bei mir, kann die Absurdität des Lebens und meines Lebens endlich fassen und zum Ausdruck bringen. Sie sind ein Spiegel, ein Selbstporträt. Maler machen das zuweilen auch: Selbstporträts. Manchmal noch mit Modellen, manchmal allein, nicht immer in vorteilhaftester Pose.
AB: Sie würden also sagen: Ihre Videos seien Kunst?
NW: Das habe ich nicht gesagt. Ob etwas Kunst ist, bestimmen sowieso andere und nicht man selber. Das war auch manchmal in meiner Kunsthochschule, wo ich Rektor war, das Problem. Alle wollten Künstler sein, und manche waren mit dem, was sie taten, nur lächerliche Figuren und niemals Künstler.
AB: Also wie Sie?
NW: Ich habe nie behauptet, ich sei Künstler. [...] Aber es ist unbestreitbar, dass sich porträtieren und abfotografieren zu lassen und das Resultat dann ins Netz zu stellen, ungeheuer populär ist. Sehen Sie sich nur die Millionen von Bildern auf Instagram an. Die meisten, die sich vor dem Spiegel selber ablichten, behaupten ja auch nicht, sie seien Künstler, aber sie wollen irgend etwas von sich selber zeigen, damit vielleicht auch Aufmerksamkeit erzeugen, andere auf sich aufmerksam machen.
AB: Trifft das auf Sie auch zu?
NW: Etwas ins Netz zu stellen hat wohl immer etwas Demonstratives. Wofür diese Videos stehen, ist mir allerdings nicht so klar. Mir genügt es, wenn andere finden, der alte Sack spinnt ein wenig, aber immerhin lässt er sich noch etwas einfallen. Es scheint ihm gut zu gehen in diesem wilden Kolumbien. Die Videos sind Lebenszeichen für Leute, die ich in Europa zurückgelassen habe.
AB: Ich bin mir nicht sicher, ob diese Lebenszeichen so ankommen. Ich habe eher den Eindruck, dass die Leute finden, dass Ihnen Kolumbien den Kopf verdreht hat.
NW: Na dann halt [...]

Lied: IN STILLER NACHT - Nach einer Volksweise aus Wales. Satz und deutscher Text: Stefan Fieser
 
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Donnerstag, 18. Juni 2020

DER BIMSSTEIN oder wer wird zum US-Präsidenten gewählt?



In meiner Serie BEVOR MIR DIE ZÄHNE AUSFALLEN orakle ich heute, am 18. Juni 2020, wer wohl der nächste Präsident der USA sein wird: Joe Biden oder doch wieder Donald Trump? Ein bewährtes Mittel zur Beantwortung solcher Fragen ist das Bücherstechen. Hier im Video das Resultat. Als Buch hat sich im Blindversuch Franz Hohlers Roman „Das Päckchen“ anerboten. Ich habe es auf Seite 69 angestochen. Der Abschnitt lautet: „Gernot und Maurus schauten sich betreten an. Sie brauchten ihn mehrmal täglich, je länger, je mehr.“ Es handelte sich um einen Bimsstein, den sie mehrmals täglich brauchten, je länger, je mehr. Das geht aus dem vorausgehenden Abschnitt hervor. Gernot und Maurus übten sich nämlich in einem Kloster in Schönschrift, kamen allerdings ohne diesen altertümlichen Radiergummi nicht aus, um ihre Fehler zu löschen. Doch sehen Sie selbst, wie ich das Orakel interpretiere!
 
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Donnerstag, 11. Juni 2020

DER SAUM - Ich koste Bienen und stelle Lilly ein paar Fragen


In dieser Folge von "Bevor mir die Zähne ausfallen" löse ich zunächst den Cliffhanger vom letzten Mal ein, wo es ums Rösten von Bienen ging. Wie schmecken sie? Könnten sie zum Standard meines Speisekanons werden? - Nach einer kleinen Slapstick-Einlage geht es dann zum falsch angenähten Saum und zu meinen Fragen an die chinesische Textilarbeiterin Lilly. Doch sehen Sie selbst!
 
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Samstag, 6. Juni 2020

Nur schwache Erinnerungen an Luzern

In Luzern mit dem vom Schriftsteller Otto Marchi ausgeliehenen Fahrrad auf der Seebrücke. Marchi war Dozent an meiner Hochschule. Ich traf mich mit ihm als Vertreter der Dozentenschaft regelmässig zum Gespräch. Er starb Ende 2004 in Khao Lak, Thailand, als Opfer dieser grossen Tsunami-Katastrophe. Ein paar Monate später nahmen wir in der Jesuitenkirche von ihm Abschied.   

Wenn ich von früheren Zeiten schreibe, so stütze ich mich gerne auf Beobachtungen, die ich seinerzeit in meinen Tagebüchern festgehalten habe, und ich ergänze diese mit noch lebendigen Erinnerungen. Manchmal dramatisiere ich auch ein bisschen oder begleiche offene Rechnungen. Oder ich versuche, mit einer Verschriftlichung meinen inneren Frieden zu finden.

 

Seltsam nur, dass ich just in einer meiner wichtigsten Lebensphasen, nämlich der Zeit als Rektor der Luzerner Hochschule für Gestaltung und Kunst, keine persönlichen Notizen niederlegte. Ich formulierte zwar jeden Tag so viele Briefe, Aktennotizen, Emails, Rundschreiben, Vorworte, Sitzungseinladungen, Anträge und Erläuterungen wie kaum je zuvor. Doch weder Anekdoten, Witze, peinliche Momente, Wuttiraden und Klagen, noch Standortbestimmungen zu meiner eigenen Befindlichkeit, persönliche Einschätzungen irgendeines Tatbestands, wie sie sonst in meinen Tagebuchnotizen vorkommen, existieren aus dieser Zeit. Keine Bewunderung für Arbeiten von Studierenden, keine hämischen Bemerkungen zu Vorgesetzten, Kollegenschaft, Gremien, Mitarbeitenden und Studierenden, kein Eigenlob, nicht einmal Notizen zu meinem reichhaltigen, wenn auch etwas wechselhaften Liebesleben jener Zeit sind irgendwo festgehalten. Dieser Mangel an Niedergeschriebenem verschleiert ein bisschen die klare Sicht auf diesen Lebensabschnitt, der, ich sagte es schon, für mich eigentlich so bedeutend war.

 

Es scheint aber, als ob mich auch eine magere Quellenlage nicht davon abhalten könnte, ein paar Worte zu meiner Luzerner Zeit zu verlieren. Vorsorglich verleihe ich dem Text den Arbeitstitel Nur schwache Erinnerungen an Luzern.

 

Wichtig und bedeutend für mich ist dieser Lebensabschnitt aus folgenden Gründen. Erstens war ich beim Antritt dieses Jobs bereits 49 Jahre alt und zum ersten Mal in meinem Leben so richtig angestellt. Mit Pensionskasse und allem, was dazugehört. Diese Umstände erlauben es mir heute, wenigstens im günstigen Ausland ohne gravierende Geldsorgen einen anständigen Lebensabend zu verbringen, auch wenn es für die teure Schweiz nicht ganz reichen würde. Dieses jetzt monatlich eintreffende Pensionsgeld verpflichtet mich zu grosser Dankbarkeit, als Rektor gewählt worden zu sein, und zu Respekt gegenüber mir selbst, meinen unbändigen Drang nach Unabhängigkeit zu Gunsten einer Altersvorsorge für gute elf Jahre in Schach zu gehalten zu haben.

 

Wichtig für mich ist zweitens dieser Lebensabschnitt auch, weil ich mich darin neu erleben und definieren durfte. Ich gehörte plötzlich zum oberen Kader einer kantonalen Verwaltung, war leitender Angestellter, Höheren gegenüber rapportpflichtig und Mitarbeitenden gegenüber weisungsberechtigt und in Fürsorgepflicht. Meine Sozialisation, meine Ausbildung und mein vorausgegangener beruflicher Werdegang waren nicht darauf angelegt, dass ich dereinst eine öffentlich-rechtliche Institution führe mit 180 Mitarbeitenden auf der Lohnliste, mit über 700 Vollzeitstudierenden und mit einem Etat von weit über 25 Millionen Franken. Ich werde noch heute von kritischen Freunden gefragt, wie ich das geschafft und was mich denn für diese Funktion überhaupt qualifiziert habe...

 

In dieser neuen Stellung war ich auch Mitglied einer Geschäftsleitung, welche die Geschicke von vier weiteren und zum Teil wesentlich grösseren Ausbildungsinstitutionen als die meine steuerte. Darüber hinaus nahm ich in meiner Rolle als Rektor auch Einsitz in eidgenössischen und kantonalen Kommissionen, in Interessensverbänden und im Board internationaler Organisationen. Nicht selten war ich dort nach kurzer Zeit schon Vorsitzender oder zumindest im geschäftsführenden Ausschuss. All diese Funktionen als Experte erforderten einen anderen Wyss als den, den ich von früher her bestens zu kennen meinte. Plötzlich bekam meine Stimme institutionelles Gewicht und wurde wenig infrage gestellt. – Ich erwähne dies nicht, um damit anzugeben, sondern weil für mich diese Rollen Neuland waren und stets das Element der Bewährungsprobe in sich bargen. Von Hause aus war ich als freier Journalist, leichtfüssiger Ethnologe und Schwamendinger Faktotum ein Einzelkämpfer ohne Institutionen hinter mir. Ich arbeitete projektorientiert wie eine Biene, die von Blüte zu Blüte summt und dort nur so lange verweilt, wie der Nektar fliesst oder: bis der Nektar zu fliessen beginnt. Doch dies ist eine andere Geschichte.

 

Meine mitgebrachte Expertise in kulturanthropologischen Angelegenheiten half mir in Luzern wenigstens in Krisensituationen. Bei der Analyse eines Konflikts zum Beispiel versuchte ich mir jeweils vorzustellen, ich befände mich in einem Eingeborenendorf, wo es gilt, nach den wahren Häuptlingen Ausschau zu halten, nach den vermeintlichen Häuptlingen zu fahnden und diejenigen ausfindig zu machen, die eigentlich auch gerne Häuptlinge gewesen wären, aber aus Gründen, welche meistens die Quelle des Konflikts waren, daran gehindert wurden.

 

Drittens ist dieser Lebensabschnitt aber auch wichtig für mich, weil ich als teilnehmender Beobachter und Mitgestalter hautnah das Heranwachsen eines bedeutenden Schweizer Bildungsvorhabens mitverfolgen und mitgestalten konnte. Ich wurde im Laufe dieses fraglichen Jahrzehnts zu einem Hochschul-Fachmann. Ich lernte Finanzierungsmodelle, Bildungspolitik, Gesetzesvorgaben, Verordnungen und Entscheidungsprozesse kennen und genoss bei vollem Lohn Weiterbildungsprogramme, die schon fast einem MBA gleichkommen. Das Gebot der Internationalisierung erlaubte mir überdies, viele Länder kennenzulernen. Ich besuchte in meinem eigenen Auftrag Städte und Schwester-Institutionen in Finnland, Irland, Schweden, Holland, Deutschland, Frankreich, Spanien, Grossbritannien, Kenia, Ghana und Nigeria, in den USA, in Indien und – vor allem - in China und unterzeichnete da und dort Absichtserklärungen, deren Nachhaltigkeit nur in den wenigsten Fällen gewährleistet war. Zudem lernte ich mit einem Economy-Ticket Business-Class fliegen und machte auf der ganzen Welt eine Menge Freunde. Dies alles nützt mir zwar heute nichts mehr, aber mein durch die Jahre gewachsenes Verständnis für Management-Probleme, für Budget- und Personalplanung, Qualitätsmanagement und saubere Rechnungslegung, für Führung und Organisationsentwicklung ist geblieben. Abgenommen hingegen hat sich im Verlaufe meiner Arbeit das Interesse an Kunst und Kunstausbildung.

 

* * * 

 

Mein erster Tag am 1. April 1998 fiel in die Osterferien. Im damaligen Hauptgebäude an der Rössligasse 12 war kein Mensch zugegen. Es war abgemacht, dass ich im Sekretariat der Schule Protokolle, Jahresberichte und weiteren Lesestoff abhole, um die Papiere in den verbleibenden paar Ferientagen durchzuackern. Ich wollte gerüstet sein, wenn es in der darauffolgenden Woche losgeht. Mein Problem war nur, dass ich das Sekretariat nicht fand. Ich irrte in diesen uralten Gemäuern, welche vor bald tausend Jahren ein Frauenkloster beherbergten und später Sitz der päpstlichen Nuntiatur waren, und worin noch später die erste protestantische Kirche Luzerns ihren Zufluchtsort fand, umher und dachte immer, wenn mich jetzt jemand sähe, den neuen Rektor dieser Schule, wie er verzweifelt sein Sekretariat sucht, dann Guetnachtamsächsi. Doch man kannte mich zu diesem Zeitpunkt noch kaum, und niemand war zugegen. Nach dem dritten Anlauf die steilen Treppen hoch und runter klopfte ich dann doch noch an der richtigen Tür.

 

Im Nachhinein scheinen mir die nicht angeschriebenen Türen ein Sinnbild des damaligen Zustands dieser ältesten Kunstschule der Schweiz gewesen zu sein. Sie zählte weniger als 200 Studierende und nur ein Dutzend Dozierende, die meisten davon Alteingesessene, die sich eher an der 120jährigen Tradition der alten Meister orientierten als nach den neuesten Textverarbeitungsprogrammen. Ja, es gab einen wunderbaren Raum für Handbleisatz, wo täglich der Beweis geführt werden konnte, was alles der Computer nicht kann. Stichworte dabei waren die haptische Erfahrung und die Abweichung von der Norm.

 

Die Schule glich einem Geheimbund. Nur Eingeweihte wussten, wohin die Türen führen. Andere hatten dort nichts zu suchen. Dieses Gefühl, als Eindringling zu gelten, welcher die bewährte Ordnung durcheinanderzubringen drohte, indem er Öffnung und Sichtbarkeit forderte, wo bislang geheimes Wissen herrschte, holte mich im Verlaufe meiner Amtszeit noch verschiedene Male ein.

 

Es vergingen satte zwei Jahre, bis alle Räume bis zur Besenkammer ordentlich und nach einheitlichem System angeschrieben waren. Mir fehlten zunächst die Ressourcen dazu, und später konnten sich die vielen Typographie-Experten des Hauses nur schwer auf ein durchgehendes Leitsystem einigen, welches in allen Gebäulichkeiten und bei allen Türen gleich befriedigend hätte zur Anwendung gelangen können. Erschwerend kam noch hinzu, dass ich als Nicht-Gestalter keinen Stich hatte. Was ich ansprechend fand, stiess unter meinen Fachleuten von Anfang an auf prinzipiellen Widerstand.

 

Zu meinem Trost erinnerte ich mich in solchen Momenten an eine Aussage, welche ich bei meiner Bewerbung gegenüber der Wahlkommission gemacht hatte. Damals waren auch zwei Vertreter der Dozentenschaft zugegen. Ich hob, so meine ich mich zu entsinnen, das Wasserglas, das vor mir stand, und sagte, ich würde mich als Rektor nicht anheischig machen zu behaupten, dass dieses Design hier schön oder hässlich sei. Doch ich würde mich dafür verwenden, dass an der Schule zu jedem Zeitpunkt darüber befunden werden kann, welche Qualität diese Glasform aufweise. Dafür sei diese Institution schliesslich auch da...- Ich behaupte einmal, diese Aussage sei für meine Wahl ausschlaggebend gewesen.

 

So leidenschaftlich die Lehrerschaft um Ästhetisches zu ringen wusste, so sehr hemmte sie sich gegenseitig, wenn es in der eigenen Schule um Entscheidungen gestalterischer Natur ging. War es Futterneid, dass man dem Vorschlag eines anderen Gestalters den Zuschlag einfach nicht gönnen mochte? – Der akzeptable Kompromiss bestand oft darin, für Gestalterisches Schulabgängerinnen und -abgänger zu beauftragen, um so einem internen Konflikt aus dem Weg zu gehen und erst noch eine gute Tat zu vollbringen. Das berufliche Wohlergehen des Nachwuchses war schliesslich ein Herzensanliegen jedes Lehrers. Das war so bei unseren Internet-Auftritten, bei den verschiedenen Publikationen, welche wir im Laufe der Zeit verbrauchten, bei den Studienführern, bei vielen Plakaten, Broschüren und Zeichensystemen. In besonderer Erinnerung bleibt mir das erste Logo der Hochschule für Gestaltung und Kunst. Das war eine Zangengeburt und hinterliess viele Unzufriedene, weil das „K“ in den ersten Entwürfen mit viel Fantasie an ein Hakenkreuz zu erinnern vermochte. Es rief unendliche Debatten hervor und drohte die Grundpfeiler der Schule zu erschüttern.

 

* * * 

 

Was mir zu Anfang am schwersten fiel, war der Verzicht auf einen charakteristischen Zug von mir. Ich gelte als ironischer und selbstironischer Mensch. Oft mit einem Schuss Sarkasmus durchsetzt. Und ich meinte, an Lehrerversammlungen und auch im bilateralen Gespräch damit zu punkten. Im Sinne von: wir sind unter uns, wir pflegen ein von freiem Geist durchsetztes, tabu- und repressionsfreies Künstler-Milieu und frönen dem Spott auf die Füdlibürger dort draussen auf der Gasse. Ich hielt mein Wesen für die beste Eintrittskarte, um im Geheimbund dieser Kunstgewerbler freundliche Aufnahme zu finden. Darauf freute ich mich und war überzeugt, damit dem Image eines mühsamen, sturen Vorgesetzten zu entkommen.

 

Ja Pustekuchen. Da wurde ich auf dem falschen Fuss erwischt! Man nahm mich in einer Weise wahr und interpretierte meine Worte auf eine Art, worauf ich schlicht nicht vorbereitet war. Alles, was ich sagte, wurde auf die Milligramm-Waagschale gelegt und mit mehr als einem Schuss Argwohn interpretiert. Zum Schluss einer Zusammenkunft bestand regelmässig grösserer Erklärungsbedarf als zu Anfang. Ich wurde mit Fragen bestürmt, wie ich dies oder jenes gemeint hätte, als ob ich dies oder jenes überhaupt je gemeint hatte. – Für mich war dies der Anfangsschock meiner Rektorenlaufbahn, und ich musste mein ironisches Mäntelchen einmotten und ganz weit hinten im Kleiderschrank verstauen.

 

Gefragt war ein rektoraler Overall, woran ich aus zwei Gründen schwer trug. Plötzlich war Kommunikationsökonomie angesagt. Ich musste, bevor sie meinen Mund verliessen, die Worte von möglichen Zweideutigkeiten reinigen und sie selbst auf die Waagschale legen. Zweitens musste ich einsehen, dass sich diese künstlerisch orientierte Lehrerschaft in nichts von dem unterschied, was meine Mutter, die erfahrene Journalistin, von Tierschützern, Lehrern und Pfaffen ganz generell sagte: sie hätten keinen Sinn für Humor.

 

Das stimmte nicht ganz. Untereinander konnten sie es lustig haben, wenn sie sich nicht grad aufs Messer bekriegten oder irgendeine ihrer Verdächtigungen oder Intrigen lostraten, bei denen ich, wie man es mir jeweils unter Sicherung absoluter Diskretion zutrug, oft genug Zielscheibe war. War ich aber zugegen, verstummte die Szene und liess mich wissen, dass man nicht auf mich gewartet hat. Ich musste lernen, kein Kumpel von denen sein zu wollen. Das tat mir anfangs weh, weil ich mich für jemand anderen hielt als den, den sie in mir sahen. Ich musste einsehen, in solchen Momenten besser den Blindflug-Modus einzuschalten und mich möglichst schnell wieder aus dem Staub zu machen.

 

Gottseidank hatte ich ausser an einsamen Sonntagen fürs Leiden kaum Zeit. Vor allem aber: ich war nicht ganz allein. Einzelne Dozierende pflegten mit mir einen freundschaftlichen Kontakt, zum Beispiel ein Gody Hofmann oder ein Tobias Wyss, ein Otto Marchi oder ein Tino Steinemann oder der sehr präsente und eigenwillige Otto Heigold, dessen unbedingter und fordernder Anhänglichkeit ich selbst manchmal aus dem Weg gehen musste. Auch mit den Damen des Sekretariats verstand ich mich gut und pflegte zu ihnen ein herzliches Verhältnis. Vor allem aber durfte ich vom ersten Tag an erfahren, dass loyal auf meiner Seite stets mein Prorektor stand, Leza Uffer. Ohne ihn hätte ich es nicht geschafft, nur damit dies klar ist. So, wie er die alte Schule vor meiner Zeit mitgetragen hatte und meinem Vorgänger den Rücken freihielt, so half er jetzt mir über all die Jahre beim Auftrag, diesen Wandel von einer höheren Fachschule zu einer Hochschule, von dem noch die Rede sein wird, in Angriff zu nehmen und mitzutragen. Zudem stellte sich heraus, dass er als geborener und eingefleischter Pädagoge auch unter meiner Ägide am besten als Innenminister fungierte und in seiner väterlichen Art allfällige Probleme mit Dozierenden und Studierenden so weit abfederte, dass ich in vielen Fällen dafür gar nicht mehr behelligt werden musste. – So richtig befreundet, scheint mir, hatten wir uns dann aber im Spätherbst 2000 auf der Reise zum Elia-Kongress nach Barcelona. Elia steht für European League of  Institutes of the Arts und ist noch heute das wohl wichtigste Netzwerk von Kunsthochschulen Europas und in diesen Belangen auch Fürsprecherin und Ansprechpartnerin der Europäischen Union. Auch wenn die Schweiz kein EU-Mitglied ist, durften wir dort als Assoziierte gleichwohl mittun.

 

Alle zwei Jahre veranstaltet Elia eine grosse Biennale, wo Vertreterinnen und Vertreter von über 300 Kunstschulen aus ganz Europa zusammenkommen, um aktuelle Probleme zu erörtern. Im fraglichen Jahr fand diese in Barcelona statt, und Leza hatte die verwegene Idee, anlässlich der Generalversammlung, wo auch über die nächsten Kongressorte verhandelt wurde, Luzern ins Spiel zu bringen. Und es funktionierte. Für das Jahr 2004 wurde nach kurzer Diskussion die Leuchtestadt als Austragungsort des Kongresses auserkoren. Das Motto hiess Challenging the Frame. Damals hatte Jean Nouvels Kultur- und Kongresszentrum, KKL genannt, noch den Geruch des Neuen und Sensationellen und konnte mit seinem weitausholenden Dach am See punkten. Das Gebäude würde in jedem Falle einen etwas würdigeren Rahmen abgeben als diese Lokalitäten hier in Barcelona, wo die eigentlichen Kongressräumlichkeiten wegen unvollendeter Bauarbeiten gar nicht zur Verfügung standen.

 

Der Reiz, in wenigen Jahren aus ganz Europa Kolleginnen und Kollegen zu empfangen und sich auszutauschen, war schon ein bisschen anderer Art als die halbjährlich stattfindenden Dienststellenleiter-Konferenzen mit unserer Erziehungsdirektorin Brigitte Mürner, die im früheren Leben einmal Gesangslehrerin war. Sie sorgte jeweils dafür, dass die sonst eher trockenen Zusammenkünfte auf irgendeinem luzernischen Landsitz mit Eigengesanglichem aufgelockert wurden. So durfte ich im Vielklang mit den Direktoren des Naturmuseums, des Historischen Museums, der Zentral- und Hochschulbibliothek, den Rektoren der Kantonsschule Alpenquai, der Höheren Wirtschaftsschule und des Technikums, der Pädagogischen Hochschule und der im Entstehen begriffenen Universität, der Leiterin der heilpädagogischen Ausbildung, der Vertretung der Logopäden, und mit vielen weiteren Dienststellenleiterinnen und Vertretern der zentralen und departamentalen Dienste Am Brunnen vor dem Tore, Hoch auf dem gelben Wagen oder Das Wandern ist des Müllers Lust intonieren. Wer sich der Worte nicht genau entsinnen konnte, bekam freundlicherweise Textblätter ausgehändigt.

 

Am letzten Tag unseres Barcelona-Aufenthaltes schlug Leza vor, dem Museu Nacional d’Art de Catalunya am Montjuïz einen Besuch abzustatten, was für mich zu einem exklusiven Vergnügen wurde. Er wollte mir in der Romanik-Abteilung die Fresken aus dem 12. Und 13. Jahrhundert zeigen, welche vor hundert Jahren aus den dem Untergang geweihten Kapellen des katalonischen Hinterlandes herausgelöst und im Museum in einer sakral nachempfundenen Umgebung neu montiert worden sind.

 

Die Begegnung mit dieser Kunst haute mich um, und Leza wusste meine Begeisterung mit seinem kunsthistorischen Detailwissen und seinem katholischen Hintergrund noch zu steigern. Er kannte alle Heiligen. Da ging mir auf, welchen Schatz an Wissen unsere Schule in Personen wie Leza und anderen Dozierenden besass, und ich brachte meiner eigenen Institution, so dünkt es mich, seit diesem Erlebnis wesentlich mehr Hochachtung und Respekt entgegen. Ja, es reute mich fortan, an den Theorie-Tagen nicht selbst die Schulbank drücken zu dürfen. Doch ich hatte anderes zu tun.

 

* * *   

 

Bemerkenswert ist, dass nirgends festgeschrieben stand, was ich an meinem Posten wirklich zu tun hatte. Ich bekam zu Anfang zwar eine Wahlurkunde zugeschickt, das war aber auch alles. Pflichtenheft gab es keines. So hätte ich eigentlich meine Hände von Anfang an in den Schoss legen können, was sich wohl viele meiner Dozierenden damals auch gewünscht hätten. Ich musste aber annehmen, dass an meine Wahl doch ein paar Erwartungen geknüpft waren. Woraus aber bestanden sie?

 

Der damalige Generalsekretär des Erziehungsdepartementes, Hans Ambühl, sagte dazu emphatisch, sodass der grosse Siegelring an seiner linken Hand mein Blickfeld streifte, ich müsse nach Luzern zu wohnen kommen, um in der hiesigen Kulturszene mitzutun. Sprich: mich und meine Schule bei Festivals wie der Viper (experimentelles Videoschaffen), des Fumetto (Comics) und der Gwand (avantgardistische Mode) einzubringen und mich auch in der Schüür (Veranstaltungsort für junges Publikum), im Kunstmuseum und im Theater blicken zu lassen. Im Stelleninserat wiederum, worauf ich mich beworben hatte, stand etwas von Wandel und Entwicklung: Das neue Fachhochschul-Gesetz, das bereits drei Jahre zuvor in Kraft getreten ist, verlangte jetzt bei all den Höheren Fachschulen, die auf die Hochschulstufe eine Anwartschaft hatten, nach rascher Umsetzung. Auch unsere Luzerner Schule für Gestaltung befand sich unter den Aspirantinnen. Dies hatte bereits mein Vorgänger, Benno Zehnder, eingefädelt, mir aber bei meinem Amtsantritt zu verstehen gegeben, dass ihn dieser Kraftakt, welcher der Kunst ausser administrativem Papierkram vermutlich keinen Mehrwert bringe, nicht interessiere. So war es an mir, den dafür vorgesehenen Pflock einzuschlagen und dafür zu sorgen, dass dieser auch hält.

 

Letztlich drehte sich dann in meiner elfjährigen Amtszeit tatsächlich fast alles um diesen einen Pflock. Schulintern sah ich mich dabei oft als Überbringer schlechter Nachrichten. Die Vorgaben übereifriger Beamten in Bern, welche sich in ihrem Normierungswahn vom Klassenunterricht der Ingenieur- und Wirtschaftsschulen leiten liessen, wo ihre Modul-Ideen zweifelsfrei und ohne Probleme anwendbar und erst noch berechenbar waren, passten nach der berechtigten Meinung meiner Hardcore-Künstlerschaft so gar nicht zum Wesen und zu den Grundlagen einer künstlerisch-gestalterischen Ausbildung. Darin teilte unsere Schule die Sorgen mit der Musikausbildung. Während das Berechnungsmodell der Berner Beamten für einen geordneten Fachhochschulbetrieb Kohorten mit genügend grossen Studierendenzahlen vorsahen, damit sie das Kriterium der kritischen Masse erfüllten, wie sich der Chef des Eidgenössischen Fachhochschulrates, Dr. Stephan Bieri, Direktor der Aargauischen Elektrizitätswerke und damit Vertreter der Atomstromlobby auszudrücken beliebte, verstanden Musiklehrer und Kunst- und Gestaltungsausbildner ihre Angebote als hoch differenzierten und stark individualisierten Lehr- und Lernprozess einiger wenigen. Hier waren üben, üben, üben und Einzelunterricht (bei den Musikern) und individuelles Arbeiten in Werkstätten und das Scheitern an einer Aufgabe (bei den Gestaltern) integraler Bestandteil eines Ausbildungscurriculums. Und dies soll nun in normierten Päckchen von Modulen übergehen, ungeachtet der zu vermittelnden Inhalte? – Die impertinente und mit Macht vorgetragene Ignoranz von Bern spiegelte auch das Bild unserer eigenen Machtlosigkeit. Die Künste passten in diese Fachhochschullandschaft wie die Faust aufs Auge. Doch niemand von uns, weder meine Kolleginnen und Kollegen anderer Gestalterschulen in der Schweiz noch ich konnten dies den Funktionären weismachen, weil alles von Vorneherein festgelegt sein musste und keine Abweichung duldete. Man wollte wohl verhindern, dass bei den Künstlern ein Stein ins Rollen kommt, dessen Bahn als unberechenbar eingeschätzt wurde. Ja, man wollte uns vor uns selbst schützen, wie ein Beamter mir einmal erklärte. Würden wir nämlich ein Sonderzüglein beanspruchen, so bestünde die Gefahr, als quantité négligeable aus dem ganzen Werdungsprozess ausgeschlossen zu werden und weiterhin eine höhere Fachschule zu bleiben ohne Anschluss an die Liga der Hochschulen. – Als ich das einmal an einer unserer Dozierendenversammlungen weitergab, antwortete Dora Wespi glasklar: Wir sind doch kein Fussballclub.

 

So galt ich an der Rössligasse als Vollzugsgehilfe von Bern, als Verräter an der edlen Sache der Kunst. Mir wurde immer wieder der Vorwurf gemacht, mich zu wenig für die eigene Schule zu wehren. Mein Vorvorgänger, Werner Andermatt, wurde mir dabei als leuchtendes Vorbild eines Schuldirektors vorgehalten, weil dieser, so der Mythos, mit unanfechtbarer Autorität bestimmen konnte, was Sache ist und wie sie auszusehen hat. Wenn es sein musste, soll dieser Allmächtige auch gewagt haben, einem Erziehungsdirektor übers Maul zu fahren. Im Vergleich dazu blieb mir nur noch die Rolle einer kunstfernen Managermaus.

 

Mich trieben damals Fragen wie die folgenden um: Wie gehe ich mit dem genuinen Widerstand dieses störrischen Geheimbundes um? Welche Argumente und Gratifikationen stehen mir zur Verfügung, den Prozess gleichwohl voranzubringen, und in welchem Masse vermag der Lehrkörper diesen ins Haus stehenden Wandel mitzugestalten und muss nicht einfach neue, ungeeignete Regeln in Empfang nehmen? Vielleicht konnte ich damit locken, dass man als Hochschul-Lehrer etwa 20 Prozent mehr Lohn erhält und bei entsprechender Weiterbildung sogar den Status eines Professors verliehen bekommt?

 

In Einzelgesprächen erwies sich dann vieles, was vorher im Pulk aggressiv daherkam, als Verunsicherung und diffuse Angst. Vielen fehlte es an Gewissheit oder zumindest an Zuversicht, auch im neuen Umfeld gute Arbeit leisten zu können. Ein Begriff wie Interdisziplinarität nagte an der Identität und Autonomie des eigenen Angebots. Auch das Wort Hochschuldidaktik jagte einen Schrecken ein, der mit Gespött übertüncht wurde. Dies sei, so hiess es zunächst, die Lehre, wie man den Bleistift korrekt auf den Hellraum-Projektor lege. Und schliesslich versuchten vier Kernkompetenzen in unsere Lehre Einzug zu erhalten, deren Förderung neu in jedem Ausbildungsmodul nachgewiesen werden musste. Bei Max von Moos, einem weiteren vielbeschworenen Stammvater der Kunstgewerbeschule Luzern, hiess es noch: Du darfst einfach nie den Pinsel aus der Hand legen. – Wie sollte jetzt dieser pädagogische Ratschlag in Sozial-, Methoden-, Fach- oder Persönlichkeitskompetenzen gesplittet werden?

 

Ich halte meinem Prorektor und mir zugute, dass es uns gelang, den Wandel zur Hochschule weitgehend unter Wahrung der Arbeitsplätze und mit dem angestammten Personal zu schaffen. Natürlich kamen neu Abgängerinnen und Abgänger von Universitäten hinzu, welche mithalfen, den Forschungsbereich aufzubauen und das Weiterbildungs- und Dienstleistungsangebot zu entwickeln, doch in meiner Erinnerung geschah dies nicht auf Kosten der alten Garde, wie es an anderen Kunst- und Gestalterschulen oft der Fall war.

 

* * * 

 

Ja, ich wusste gut Bescheid über die Vorgänge und Nöte an den anderen Schweizer Gestalterschulen. Sie befanden sich im selben Prozess wie wir hier in Luzern. Dies gab mir einerseits die Gewissheit, dass Zusammenstösse mit dem angestammten Personal unausweichlich waren und man in meiner Position gezwungenermassen mit Widerständen zu leben hatte. Dafür erhielten wir Chefs schliesslich auch die Schafseckelzulage. Andrerseits schienen mir die Probleme in Zürich, Basel, Aarau, Bern, Lausanne, Lugano, Sierre und Genf wesentlich komplexer und konfliktträchtiger als das, woran wir in Luzern nagten. Dies hing nicht zuletzt auch mit dem Charakter und den Empfindlichkeiten der Leitungspersonen zusammen, die anderswo das Sagen hatten. Ich erlebte diese Kollegen mit ihren Geschichten aus den Nähkästchen an den Direktorenkonferenzen, die mehrmals im Jahr an verschiedenen Orten der Schweiz stattfanden. Da war alles, was in Luzern geschah, im Vergleich dazu ein Dreck. Mir kamen diese Zusammenkünfte wie das Treffen keifender Klageweiber oder verletzter Mimosen vor, welche in diesem Rahmen die einzige Gelegenheit sahen, den Frust über ihre eigene Machtlosigkeit, den Ärger mit der eigenen Trägerschaft, mit den Berner Beamten und mit den allzu unflexiblen, eigenwilligen Dozierenden loszuwerden. Damit aber nicht genug. Neben der Klage bot die Konferenz das ideale Umfeld, wo sich die Kollegen auch untereinander in die Haare kriegten.

 

Basel zum Beispiel, das Berndeutsch sprach und sozusagen im Monatsrhythmus neue Institute aus dem Boden stampfte, griff aus mir unerklärlichen Gründen, doch stets mit Stentorstimme, regelmässig das Hochdeutsch nuschelnde, übermächtige Zürich an. Zürichs Strategie hingegen waren die gespielte Verdatterung und der für uns anderen kaum tröstliche Hinweis, dass bei ihnen eh alles anders laufe. Auch Aarau, die einzige weibliche Stimme des Gremiums, musste sich gegen das laute Basel wehren, während Bern, das in der Schweiz unbedingt die erste Hochschule der Künste werden wollte, also einschliesslich Musik und Theater, unsere Konferenz nicht als das geeignete Forum ansah, über seine Sorgen zu debattieren. Das kleine Sitten, das man gerne übersah trotz dessen kühner Fusionsideen mit dem Tessin, um den welschen Häschern zu entkommen, brachte sich in dankbarer Weise ins Spiel, indem es als Übersetzer fungierte, weil sich das grossmäulige, laute und schrille Lausanne weigerte, Deutsch zu verstehen. Das vornehme, diskrete Genf hingegen verstand in der Tat kein Deutsch, scherte sich aber auch kaum darum, etwas zu verstehen, weil es als einzige derartige Institution der Schweiz von der République et  Canton de Genève schon 1977 den Hochschul-Status verliehen bekommen hatte. Bei Genf bestand eher das Problem, im Verlaufe der Fachhochschulwerdung degradiert und so dem Verbund der HES-SO, also der Fachhochschulträgerschaft der Romandie, einverleibt zu werden. Darauf wartete Lausanne geradezu, um in direkter Konkurrenz Genf frontal anzugreifen und es mit Intrigen und böswilligen Beschuldigungen wegblasen zu können. Lugano ennet dem Gotthard schliesslich beklagte sich lediglich über seine langen Anfahrtswege, blieb sonst aber stumm und staunte über das unerbittliche Temperament der Kollegen aus dem Norden.

 

Und ich? Luzern? Ich war oft Zielscheibe von Lausannes spitzer Zunge und konnte mich schon wegen meiner mangelnden Französisch-Kenntnisse nicht richtig wehren. Ich war allerdings tröstlicherweise nicht Lausannes einzige Zielscheibe. Alles, was sich bewegte und nicht in Bewunderung für sein internationales Schaffen am Lac Léman ausbrach, wurde zur Zielscheibe und mit schrill vorgetragenem Spott überschüttet. Wer im name dropping namhafter Künstler und in der Nennung von prestigeträchtigen Partnerschaften mit Mailand, Monterey, Shanghai, London, Paris und Singapur nicht mithalten konnte, und das konnte keiner von uns anderen, trug unweigerlich den Badge non-valeur am Revers. Das waren jeweils die einzigen Momente, wo alle anderen Rektoren solidarisch zusammenstanden und sich von diesen inadäquaten Ausbrüchen Lausannes unangenehm berühren liessen. Lausanne übrigens trat immer mit seinem Adjudanten auf, und männiglich bewunderte diesen für dessen Leidensfähigkeit. Dieser war es auch, der jeweils – in exzellentem Deutsch – die Wogen wieder zu glätten versuchte.

 

Ja, hinter „Lausanne“ versteckt sich natürlich der legendäre, exzentrische Pierre Keller, klein an Gestalt, mit grossem Ring am Finger und mit der grösstmöglichen, schwarzen Limousine von Mercedes unterwegs. Er wird diese Zeilen nicht einmal mehr in französischer Übersetzung lesen können, starb er doch im Sommer 2019 an Leberkrebs. Die Art seines Hinschieds erinnert mich an eine Zusammenkunft im Weinkeller seines Winzerhauses in Richtung Montreux, wohin er uns Rektoren nach einer Konferenz einmal eingeladen hatte. Er zog aus den Regalen voller ungeordnet übereinanderliegender Weine eine Flasche nach der anderen hervor und liess uns davon kosten. Da die Provenienz dieser Weissen vom Wallis oben bis nach Genf hinunter reichte, hatten wir alle bald schon einmal genug intus. Doch Pierre, der uns alle unter den Tisch saufen wollte, füllte unsere Gläser trotz unseres Protests immer neu auf, und wir sahen uns nach und nach veranlasst, in unbeachteten Augenblicken die edlen Tropfen diskret auf den Kiesboden zu schütten, wo sie langsam versickerten und wohl den Ratten und Mäusen noch ein angenehmes Erlebnis zu vermitteln vermochten.

 

Lausanne wandelte sich im Laufe der Zeit zu Renens westlich von Lausanne, wo sich Keller vom Architekten Bernard Tschumi und mit tatkräftiger Unterstützung der IKEA-Stiftung eine neue Kunst- und Designschule hinbauen liess. Alle hatten begeistert zu sein vom Neubau, doch die Studierenden klagten, sie dürften nicht einmal etwas an die weissen Wände heften. In Renens wurde nach Kellers Plänen im Untergeschoss auch ein geräumiges Besprechungszimmer im Design eines Waadtländer Weinkellers eingebaut mit Kiesboden und mit vielen kostbaren Tropfen in den Regalen. Dort wurde ich von Pierre anlässlich eines Besuches einmal mehr aufgezogen, weil mir um elf Uhr morgens noch nicht der Sinn nach einem Glas Weisswein stand.

 

Bei den Rückfahrten nach Luzern fragte ich mich oft, was ich falsch mache. Nicht einmal zu einem Weinkeller reichten meine Pläne. Ich wäre schon froh gewesen, wenn die Liegenschaftenverwaltung des Kantons Luzern mit unseren wesentlich bescheideneren Raumansprüchen etwas gnädiger umgegangen wäre. Die Herren dort waren zu meiner Zeit und übers Ganze gesehen die freundlichsten und gleichzeitig die unerbittlichsten von allen Behörden, mit denen ich es je zu tun hatte. Sie schienen sich jedes Mal auf ihre eigenen Schultern zu klopfen, wenn sie sich wieder einmal der Bedürfnisse unserer Kunsthochschule zu verweigern wussten. Denn damit war ihnen das Lob der sparwütigen Regierung gewiss. – Im Gegenzug durften unsere Studierenden wenigstens an die Wände pinnen, was immer sie wollten. Unsere Schule war kein Design, dem man durch Einschränkung zu huldigen hatte. Luzern war eine Schule, welche den Studierenden in Gewährung grösstmöglicher Freiräume und bespielbarer Wände huldigte.

 

* * *

 

Auch ich huldigte den Studierenden auf meine Weise. Wann immer es mir die Zeit erlaubte, bestand eine meiner liebsten Beschäftigungen darin, managing by wandering around zu betreiben. Auf dem Flur begegnete ich immer wieder Studierenden, mit denen ich mich gerne auf einen Schwatz einliess. Oft konnte ich so en passant auch zur Bereinigung anstehender Probleme beitragen, ob es sich jetzt um einen fehlenden Schlüssel zum Ausstellungsraum, um die Öffnungszeiten über die Festtage oder um Stress mit einem Abgabetermin ging. Für mich waren diese informellen Begegnungen wie das Messen der Betriebstemperatur. Beim Herumgehen konnte ich auch bei manchen Dozierenden mit einem kurzen Gedankenaustausch die Stimmungslage ausloten und meinen Respekt für deren Wirken zum Ausdruck bringen. Derartige Begegnungen ersetzten keine formalen Beschlüsse und unterliefen auch nicht bereits getroffene Abmachungen. In meinen Augen waren sie aber Ausdruck der Wertschätzung, auf welche ich stets grosses Gewicht legte. Deshalb trafen mich diesbezüglich eigene Fehlleistungen stark. Bei Verdankungen an Diplomfeiern vergass ich in meiner Schusseligkeit zuweilen, die grosse Arbeit des Sekretariats zu würdigen. Oder die Bemühungen des Hausdienstes, den Rahmen dieser Feier so schön hergerichtet zu haben. Oder die Dozierenden, die über alle Verpflichtungen hinaus den Diplomanden stets die grösstmögliche Aufmerksamkeit zukommen liessen. Und so weiter. So etwas konnte mich noch Tage später beschäftigen, und ich schämte mich dabei.

 

Auf meinen Management-Wanderungen tauchte ich öfters und unangemeldet auch an Projektbesprechungen auf und bekundete so mein Interesse an Vorhaben, die gerade im Gange waren. Ich liebte es, die Schule als Wundertüte zu erleben, welche für mich bei jedem Rundgang neue Überraschungen bereithielt. Den Vorwurf, bei einem bestimmten Projekt keinen Augenschein genommen zu haben, hielt ich für ein gutes Zeichen. 

 

Besonders unsere Textilabteilung hatte es mir immer wieder angetan. Ich bewunderte diesen Studiengang dafür, dass hier ingeniöses Wissen mit kreativer Experimentierlust einherging. Ohne etwas von der Mechanik eines Webstuhls und der Programmierung eines Musters zu wissen, lief nichts. Ohne die geringsten Kenntnisse von Material, Rapportabläufen und Chemie blieb jedes Vorhaben in seinen Anfängen stecken. Die Studentinnen dort schienen mir besonders geerdet und bereit, mit ihren Kreationen vom Boden abzuheben.

 

Doch einmal trat ich bei meinen Wanderungen ins Fettnäpfchen. Unbeabsichtigt und offenbar zu wenig auf der Hut. Vor der Tür zu meinem Büro befand sich ein Kopierapparat. Dort machte sich eines Tages eine unserer amerikanischen Austauschstudentinnen zu schaffen. Vermutlich klemmte ein Blatt Papier, und als ich zufällig vorbeikam, anerbot ich mich zu helfen. Ich erinnere mich nicht mehr genau, was ich sagte, wahrscheinlich wollte ich besonders charmant sein, doch plötzlich erbleichte diese junge Frau und war nahe daran, laut um Hilfe zu schreien. Erschrocken zuckte ich zusammen und wusste nur, dass jetzt gerade etwas schrecklich schiefgelaufen sein musste. Hätte ich ihr zur Beruhigung sagen sollen, ich sei doch schwul und interessiere mich nur in beschränktem Masse für Frauen? Irgendwie hielt ich mich nicht dafür und musste überdies einräumen, dass diese junge Frau hinreissend aussah mit ihrem afro-amerikanischen Einschlag, der Männer verrückt machen konnte. Ich hatte mich also mit meinem Hilfsangebot vertan und musste zur Beruhigung der Situation schnellstens eine Mitarbeiterin als Zeugin um Hilfe rufen. Zu dritt gingen wir in mein Büro, worauf ich die Amerikanerin um Entschuldigung bat, ohne überhaupt genau zu wissen, was die Ursache ihrer heftigen Reaktion sein mochte. Die Studentin aber bestrafte mich die ganze Zeit mit Schweigen, verliess nach Entgegennahme meiner Erklärung das Büro und wich mir fortan bis zu ihrer Heimreise nach Chicago, drei Monate später, in grossem Bogen aus.

 

Dabei hatte ich mir doch von allem Anfang meiner Amtszeit an vorgenommen und zog es, mit einer Ausnahme, auch konsequent durch, dass ich nichts, aber auch gar nichts Privates je mit Studierenden teilen wollte. Dies war, wie ich mir immer wieder bestätigen lassen musste, in unserer Schule gar nicht so selbstverständlich. – Bei mir bezieht sich die Ausnahme auf einen Studenten, der mir, übrigens vor demselben Fotokopierer, in etwas anzüglicher Weise zu verstehen gab, dass es zur Fasnachtszeit schon vorgekommen sei, sich mit Männern einzulassen. Es war weniger die Mitteilung an sich, die meine Aufmerksamkeit erregte, sondern seine herausfordernde Art, die auf eine spezifische, mit Koketterie durchsetzte Intelligenz schliessen liess, die mich zugegebenermassen anzog. Wir pflegten von da weg einen lockeren, freundschaftlichen Umgang, der ab und zu auch seine Teilnahme an den sonntäglichen Suppenessen bei mir zu Hause miteinschloss, wo er gerne in Begleitung seiner Freundin vorbeikam, bis er mir eines Tages gestand, dass er empfindlich auf Knoblauch reagiere, der in meinen Suppen reichlich Anwendung fand. Ich stand nun vor der Wahl, die Anzahl der Knoblauchzehen zu reduzieren, oder das Risiko zu laufen, von ihm keinen Besuch mehr zu bekommen. Er kam weiterhin, aber nicht mehr so oft. Ganz zu Anfang unserer Freundschaft teilte ich ihm im Sinne eines Versprechens einmal mit, solange er bei uns studiere, finde von meiner Seite her keine Annäherung irgendwelcher Art statt. Doch wehe, er halte sein Diplom in Händen, dann müsse er sich vor mir in Acht nehmen...  Darüber konnten wir beide herzlich lachen. Tatsache ist aber, dass er nach seiner Diplomierung gänzlich aus meinem Gesichtsfeld verschwand. War es meine Jahre zuvor spasseshalber geäusserte Drohung, die ihn dazu bewog? – Ich gestehe, dass ich ihn eine Zeitlang sehr vermisste.

 

* * *

 

Erinnerungen zurren sich an Einzelereignissen fest, an kleinen Geschichten und Erlebnissen, die sich aus irgendeinem, oft banalen Grund im Gedächtnis festgesetzt haben. Sie sind wie Fotografien, die etwas aus einer bestimmten Zeit bewahren, ohne aber den Fluss dieser Zeit über die Jahre hinweg, die Veränderungen seines Laufes in einer einzigen, grossen Bewegung darstellen zu können. Als ich diesen Text zu schreiben begann, wollte ich eigentlich diesen Fluss darstellen, diese Entwicklung, diesen Wandel von der kleinen, verschworenen Gemeinschaft hin zu einem stattlichen Unternehmen elf Jahre später. Das hätte die Schilderung der schieren Vervierfachung der Studierendenzahl beinhaltet; des Umzugs unseres Hauptsitzes von der Rössligasse ins Sentimatt-Schulhaus, eines ehemaligen Fabrikationsgebäudes der Schindler-Aufzüge, das wir allerdings mit der Pädagogischen Hochschule teilen mussten; des Bezugs weiterer Provisorien von der Baselstrasse bis nach Littau; der leidvollen Übergabe der Grafikfachklasse, eines Angebots der Sekundarstufe zwei mit Berufsmatura, an die Berufsmittelschule; des steten Kampfes um die Erhaltung des Vorkurses; der Bildung zweier Institute, welche neben der Lehre auch Forschungsprojekte, Weiterbildungs- und Dienstleistungsangebote entwickelten; des Aufgleisens neuer Studiengänge, wie zum Beispiel des ersten durchgängig englischsprachigen Angebots an der Hochschule Luzern, called Design Management, International; des Lancierens von Nachdiplomstudien wie zum Beispiel des Longsellers Kulturmanagement, woraus der jetzige Direktor der Pro Helvetia und viele weitere Führungspersönlichkeiten hervorgegangen sind; der wachsenden Kooperationen mit anderen Bildungsinstitutionen, insbesondere mit der Hochschule für Technik und Architektur in Horw, aber auch mit europäischen, amerikanischen und asiatischen Partnerschulen – und so fort. Doch die Darstellung dieses Gesamtausbaus ist in der Rückschau nicht besonders sexy und sollte doch lieber einem faktenkundigen, zünftigen Historiker überlassen bleiben. Ich merke beim Schreiben, wie mich diese Art von Leistungsschau langweilen würde. Soll ich denn über die vielen, fein säuberlich protokollierten Sitzungen der Geschäftsleitung der fünf Teilschulen wirklich Worte verlieren, in welcher wir Schulleiter zuerst als Rektoren auftraten und der Leiter dieses Gremiums als Direktor, während zum Schluss meines Wirkens wir ein „Di“ an unsere Amtsbezeichnung angehängt bekamen, während der Direktor zum Rektor mutierte? In Erinnerungen an diese Sitzungen sind mir vor allem die Wortmeldungen eines Kollegen geblieben, der jedes Mal irgendein Haar in der Protokollsuppe zu finden wusste. Ich bewunderte ihn wegen seiner Spitzfindigkeit und wegen seiner Witze, aber ich ärgerte mich auch über die Kehrseite seiner Medaille, nämlich damit die Abnahme des Protokolls so stark in die Länge zu ziehen, bis in der Regel viel zu wenig Zeit blieb, die eigentlichen Geschäfte des Tages zu erledigen.

 

Meine Rolle in diesem operativ wohl wichtigsten Gremium, das in der Zentralschweiz für die Realisierung der Fachhochschule verantwortlich zeichnete, schätze ich als recht marginal ein. Erstens war unsere Schule von den Studierendenzahlen her nicht systemrelevant, und zweitens verstand ich wohl von der Wirkungsweise irgendwelcher Kennzahlen und von den raffinierten Budget-Übertragungen und klugen Rechnungslegungen zu wenig, um fachgerecht mithalten zu können. Da waren neben mir Kollegen anderen technokratischen Kalibers versammelt, die sich untereinander durchaus im Wettbewerb verstanden und darauf achteten, besonders innovativ und vorausschauend zu argumentieren und sich clever in den sich stets verändernden Kontext einzubringen. Der Chef der Sozialen Arbeit zum Beispiel hatte bereits Ordner gefüllt mit Vorgaben, Richtlinien und Prozessen, welche auf uns anderen erst zukamen. Er erwies sich aber als so grosszügig, dass ich vieles aus seinem Schatz abkupfern durfte. Genau dies hatten meine anderen Kollegen aber nicht nötig, weil sie alle auch schon an eigenen Organisationssystemen herumwerkelten und uns anderen diese im Sinne von best practice beliebt zu machen versuchten. Leider erwiesen sich aber die meisten Lösungen, welche für eine einzelne Teilschule tauglich schienen, als nicht kompatibel mit den Bedürfnissen der anderen. Es fehlte zudem an Scharnieren, um der Direktion zu ermöglichen, all diese Einzellösungen in einem Gesamtpaket zu bewirtschaften. Zum Beispiel die Zangengeburt des Qualitätsmanagements. Während die Wirtschaftshochschule bereits zwei kostspielige Produkte mit mässigem Erfolg ausprobiert und damit Hunderte von Mannstunden und kostspielige Lizenzgebühren verheizt hatte, und während die Leute von Technik und Architektur sich lange Zeit weigerten, sich überhaupt damit zu befassen, weil sie ja schon längst ISO-zertifiziert waren, während die soziale Arbeit auch dafür zwei Ordner bereithielt, behauptete ich naiv und keck, wir bräuchten sowas nicht, weil ja der ganze Unterricht, das ganze Auswahlverfahren, das ganze Studium eigentlich aus nichts anderem bestünde als aus einer Maximierung von Qualität... Mir imponierte bei uns zum Beispiel das ausgeklügelte und recht langwierige Aufnahmeverfahren, das bei den Neubewerbungen jeweils zur Anwendung kam. Für mich bedeutete Qualitätsmanagement damals, dass es wichtig war, immer zu viele Anwärterinnen und Anwärter auf einen Studienplatz zu haben. So waren Wettbewerb und eine Auswahl unter den Besten garantiert, was sich gleichzeitig auch als unser effizientestes Marketing-Instrument erwies. Es soll nicht leicht sein, bei uns Aufnahme zu finden. Das schürt Begehrlichkeit und setzte in gewissem Sinne die Geheimbund-Tradition fort, die mir selbst zu Anfang so zu schaffen machte. Doch jetzt befolgten wir immerhin Regeln, die bei Nichteinhaltung einklagbar waren. Überdies waren wir dem kantonalen Personalrecht unterstellt, welches mir in Bezug auf korrekte, transparente Vorgehensweisen und iuristische Einsprachemöglichkeiten relativ gut ausgestattet schien. Kurz, ich hielt es nicht für dringlich, mich mit weiteren qualitätssichernden Techniken zu beschäftigen und so in Wettbewerb zu den anderen Teilschulen zu treten.

 

Irgendwann, Jahre später, als der Druck stieg, teilschulübergreifend doch noch ein Qualitätsmanagement aufzuziehen, welches einen Markennamen trug und den Vorstellungen fantasieloser Beamten entsprach, es hiess EFQM (European Foundation of Quality Management), verschriftlichten wir einfach das, was wir schon seit jeher taten, und hielten ohne viel Aufhebens noch ein paar weitere Prozesse fest, was offenbar die externen Kontrolleure fürs erste zu befriedigen vermochte. Ich behaupte noch heute, damit der Fachhochschule Zentralschweiz mehrere hunderttausend Franken an Herumeiern auf qualitativen Fragen erspart zu haben. Später übernahmen dann unsere Zentralen Dienste das Dossier Qualitätsmanagement und begannen zur Erreichung verschiedener Exzellenz-Stufen, welche dieses System vorsah, flächendeckende Befragungen durchzuführen. Mir ist nicht in Erinnerung, dass dabei Kunst&Gestaltung signifikant schlechter abgeschnitten hätten als die Schwesterschulen.

 

Am meisten Befriedigung allerdings verschaffte mir jedes Jahr unser Rechnungsergebnis. Wir figurierten konstant im Streubereich einer schwarzen Null, während meine Kollegen sich sehr grossen Schwankungen ausgesetzt sahen und zuweilen heftig auf die Mütze kriegten. Und doch denke ich manchmal, ob wir nicht auch besser gefahren wären, am Ende eines Rechnungsjahres einmal rote Zahlen vorzuweisen, um uns etwas geleistet zu haben, was in einem ordentlichen Budget nie eine Chance gehabt hätte und gleichwohl notwendig gewesen wäre. Rote Zahlen auch darum, damit niemand auf den Gedanken kommt, Budgetkürzungen vorzunehmen. Doch ich hatte stets meinen hervorragenden, korrekten und hilfreichen Controller zur Seite, der mich schonungsvoll und mit Erfolg durch den Zahlenwirrwarr steuerte. Einmal im Jahr konnten so Kunst und Design gegenüber der Trägerschaft brillieren...

 

* * *  

 

Zur Beschreibung der grossen Bewegung, des Flusses der Veränderung würde auch die Feststellung gehören, dass sich der Name der Schule für Gestaltung unter Geburtswehen erst zur Hochschule für Gestaltung und Kunst wandelte und Jahre später, zum Schluss meiner Amtszeit, sich selbst zum Departement Design&Kunst an der Hochschule Luzern degradierte. Alle Insignien von Autonomie und Selbstständigkeit wurden im Laufe meiner Zeit an die Zentrale weggegeben: Personalwesen, Controlling, Rechnungswesen, Hausdienst, Liegenschaftenbewirtschaftung, Kommunikation... Diese Veräusserungen machten alle betriebswirtschaftlich Sinn, ermöglichten weiterreichende Strategien mit entsprechender Finanzplanung und halfen mit, dass die Hochschule Luzern in ihrer Gesamtheit als potente Bildungsinstitution wahrgenommen wurde. Sie stand und steht ja immer auch in Konkurrenz zu anderen Schweizer Fachhochschulen und muss sich dort mit ihren Angeboten behaupten. Das damals gezimmerte Dach namens Hochschule Luzern vermittelt heute Schutz vor politischen Machenschaften fieser Art, welches bei dem hier nachfolgend zu schildernden Vorfall noch nicht vorhanden war.

 

Es dürfte 2005 gewesen sein. Wir waren inmitten des Bologna-Prozesses, also der Umstellung unserer auslaufenden Diplomstudiengänge in Bachelor- und Masterabschlüsse. Dieser Wechsel war insofern eine erfreuliche Erfahrung, als trotz grosser Vorbehalte der ganzen Belegschaft gegenüber der Bologna-Reform, also der international vergleichbaren, standardisierten Ausbildungsstruktur mit vorgegebenen Kreditpunkten, alle am gleichen Strick zogen. So meisterten wir bravourös den stressvollen Akkreditierungsprozess mit Selbstevaluation und Fremdbeurteilung durch namhafte Experten. Einzig beim Fach Animation mussten wir noch etwas nachbessern. Ich war mächtig stolz auf uns alle, und wir freuten uns schon, im nächsten Studienführer unsere ersten Masterstudiengänge anzubieten.

 

Eines Dienstags jedoch liess mich Markus Hodel, der die damalige Geschäftsleitung der fünf angeschlossenen Teilschulen präsidierte, wissen, dass uns der Konkordatsrat, im Gegensatz zu allen anderen Masterangeboten der übrigen Fachrichtungen, die Erteilung der Betriebsbewilligung für das Führen von Master-Angeboten verweigern wollte. Es bestünden Zweifel, ob diese bei uns überhaupt nötig seien. Es ginge doch auch mit einer schönen Grundausbildung mit Bachelor-Abschluss. Schliesslich erfülle dieser gemäss Richtlinien des Bundes die Forderung nach einer Berufsbefähigung (was natürlich keineswegs der Fall war, nirgends, in keinem Fachbereich und schon gar nicht bei den künstlerisch-gestalterischen Fächern). Wer gleichwohl weiter studieren möchte, was in der Kunst und im Design eh Luxus sei, so lautete das Verdikt weiter, möge doch woanders hingehen.

 

Der Schock traf. In den Augen dieser Erziehungsdirektoren waren unsere Ausbildungsgänge also ein verzichtbares Bildungsangebot. Auf die Musik waren alle stolz, diese gehörte schliesslich zur Musikstadt Luzern mit ihren berühmten Festivals. Doch was hingegen sind schon Kunst und Design? Und dies, obwohl die Tochter des damaligen Erziehungsdirektors bei uns Film studierte!

 

Uns war von Anbeginn klar, dass ohne Master-Angebote unsere Schule dem Untergang geweiht war. Denn erst die Master-Zyklen ermöglichen es einer Hochschule, Forschung zu betreiben. Doch ohne Nachweis von Forschungsvorhaben verliert eine Hochschule ihren Status schnell. Also galt Alarmstufe rot.

 

Hinter dem Entscheid des Konkordatsrates lauerten natürlich finanzielle Überlegungen, geschürt von rechten, bildungsfernen Kreisen des Luzerner Hinterlands, die sich später erst noch als falsch erweisen sollten. Doch man darf von Politikern auch nicht erwarten, dass sie rechnen können. Ihre Politik hat schliesslich ihr eigenes Einmaleins, das einzig auf Wählergunst und Machterhalt schielt.

 

In meiner Not suchte ich damals die Unterstützung von Iwan Rickenbacher, den schweizweit bekannten CVP-Politiker und Kommunikationsberater, dessen Einschätzung der politischen Lage und dessen strategischen Überlegungen zur Rettung unserer Schule mir hilfreich schienen. Es kam – honorarfrei – zu zwei durchaus kollegialen Zusammenkünften, welche mich in meinem ausgeheckten Aktionsplan stärkten, der in der Mobilisierung anderer Wählerkreise bestand als die, auf welche der Erziehungsdirektor sein Auge warf.

 

Zum einen formulierte ich den Text zu einem Flugblatt, welches mit der Sammlung von Unterschriften um den Erhalt der „Konschti“ warb. Das Papier fand unter den Studierenden reissenden Absatz. Ich liess mir berichten, dass sie auch in Pendler-Zügen Reisende um Unterschriften baten. Nur die Dozenten wollten anfänglich nicht mitmachen, weil ihnen die konventionelle Typografie des Flugblattes nicht passte. Erst als ein zweites, von einer Fachkraft gestaltetes Flugi bereitlag, bequemte sich auch unsere fachkundige Belegschaft, Unterschriften herbeizuschaffen.

 

Zum anderen klopfte ich mit einem Argumentarium, an dessen Entstehung das Rechnungswesen der Fachhochschul-Direktion einen nicht geringen Beitrag leistete, die Amtsstube jedes einzelnen Erziehungsdirektors der Zentralschweiz ab. Ausgerüstet mit allen massgeblichen Kennzahlen fuhr ich in Zug, in Schwyz, in Altdorf, in Stans und in Sarnen vor und versuchte, unsere Not zu schildern und um Wohlwollen gegenüber unserer Sache zu werben, indem ich beweisen konnte, dass die Schliessung von Studiengängen bei Gestaltung und Design kaum einen müden Rappen einsparen würde. Es sei zwar richtig, dass die Pro-Kopf-Kosten bei unserer Ausbildung dreimal höher sind als bei der Wirtschaft, bei den Ingenieuren und bei den Sozialarbeitern, doch der Umstand, dass bei uns nur ein Viertel der Studierenden aus der Innerschweiz stammen, führe dazu, dass drei Viertel der Schule durch die Herkunftskantone der Auswärtigen, die wegen unseren superguten, einmaligen Studienangeboten nach Luzern studieren kommen, finanziert würden. Würde man also unsere Schule schliessen, so müssten die Zentralschweizer Kantone umgekehrt für diesen Viertel, der von hier stamme, hohe Studiengebühren in diejenigen Hochschulkantone überweisen, die über künstlerisch-gestalterische Ausbildungen verfügten. Und das würde schmerzen, denn dafür fiele für die Zentralschweiz kein Mehrwert ab, und arbeitslos gewordene Dozierende müssten eh noch stempeln gehen, was schliesslich auch nur koste.

 

Bei meiner Verabschiedung aus dem Amt, Jahre später, bezeichnete die Leiterin für Hochschulbildung und Kultur Luzern, Karin Pauleweit, in ihrer Rede mein damaliges Handeln mit spitzer Zunge als Grenzüberschreitung meiner Loyalität gegenüber meinen Arbeitgebern. Die Erziehungsdirektoren der übrigen fünf Trägerkantone hingegen, denen ich meine Aufwartung gemacht hatte, fanden meine Argumente nichts als logisch. Übereinstimmend bestätigten sie mir, dass die Vorbehalte uns gegenüber einzig von Luzern ausgingen. Also veranstaltete ich mit dem Luzerner Erziehungsdirektor Anton Schwingruber im Foyer des Schulhauses Sentimatt ein öffentliches Hearing, an welchem sehr viele unserer Studierenden teilnahmen. Schwingruber versuchte, die Wogen zu glätten, indem er meinte: „Sehen Sie es doch bitte nicht als Krise, sehen Sie es als Chance!“ Naja, ging mir damals durch den Kopf, eigentlich hätten wir alle Gescheiteres zu tun, als die Existenzberechtigung unserer Institution unter Beweis stellen zu müssen.

 

Unterstützung erhielten wir auch von unseren Alumni, insbesondere von deren damaligem Präsidenten Max Wettach. Wir mussten darauf achten, für unsere Kampagne keine Steuergelder zu verwenden. So sammelten die Alumni für unsere Aktionen Geld. Mit einem besonders grosszügigen Beitrag der lokalen Brauerei Eichhof schliesslich konnten wir im Luzernsaal des KKL in einer feierlichen Zeremonie über 26'000 Unterschriften, welche um die Gewährung von Master-Studiengängen an unserer Schule baten, dem Luzerner Erziehungsdirektor überreichen.

 

Was mich am Kampf fürs Überleben unserer Schule besonders begeisterte, war der hingebungsvolle Einsatz der Studierenden. Bei denen spielten die Sicherung des Arbeitsplatzes und der drohende Wegfall der Lohntüte keine Rolle, sie machten mit aus Liebe zu ihrem Studienfach, aus Leidenschaft und aus innerer Überzeugung, an der besten aller Schulen ausgebildet zu werden. Manche zeigten an diesem Abend, woran sie gerade arbeiteten, und wieso sie es Scheisse fänden, wenn ihnen hier in Luzern der Boden unter den Füssen weggezogen würde.

 

In den Momenten, wo ich hinter der Bühne auf meinen nächsten Auftritt wartete, schien mir allerdings tatsächlich der Boden unter den Füssen weggezogen zu werden. Auf einmal litt ich unter heftigen Herzrhythmusstörungen. Ich schnappte nach Luft und hatte Angst, beim nächsten Schritt ohnmächtig zu werden. Alles tobte in mir, und das Glück eines erfolgreichen Abends drohte bei mir in einer unerklärlichen Panikattacke zu enden.
Leider besteht das Problem eines unregelmässig schlagenden Herzens bis auf den heutigen Tag, doch es erinnert mich wenigstens an unseren heroischen Kampf und an die befreiende Mitteilung wenige Wochen später, jetzt gleichwohl Masterstudiengänge anbieten zu dürfen. Damit konnten wir den Plan B entsorgen, der darin bestanden hätte, unsere Schule aufzulösen zu Gunsten der Verschiebung der Design-Studiengänge zu Technik und Architektur und der Kunst-Studiengänge – eventuell – an die Universität Luzern.

 

* * * 

 

Noch heute bin ich der Ansicht, es wäre vielleicht gar nicht das Schlechteste gewesen, Design in unmittelbarer Nachbarschaft zu Technik und Architektur anzusiedeln. Bei meinen Besuchen in Horw sah ich oft, wie Ingenieure bei der Lösung gestalterischer Aufgaben für ihre Maschinen etwas anstanden und sich kühne Lösungen verbaten, weil sie doch „nur“ Ingenieure waren. Die Nähe von Designern hingegen hätte ihre technischen Erfindungen beflügelt, und umgekehrt wäre es den Designern im Elfenbeinturm unserer Gestalterschule gut angestanden, sich von realen produktionellen Problemen inspirieren und provozieren zu lassen, um spannende Lösungen mitzuverantworten. Vor allem verfügten die Techniker dort draussen in Horw über einen Maschinenpark und über digitale Rechenleistungen, Programme und 3D-Drucker jeglicher Grösse, von denen wir damals in der Sentimatt nur träumen konnten. Wieso sollten wir solch kostspielige Anschaffungen auch noch tätigen, wenn sie in wenigen Kilometern Entfernung für wenig Geld zur Verfügung standen? Das wäre doch ganz im Sinne gewisser Steuerzahler gewesen, die uns seinerzeit angeblich weghaben wollten. Und es hätte der interdisziplinären Forschung zu ungeahnten Höheflügen verholfen.

 

Deshalb setzte ich mich im damals anstehenden Strategieprozess, wo es um die künftigen Raumbedürfnisse der einzelnen Schulen ging, dafür ein, einen multidisziplinären Campus aus Technik-, Architektur-, Innenarchitektur-, Kunst- und Designstudiengängen anzudenken, nicht zuletzt deshalb, um dem einsamen Schmoren unserer Leute im eigenen Saft etwas entgegenzusetzen und uns auch gegenüber anderen Kunsthochschulen in der Schweiz als echte Alternative anzubieten. Dieses Setting wäre auch dem fortschrittlichen Berufsbild einer Künstlerin oder eines Gestalters gut angestanden, nämlich seinen Weg mit eigenständigen künstlerisch-gestalterischen Beiträgen in einem komplexen, gesellschaftlich-wirtschaftlich-technischen Kontext zu finden. Ich meine, Kunsthochschulen kommen zuweilen immer noch der allzu romantischen Vorstellung nach, mit der Schaffung eines eigenen Paradieses dem genialen Einzelgänger zum Durchbruch zu verhelfen. Ich aber sah unsere Schule eher als Fabrik und erkannte deshalb auch, was ihr dabei am meisten fehlte: die Zulieferung sinnvoller Ideen und der entsprechende Absatzmarkt.

 

Zudem lastete auf uns die Erkenntnis schwer, dass wir viel zu viele Studierende in unseren Mauern aufnahmen als Konsequenz eines völlig absurden Finanzierungssystems, welches einmal mehr die Macht der ignoranten Berner Technokraten widerspiegelte. Statt der Schule ein von einem Parlament abgesegnetes Globalbudget zu überverantworten, brachen die Eidgenössischen Rechenhelden die Kosten auf jeden einzelnen Studierenden herunter und verlangten anschliessend, diese Kosten pro Kopf auf ein Mass zu senken, welches bei gleichbleibender Studierendenzahl der Schule schlicht die Luft abgeschnitten hätte. Also befolgte ich zum Gedeihen der Schule in dieser unmöglichen Situation den leider einzig vernünftigen Schritt, nämlich die „Stückzahl“ Studierender pro Ausbildungsgang zu erhöhen. Damit glich sich die Kopfpauschale dem angeforderten Mass an, ohne dabei unser Budget allzu stark in Mitleidenschaft zu ziehen.

 

Diese falschen Anreize, diese Art der Finanzierung hatte etwas Zynisches. Einerseits erfüllten wir damit die Forderung des eidgenössischen Fachhochschulrates, eine kritische Masse nachzuweisen, andrerseits war uns aber allen klar, dass wir damit viel zu viele junge Menschen ausbildeten, wofür auf dem Arbeitsmarkt gar kein Bedarf vorhanden war. Klar, Künstler schielen nach Abschluss ihrer Studien nicht nach einer Anstellung, doch zum Schluss lassen sich dann viele in Ermangelung eines Erfolgs doch als Taxifahrerin oder Kellner anstellen. Deshalb war es uns bei der Bologna-Reform ein Anliegen, ein Angebot zu entwickeln, welches wenigstens erlaubte, nach Abschluss des Studiums sowohl als Kunstvermittler und Lehrer als auch als freier Künstler zu arbeiten. Bei den Designern hingegen sah es etwas besser aus. Deren Berufe vermögen eher den gesellschaftlichen Konsumbedarf zu befriedigen, sei es in der rasant wachsenden Unterhaltungsindustrie, bei der sich stets verändernden Modewelt, in der Produktgestaltung, in der Verpackungsindustrie und in der Werbebranche.

 

Ich weiss nicht, wie sehr sich die Studierenden ihrer Rolle als Finanzierungsquelle bewusst waren. Ihre Attitüde glich manchmal eher der eines berufenen Künstlers kurz vor seinem internationalen Durchbruch. Klar es gab auch diejenigen, die an ihrer eigenen Sensibilität und Unsicherheit fast zerbrachen, und es gab solche, die im Laufe ihres Studiums einsahen, dass sie trotz grösstmöglichem Einsatz nie auf einen grünen Zweig kommen würden. In Erinnerung geblieben sind mir aber diejenigen, die der Überzeugung waren, dass die Welt auf sie gewartet hätte. Ich glaube, das war auch fast die einzige Verhaltensweise, im harten Wettbewerb der Mitstudierenden überhaupt zur Kenntnis genommen zu werden und sich im realen Leben damit durchzusetzen.   
Ex oficio sass ich über Jahre hinweg in vielen Diplomkommissionen und konnte mir so regelmässig ein Bild machen von der Schaffenskraft der Studierenden und von der Qualität ihrer Arbeiten. Ich reagierte zuweilen unwirsch auf die zur Schau getragene Selbstgefälligkeit, wohinter sich zuweilen Unsicherheit versteckt haben dürfte. Oft hielten es die Studierenden nicht einmal für nötig, Worte für das zu finden, was sie uns präsentierten. Mit den Händen im Hosensack behaupteten sie kühn, dass doch alles für sich selbst spreche. Vom Hochdeutsch sprechenden Peter Stobbe, unserem langjährigen Leiter der Kunstabteilung, wird dazu die Anekdote kolportiert, dass eine Studentin auf die Frage, welche Gedanken sie beim Erarbeiten ihres präsentierten Werks begleitet hätten, auf Schweizerdeutsch geantwortet habe: „Alles usem Buuch,“ worauf Stobbe etwas ungeduldig nachfragte, um welches Buch es sich denn gehandelt habe...

Ich selbst gehörte in den Kommissionen auch zu denjenigen, die schnell ungeduldig wurden und launige Bemerkungen nicht zu unterdrücken wussten, was in einem Milieu des schonungsvollen Umgangs nicht immer auf Wohlwollen stiess. Doch mit einer unbedachten Äusserung wurde ich immerhin plötzlich zum Ritter geschlagen, als sich nämlich der stets Adel ausstrahlende Sachsler Bildhauer Hans-Peter von Ah selig, spezialisiert auf die Erbauung zeitgemässer Altäre in barocken Kirchen, plötzlich zu mir umdrehte und meinte: „Ich wusste ja gar nicht, dass du etwas von Kunst verstehst...“ 
Kürzlich machte ich auf facebook einen Aufruf, Ehemalige aus Luzern mögen sich melden und mir ein paar Erinnerungen aus ihrer, unserer Zeit zukommen lassen, worauf ich von A.F. folgende Rückmeldung bekam:

 

„Du warst Experte bei meiner Kunstgeschichtsprüfung. Ich hatte Bilder von Nan Goldin und Balthus gewählt, Thema: Voyeurismus ja/nein (immer noch eine interessante Frage, wie ich finde). Du hattest sehr kritische Fragen gestellt und allgemein eine sehr kritische Beurteilung abgegeben. Ich hatte dich in Verdacht, dass die Bilder etwas in dir berührt hätten und du deshalb speziell kritisch warst. Aber das mag eine Projektion sein.“

 

Ich schrieb zurück: „Liebe A. Schön von dir zu hören und vielen Dank für die Rückmeldung. Interessant, was du berichtest. Ich weiss sogar, wieso ich damals etwas kritisch war dir gegenüber. Du hast ein so grosses Selbstbewusstsein vor dich hergetragen, so dass ich mich provoziert fühlte, dies zu hinterfragen. Ich dachte wohl, du erträgst auch meine Kritik, weil du ebenso selbstbewusst aufgetreten bist... Ich hoffe jedenfalls, du hättest mit meiner Intervention nicht Schaden erlitten. – Hast du noch weitere Erinnerungen? An den Unterricht? An gewisse Dozierende?“

 

„Lieber Nikolaus, das ist ja interessant. Selbst-und Fremdwahrnehmung stimmen halt häufig nicht überein. ich hatte mich sehr gewissenhaft vorbereitet, weil mir die Kunstgeschichte wirklich am Herzen lag, und verstand irgendwie nicht recht, weshalb bei mir die Bewertung/Fragestellungen so streng ausfiel, während bei anderen (die sich kaum vorbereitet hatten) kaum kritische Rückfragen kamen. Hmm. Schaden habe ich nicht genommen. Ich blicke gerne auf die Zeit zurück.“

 

„Großartig. Ich bin beruhigt, dass wir die Sache bei deinem Kunstgeschichte-Diplom jetzt doch noch kurz angehen konnten. Es wäre von meiner Seite wohl ehrlicher und besser gewesen, dich auf dein Selbstbewusstsein, das mir so ins Auge stach, anzusprechen, statt meine Beobachtung ... an Nan Goldin und Balthus abzuarbeiten.“

 

„Ist doch schön", meinte darauf A., „dass wir dies auflösen konnten... Wie gesagt, beste Erinnerungen meinerseits. ich habe die Schule immer als ungekünstelt erlebt, nicht intellektuell, aber unverfälscht und sensitiv. Alles Gute dir, Nikolaus!“

 

Der Chat ging noch etwas weiter, weg von der Schule hin zu ihrer heutigen beruflichen Stellung als stellvertretende Schulleiterin irgendwo im Kanton Aargau und zu ihrer aktuellen privaten Situation, die nicht ganz einfach scheint. Ich wünschte ihr viel Kraft, und sie beendete unseren Chat mit einem Zitat aus einem Leonhard Cohen-Song: "there is a crack in everything and this is how the light gets in“

 

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Ich bin froh, über diesen Text den Arbeitstitel „Nur schwache Erinnerungen an Luzern“ gesetzt zu haben. Ich werde ihn definitiv beibehalten, auch wenn mir jetzt während Schreibens immer weitere Episoden einfallen. Die alljährlichen Schuljahresabschlussfeste der Belegschaft unter einem Nussbaum in Sachseln beispielsweise mit exzellentem Essen und darauffolgendem Abwasch des Geschirrs im Sarnersee. Sie boten ausgiebig Gelegenheit, auf runde Geburtstage und Jubiläen anzustossen und sich auf informelle Art auszutauschen und frohe Ferientage zu wünschen. 
Ich will die sich immer öfters einstellenden Erinnerungen aber nicht mehr verwenden. Mein Anspruch ist nicht, ein möglichst vollständiges Bild meiner Zeit zu zeichnen. Der Text soll einzig reichen, abends am Kaminfeuer bei einem Glas Wein vorgelesen und diskutiert zu werden. Kommt hinzu, dass ich mich ja andernorts zu meiner Luzerner Zeit auch schon geäussert habe, in Interviews und in anderen Blogeinträgen, zum Beispiel in Was ist noch hängig über meinen unglücklichen Abgang, oder über den Auftritt des chinesischen Megastars Jin Xing anlässlich unseres Elia-Kongresses im Jahre 2004. Auch keinen ausführlichen Platz mehr werden die umfassende Organisationsentwicklung nach der Pensionierung meines Prorektors und die Inthronisierung zweier neuer Prorektoren finden, auch wenn diese Prozesse und diese Ereignisse Meilensteine waren in der von mir verantworteten Schulentwicklungszeit. Auch das spannungsreiche Verhältnis zum Vorsitzenden des Fachhochschulrates, Unternehmers und Jaguar-Sportwagenfahrers, der mich am liebsten aus Gründen, die mir bis heute verborgen geblieben sind, losgehabt hätte, werde ich nicht weiter ausführen, ebenso wenig die mühselige Geschichte mit der Verleihung des Professorentitels an mich. Alles Schnee von gestern. Am meisten wird mich wohl reuen, nicht mehr von den Werkstätten erzählt zu haben, die uns allen eigentlich am meisten am Herzen lagen. Konnte passieren, was wollte, in der Schreinerei roch es immer beruhigend nach Holz, und dort drüben beim Druck nach Terpentin, und hier wieder nach Metall. Solche Gewissheiten vermittelten Trost und Ruhe bei all den Umwälzungen, denen wir uns sonst ständig ausgesetzt sahen. Und dort sorgten überdies durchs Band weg sympathische Werkstattleiterinnen und -leiter dafür, dass die Studierenden jeweils nicht allzu viel Unordnung hinterliessen. Und sie hielten, das war ihr Kerngeschäft, in aller Bescheidenheit den Maschinenpark in Schwung.
Doch: mit 60 hatte ich einfach genug, so, wie ich jetzt genug habe vom Schreiben über meine Luzerner Jahre. Nach elf Jahren Amtszeit repetieren sich auch viele Fragestellungen, und die stets neuen Führungsfürze von oben, die volatilen Budgetvorgaben und die oft ins Leere laufenden Strategiediskussionen ermüdeten mich zunehmend. Ich war gerne Rektor, aber ich konnte den Posten auch leicht wieder abgeben. Ich hatte nicht mein Leben lang auf eine solche Position hingearbeitet.

 

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Diesen Text jedoch möchte ich meiner persönlichen Assistentin Monika Bäurle widmen. Sie unterstützte meine Arbeit auf eine Art, für die ich ihr ewig dankbar bleiben werde. Wir waren nicht befreundet, wir mochten uns einfach, und ich war bei ihr sicher, dass nichts rausging, was vertraulich war. Ihre Qualität als exzellente Mitarbeiterin äusserte sich mir gegenüber später auch auf schmerzhafte Weise. Als sie nämlich bei meiner Nachfolgerin ihre Arbeit als persönliche Assistentin fortsetzen konnte, nahm es mich wunder, wie es ihr denn jetzt bei ihrer neuen Chefin so ergehe, worauf sie sofort das Thema wechselte und aufs Wetter zu sprechen kam. Ich durfte ihre Reaktion nicht persönlich nehmen. Sie war lediglich Ausdruck ihrer Professionalität, also genau dessen, was ich an ihr in der ganzen Zeit unserer Zusammenarbeit so sehr schätzengelernt habe. 


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© Nikolaus Wyss