Montag, 19. September 2022

Die Bussfahrt



Tatort: Panaderia Pola in Guaduas, Cundinamarca, Kolumbien
     Nach über dreistündiger, anstrengender Berg- und Talfahrt, wo uns einmal ein entgegenkommender Bus bei seinem Überholmanöver bedrohlich nahe kam, wo uns Kolonnen von schweren Lastern das Fahren im Schneckentempo aufzwangen, und wo jede Kurve als Abenteuer abgebucht werden kann, hatte ich als Fahrer das dringende Bedürfnis, auf unserer Fahrt nach La Dorada in Guaduas einen Zwischenhalt einzulegen. 

    Kennt man dieses Guaduas nur von der staubigen Durchgangsstrasse her, so würde ich es als einen der hässlichsten, ungemütlichsten und lärmigsten Orte von ganz Kolumbien bezeichnen. Erst später hat mir das Internet vor Augen geführt, dass sich hinter dieser unwirtlichen Hauptstrasse dem Touristen ein historisches Bijou auftun würde, ein hübsches Städtchen mit viel Geschichte. Das wussten wir damals aber nicht. Uns ging es nur um eine erholsame Erfrischung. Wir kehrten in der Panaderia Pola ein,  zufällig, und ich wunderte mich noch, wie eine Bäckerei zu so einem Namen kommt, denn eine Pola bedeutet in Kolumbien eine Dose Bier. Auch hier löste später das Internet das Rätsel: Policarpa Salavarrieta Ríos, genannt la Pola, wurde hier am 26. Januar 1795 geboren und prägte sich während der Unabhängigkeitskämpfe als tapfere Spionin ins Geschichtsbewusstsein Kolumbiens ein. Sie büsste übrigens ihren Einsatz mit dem Leben. Sie wurde in Bogotá am 14. November 1817 von den Spaniern exekutiert.
    Wir aber tranken dort bloss unseren Kaffee, assen ein Biscuit und kauften uns für unterwegs noch eine Flasche Wasser. Es war klar, dass hier für uns kein Ort zum Verweilen ist. Wir benützten noch schnell die Gelegenheit für den Besuch der Toilette, und schon befanden wir uns auf der Weiterfahrt.    Wir aber tranken dort bloss unseren Kaffee, assen ein Biscuit und kauften uns für unterwegs noch eine Flasche Wasser. Es war klar, dass hier für uns kein Ort zum Verweilen ist. Wir benützten noch schnell die Gelegenheit für den Besuch der Toilette, und schon befanden wir uns auf der Weiterfahrt.
    Wir waren schon fast eine weitere Stunde unterwegs, da stellte Reisegefährte Pino die Frage, wieviel er mir für die Konsumation in Guaduas noch schulde. Und ich: Hast nicht du bezahlt? - So kamen wir unverhofft zum unangenehmen Schluss, in die Geschichte Guaduas wohl als Zechpreller einzugehen - wenn wir nicht  unverzüglich zurückkehren würden. Letzteres verwarfen wir aber, denn diese Aktion schien uns dann angesichts des recht geringen Betrags doch etwas zu aufwändig. Gleichwohl beschäftigten uns, als besonders korrekte Schweizer, diese Schulden noch einige Male, verpackten sie zwar in ein Witzchen hier und ein Spässlein da, aber sie blieben irgendwie hängen. 
    Nun ergab es sich, ein gutes Jahr nach diesem Vorfall, dass mich der Weg, allerdings mit anderer Begleitung, wieder durch Guaduas führte, und ich nahm mir bei dieser Gelegenheit vor, die Schulden von damals zu begleichen. Wenn ich allerdings im Vorfeld von meiner Absicht erzählte, belächelte man mich mitleidig. Niemand hielt es für angebracht oder gar für notwendig, auf unsere damalige Unterlassung zurückzukommen. 
    Ich aber machte es mir zur Aufgabe, in Guaduas einen Zwischenstopp einzulegen, um unsere Unterlassung von damals wieder gutzumachen. Ich stieg aus und erkundigte mich im Pola nach der Geschäftsleitung. Die Serviertochter antwortete, heute sei Sonntag, sie und ihre Service-Kolleginnen seien heute allein im Lokal zugange, das übrigens zu dieser Stunde voll mit Leuten war. Es schien, als ob Leidi Maria, so hiess sie, auf mein Anliegen nicht gerade gewartet hätte. Hier einen Café con leche, dort einen Tinto, da hinten ein paar trockene Süssigkeiten und einen Orangensaft, und ein paar Gazeosas an einem weiteren Tisch, bitteschön. Gleichwohl versuchte ich ihr im Gedränge zu erklären, was vor einem Jahr vorgefallen war. Sie meinte darauf: so zeigen Sie mir doch bitte die Rechnung von damals. Ich sagte, wir hätten gar keine Rechnung erhalten, weil wir es ja unterliessen, danach zu fragen. Beide seien der Meinung gewesen, der andere hätte die Rechnung bezahlt, während man selber auf der Toilette weilte... 
    Ich glaube, sie hielt mich für verrückt oder zumindest für sehr seltsam. Als ich ihr einen Geldschein, dessen Wert weit über unsere Schulden hinausging, überreichte und sagte, das Geld gehöre nicht ihr  persönlich sondern der Kasse, verstummte sie ganz und liess mich stehen. Ich folgte ihr und wiederholte: das sei kein Trinkgeld und schon gar keine Spende, sie solle diese 50.000 Pesos vielmehr der Kassiererin überreichen und erklären, dass ich gekommen sei, die Schulden von damals gutzumachen. Und der Restbetrag decke unser schlechtes Gewissen. Ihr unverständiger Blick wird mich noch eine Zeitlang verfolgen, so, wie mich früher diese Schulden verfolgten. Hatte ich freudige Dankbarkeit erwartet?
    Ich verzog mich und kehrte etwas ratlos zum Auto zurück. Statt Erleichterung machte sich jetzt Befremden breit. Über mich. Über die Situation - ein Gefühl, vor welchem ich gottseidank jahrzehntelang verschont geblieben bin. Doch jetzt war es plötzlich wieder da.
Ich war mir in diesem Moment so etwas von peinlich und kam mir nur noch kautzig vor. Unsere Schulden von damals spielten hier nach einem Jahr doch keine Rolle mehr. Und ich stellte Leidi Maria vor ein Problem, womit sie nichts anzufangen wusste. Wie soll dieses Geld bloss verbucht werden? - Jetzt, noch bevor ich wieder ins Auto einstieg, stellte sich der Wunsch ein, die Serviertochter würde das Geld für sich selbst behalten und es als unverhofftes Geschenk betrachten. Und noch mehr wünschte ich mir in diesem Moment, sie wären uns vor einem Jahr hinterhergerannt und hätten uns als Zechpreller beschimpft, als wir Anstalten machten, das Lokal zu verlassen ohne zu bezahlen. Das hätte das System wieder in Ordnung gebracht. Aber so...   

[Dieser Text ist dem Direktionspräsidenten der FHNW, Prof. Dr. Crispino Bergamaschi, freundschaftlich zugeeignet, der während seines Sabbaticals im Herbst 2021 drei Monate in unserem Haus in Bogotá, Kolumbien, verbracht hat, dabei fleissig Spanisch lernte und online erfolgreich einen Programmierkurs in Künstlicher Intelligenz absolvierte. Man frage mich bloss nicht, wie der Fachausdruck dafür lautet]

©Nikolaus Wyss

Mittwoch, 7. September 2022

Carlos Wiston - mein Freund jener Tage


  

Es ist zuweilen nicht unwichtig, den Rahmen zu kennen, in welchem sich eine Geschichte oder ein Gefühl entwickelt. Im Herbst 1970 war es so, dass ich von Europa nach Lateinamerika aufbrach in der Absicht, fernab heimatlicher Zwänge mein eigenes Leben zu gestalten. Nach zweiwöchiger Schifffahrt auf der MS Donizetti landete ich, von Genua aus und nach Zwischenstopps in den Häfen von Neapel, Barcelona und Las Palmas, in La Guaira, dem Hafen von Caracas.

    Ich fühlte mich von Anbeginn in diesem Venezuela ziemlich verloren. Ich sprach kaum Spanisch, alles war für meine Verhältnisse so fremd und zu teuer, und die zwei Adressen, die ich mit mir führte, erwiesen sich beide als Sackgassen. Es handelte sich dabei um ausgewanderte Europäer, die dort zu Reichtum gekommen sind, mich zwar in ihren scharfbewachten Villen am Stadtrand freundlich zum Tee empfingen, gleichzeitig aber in ihrem grossbürgerlichen Verhalten den Beweis erbrachten, dass wir uns weder praktisch noch emotionell etwas zu sagen hatten. Sie lebten in ihrer Welt aus Privatflugzeugen, viel Personal und gepanzerten Limousinen. Ich hingegen, in Jeans und mit Flaumbart, hatte gerade mal Ersatzwäsche, Zahnbürste, das South America Travel Handbook und Imodium im Gepäck, und im Gürtel mit Reissverschluss ein paar Travellers Cheques, die ich mir in der Schweiz für diese Reise auf der Blick-Redaktion und bei der Werbeagentur Rothenhäusler zusammengespart hatte. Meine Gastgeber in Caracas hingegen leisteten sich ab und zu Shoppingtouren nach Miami oder New York City und liessen ihre Kinder an Schulen und Universitäten in den USA oder in Europa ausbilden. Klar, dass sie auf der einen oder anderen Karibik-Insel auch noch ein Ferienanwesen oder eine Bananen- oder Kaffeefarm unterhielten. Netterweise luden sie mich sogar ein, dort einmal ein Wochenende zu verbringen. Doch das eine Mal vereitelte schlechtes Wetter den Anflug, das andere Mal war ich es selbst, der die Einladung ausschlug, weil ich in meinem Unwohlsein schon so weit fortgeschritten war, dass ich hastig Reisevorbereitungen traf, um in Richtung Westen aufzubrechen.

    Bald schon fuhr ich mit dem Bus dem Land entgegen, wovor mir in Venezuela wirklich alle abrieten: nach Kolumbien. Dort seien Diebe und Drogenbanden zuhause, der Alltag würde von bürgerkriegsähnlichen Zuständen, Schmutz und Korruption beherrscht, und zu essen gebe es nicht viel mehr als Kartoffeln, Reis und Kochbananen. Deshalb würden viele Kolumbianer nach Venezuela fliehen und damit leider auch das zivilisatorische Niveau und den Wohlstand des reichen Ölstaates bedrohen. Kolumbien hingegen sei stinkbillig, hiess es. Letzteres liess mich wegen meinen bescheidenen ökonomischen Verhältnisse natürlich aufhorchen und generelle Bedenken hintanstellen.

     Auf der langen Reise ins «gelobte» Land leistete ich mir einen Zwischenhalt in Mérida und fuhr mit der Gondelbahn zum Pico Espejo hinauf. Auf der 4765 Meter über Meer befindlichen Bergstation empfing mich dichter Nebel. Die Sicht betrug geschätzte drei Meter. Die Höhe machte mir zu schaffen. Sie verursachte Schwindelgefühle und starkes Kopfweh. Es war kalt, feucht und windig, und das Bergrestaurant geschlossen. Für mich ein weiterer Beweis, dass Venezuela nicht mein Land sein konnte. Auf der Weiterfahrt zur kolumbianischen Grenzstadt Cucutá überfuhren wir dann noch eine fette Sau. Der Chauffeur hielt es aber nicht für nötig, deswegen anzuhalten.

    Nun gut. Auf den ersten Blick unterschied sich Kolumbien in nicht so vielem von Venezuela. Es gab auch hier verkehrstüchtige Busse, die Leute waren nett und nicht so ruppig, wie sie mir in Caracas geschildert worden sind. Ich meinte sogar zu spüren, dass sich die Kolumbianer ihres schlechten Rufes bewusst waren und sich gerade deshalb besonders zuvorkommend und freundlich zeigen wollten. Was mich aber am meisten freute, waren die Preise fürs Essen und für die Unterkunft, die ich mir hier ohne unmittelbare Existenzängste leisten konnte.

Später, in der auf 2600 Meter über Meer gelegenen Hauptstadt Kolumbiens, Bogotá, hatte ich das Glück, eine Adresse mit mir zu führen, die mir einen Job in der Buchhandlung Buchholz ermöglichte. Der wirblige Patron Karl Buchholz mit seinem schlohweissen Haar und seiner sehr deutschen Diktion im Spanischen verfügte über eine bewegte Buchhändler- und Kunsthändler-Vita. Man munkelte damals, dass er mithalf, in Nazi-Deutschland entartete Kunst loszuschlagen. Nach Stationen in Berlin, Madrid, Lissabon und New York führte ihn seine Laufbahn zum Schluss nach Bogotá, wo er damals zwei Geschäftslokale betrieb. Das eine im Stadtzentrum an der Avenida Jimenez, das andere im damaligen Norden der Stadt, in Chapinero, welcher heutzutage nicht mehr als Norden bezeichnet werden kann, weil sich die Stadt mittlerweile so viel weiter nach Norden ausgedehnt hat, dass man heute auf der Strassenkarte Chapinero in der Mitte der Stadt findet.  

    Meine Chefin war Mary, verantwortlich für das internationale Sortiment im Hochparterre. Sie kam aus Buenos Aires und war mit einem Kolumbianer verheiratet. Sie nahm sich meiner an und lud mich ab und zu bei sich zu Hause zu einem Churrasco ein. Dort lernte ich die Notwendigkeit kennen, vor dem Essen erst einmal ein paar Züge Marijuana zu rauchen. Das zähe Stück Fleisch liess sich nachher leichter kauen und geniessen.

    Ich wohnte bei einer Schriftstellerfamilie mit drei Kindern, die alle süss waren, mich liebten und mir ab und zu eine Zeichnung unter dem Türspalt in mein Zimmer schoben. Abends schrieb ich Texte, die mich in der Meinung bestärkten, eigentlich sei ich Schriftsteller, was natürlich nicht stimmte, denn die damit einhergehende, quälende Einsamkeit hielt ich kaum aus und konnte sie schon gar nicht nutzen für kreatives Arbeiten. Die Buchhandlung blieb mir aber, offen gestanden, auch fremd. Ich bekam mit, wie alle über alle anderen schlecht sprachen. Buchholz pflegte dann noch Oel ins Feuer zu giessen, indem er mich des Öfteren wissen liess, dass den Kolumbianern nicht zu trauen sei. Er sang das venezolanische Lied: Diebe seien sie hier und Falschspieler, und Mischlinge würden eh nicht über eine gute Erbmasse verfügen.

    So ungefähr war der Rahmen, in welchem ich Carlos Wiston in der Verpackungsabteilung der Buchhandlung kennenlernte. Er repräsentierte genau den Menschentyp, mit welchem der deutsche Chef so grosse Mühe bekundete. Ich hingegen entdeckte in Carlos Wiston einen jungen Mann, der zehnmal belesener war als ich und in der Buchhandlung eigentlich an meiner Stelle hätte arbeiten müssen. Er verdiente gut einen Drittel weniger als ich, zögerte aber, schlecht zu reden über den Inhaber. Das verlieh ihm eine gewisse Würde, seine Leidensfähigkeit transformierte sich bei ihm zur Noblesse. Ich begann ihn zu bewundern. Wir gingen von jetzt an oft zusammen zum Lunch, wobei die Suche nach einem Restaurant zuweilen zu einer nervenaufreibenden Tour verkam. Er konnte sich kaum je für ein Speiselokal entscheiden, meinte aber, die Suche erhöhe immerhin den Appetit. Jeder eingesparte Peso galt ihm als Triumph. Um Geld jedoch ist er mich nie angegangen, dafür war er zu stolz.

Ich fragte ihn einmal, wieso er Carlos Wiston heisse und nicht so, wie man es erwarten würde: Winston. Die Antwort: Sein Vater bewunderte Winston Churchill und wollte seinen Erstgeborenen unbedingt auf den Namen des britischen Kriegspremierministers taufen lassen. Doch beim Zivilstandsregister ging etwas schief, denn der Beamte vergass das N im Namen, so dass in allen amtlichen Papieren Wiston zu stehen kam, ohne N. – Um Schwierigkeiten und Missverständnisse zu vermeiden, gewöhnte sich Winston an, sich selbst Wiston zu nennen und – vor allem – als Wiston zu unterschreiben. Mir hingegen kam sein ungewollter Name insofern gelegen, als er mich ans englische «wisdom» erinnerte, also genau an die Art von Weisheit, die ich bei ihm zu entdecken glaubte.

Mit Wiston sah ich zum ersten Mal auch ein Fussballspiel im Stadion Campín, und mit Wiston fuhr ich nach Cartagena ans Meer. Wir logierten im Gestemani-Quartier an der Halbmondstrasse. Kaum angekommen, führte sein erster Weg in eine Apotheke, wo er – ungefragt – für mich Kondome kaufen ging, denn vor unserem Hostel standen die Prostituierten Schlange. Ihm zuliebe liess ich mich sogar auf eine hübsche, junge Frau ein und verbrachte bei ihr, zum eigenen Erstaunen, ein paar wunderbare Tage.

    Meine Neigung zum eigenen Geschlecht aber war kein Thema. Sie fand keinen Platz in unserer Freundschaft, sie wäre, dies meine scheue Einschätzung, der Reinheit unserer Beziehung abträglich gewesen. So aber konnten wir an einer Art von Freundschaft arbeiten, die ich schon fast als ideal bezeichnen würde. Wäre ich je darauf angesprochen worden, ich hätte Carlos Wiston in jenen Tagen unumwunden als meinen besten Freund bezeichnet und dabei die Ergänzung unterlassen, dass er damals auch mein einziger Freund war, den ich hatte.

    Klar, da waren noch meine Freunde von vor meiner Abreise. Der eine schrieb mir von seinen Studien an der Harvard University, der andere studierte Geschichte und wollte Diplomat werden, und der dritte berichtete in langen Briefen von seinen Mädchen und von seinen Depressionen, die ihn später in den Selbstmord treiben sollten. Und hier in Bogotá pflegte ich Kontakt zu ein paar Schweizern, die für ein Hilfswerk unterwegs waren. Sonntags stiess ich zu ihnen und half mit bei der «concientización» von Armenvierteln, wie man das damals nannte, auf Deutsch: Bewusstwerdung. Man verteilte Flugblätter, organisierte Suppenessen, hielt Versammlungen ab und stachelte die Bevölkerung auf, sich gegen staatliche Übergriffe zu wehren. Das Viertel Pardo Rubio zum Beispiel, das über dörfliche Strukturen verfügte und ganz oben am Hang klebte mit fabelhafter Aussicht auf die ganze Stadt, sollte wegen einer Schnellstrasse, der Circumvalar, aufgerieben werden. (Zum Schluss hatten die Proteste nichts bewirkt, doch damals wog man sich noch im Glauben, das Projekt bei genügender Mobilisation abwehren zu können.)

    Ich nahm ein paarmal Carlos Wiston ins Pardo Rubio mit, musste aber erkennen, dass die Schweizer kein grosses Interesse bekundeten, ihn als meinen Freund anzuerkennen. Das lag vielleicht auch an seiner eigenen, reservierten Haltung gegenüber unseren Aktivitäten, denn er hielt sie für reichlich idealistisch und nutzlos. Er jedenfalls, der aus ähnlich ärmlichen Verhältnissen stammte wie die Leute in diesem Viertel, konnte unserem Wirken nicht viel abgewinnen. So blieb ich etwas allein mit meinem besten Freund, was einerseits meine Gefühle für ihn verstärkte und andrerseits mich aber auch daran hinderte, ein richtiger Revolutionär zu werden. Denn aus diesem Kreis von damals erwuchs tatsächlich so etwas wie eine umstürzlerische Zelle, welche Sprengkörper zu Hause im Badezimmer versteckt hielt und auch einen Anschlag auf eine Polizeistation verübte. Typischerweise wurden darauf Einheimische verfolgt und verhaftet, während die ausländischen Agitatoren, ergänzt mit kolumbianischen Studenten aus gutem Hause, untertauchen und ins Ausland fliehen konnten. Doch das geschah, als ich schon wieder in der Schweiz war, als Kellner und als Co-Therapeut in einer kinderpsychologischen Praxis arbeitete und nebenher Ethnologie studierte.

    Von meinem Ausflug nach Cartagena kehrte ich allein nach Bogotá zurück. Carlos Wiston musste noch schnell einen Abstecher nach Santa Marta machen, um ein Mädchen, das ihm bei früherer Gelegenheit schöne Augen machte, aufzusuchen. Als er wenige Tage später und arg enttäuscht, weil aus der Romanze nicht mehr wurde, in der Verpackungsabteilung der Buchhandlung Buchholz wieder auftauchte, wurde er fristlos gefeuert wegen nichtrechtzeitigen Erscheinens zur Arbeit.

So ging das erste Kapitel unserer Freundschaft zu Ende. Von da weg mussten wir abmachen, um uns zu sehen. Die regelmässigen Mittagessen blieben aus. Er arbeitete jetzt als selbständiger Buchvertreter und reiste mit irgendwelchen Schrottpublikationen im ganzen Land herum und versuchte diese den Papeterien, welche auch noch ein bescheidenes Buchsortiment führten, anzudrehen.

    Und ich selbst, von Depressionen gepeinigt, musste langsam einsehen, dass ich den kolumbianischen Herausforderungen nicht gewachsen war. Ich trug mich mit dem Gedanken, in mein Heimatland zurückzukehren und dort psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, was dann, mit einiger Verzögerung, auch geschah.

Wir schrieben uns noch, Carlos Wiston und ich, aber die Briefe erwiesen sich als etwas anstrengend. Mein Spanisch war dafür zu wenig entwickelt und fiel gegenüber den Ausführungen von Carlos Wiston dermassen ab, dass ich mich nur noch schämte. Übersetzunghilfen von Google gab es damals noch nicht. So versiegte die Korrespondenz allmählich, auch wenn das Gefühl blieb, einen Freund in Kolumbien zu wissen.

***

    Es muss Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gewesen sein, als ich mich anschickte, Kolumbien wieder einmal zu besuchen. Das Land versank damals gerade in den Wirrnissen der Drogenkriege und Guerillakämpfe. Ganze Talschaften befanden sich auf der Flucht. Sicherheitskräfte, Lehrpersonal und die Beamtenschaft machten sich jeweils als erste aus dem Staub und liessen die hilflose, verängstigte Bevölkerung allein zurück, wo sie von Paramilitärs, Guerilleros oder von regulären Streitkräften (Stichwort: falsos positivos) entweder massakriert oder vertrieben wurden, wenn sie sich nicht den neuen, rücksichtslosen und brutalen Herrschern bedingungslos unterwarfen. Meiner Unwissenheit und Naivität ist es aber zuzuschreiben, dass ich trotz allem ein Flugbillett löste, um Carlos Wiston wiederzusehen. Wobei mich der Gedanke streifte, auch er könnte Opfer dieser violenten Zeiten geworden sein. Vielleicht würde ich wenigstens seine Hinterbliebenen ausfindig machen, um mit der mir noch unbekannten Witwe sein Grab aufzusuchen und dort eine weisse Rose niederzulegen.  

Ich erinnere mich noch, dass ich einen Moment lang enttäuscht war, als ich, in Bogotá eingetroffen, ohne Umwege seine Adresse fand - ohne Abenteuer und Romantik. Ich rief an, er meldete sich, und wir machten auf den nächsten Tag in der Nähe des Goldmuseums ab. Dort tauchte er mit einer ganzen Kinderschar auf. Ich glaube, es waren fünf. Oder sechs. Sein Haar war etwas angegraut, doch sein strahlendes Lachen und seine vornehme Art kamen mir vertraut vor.

    Er erzählte, dass er eine Zeitlang als Vertreter von Haushaltsgeräten gutes Geld machte, doch später wieder aufs Buchgeschäft zurückgekommen sei. Und die Kinder? Seine damalige Frau schenkte ihm fünf Töchter. Leider verstarb sie im Kindbett der letzten. So wurde Carlos Wiston alleinerziehender Vater, gab aber den Wunsch nie auf, noch einen Sohn zu zeugen. Als die älteste Tochter, sie war damals vielleicht 16 Jahre alt, eine Schulfreundin heimbrachte, schien der Zeitpunkt gekommen, diesen Wunsch in Tat umzusetzen. Sie schenkte ihm einen Sohn und wurde zu seiner zweiten Ehefrau.

    Ich schreibe freihändig, das heisst, aus der Erinnerung. Es könnte sich auch etwas anders zugetragen haben. Festgesetzt hatte sich allerdings der Eindruck, dass die alten freundschaftlichen Gefühle für ihn nicht mehr dieselben waren. Während ich mir eingestehen musste, wohl keine Familie gründen zu können, er aber das Hohelied der Familie sang, entglitt mir die Lust, ihm von meinem eigenen Leben zu erzählen, um so auf Augenhöhe die alte Freundschaft zu retablieren. Ich kam mir als weitgereisten Versager vor. Ich hatte nichts zu berichten, was sein Familienglück hätte aufwiegen und ihn hätte interessieren können.

***

    Das zweitletzte Kapitel dieser Freundschaft jener Tage trug sich um meinen 50. Geburtstag herum zu. Ich hatte den Ehrgeiz, zu diesem Fest Freunde aus allen Lebensphasen einzuladen. Ich war damals Rektor der Kunsthochschule Luzern und in der Lage, auch eine weite Reise zu finanzieren. Deshalb kontaktierte ich auch Carlos Wiston und wollte ihn an diesem Anlass dabeihaben. Er antwortete überrascht, doch auch mit Freude.

    Wenige Tage vor seinem Abflug jedoch, am 25. Januar 1999, bebte die Erde in Kolumbien. In Armenia, Quindío, zeigte die Richterskala 6,1 Punkte an. Die Provinzhauptstadt wurde zu grossen Teilen dem Erdboden gleichgemacht. Die Eltern von Carlos Wiston wohnten dort. Er musste hinfahren und zum Rechten schauen und sagte seine Teilnahme am Geburtstagsfest ab.

    Wir sahen uns nie mehr. Auch nicht, als ich Ende 2016 nach Kolumbien übersiedelte. Ich entdeckte ihn zwar auf Facebook, jetzt mit seinem eigentlichen Namen Carlos Winston. Doch die vielen Einträge seiner weitverzweigten Familie, wo sich eine Taufe an die andere reihte, wo Fotos von Hochzeits- und Geburtstagsfesten mit vielen bunten Ballonen und Herzchen im Hintergrund kumulierten, und Carlos Winston, jetzt ein alter Mann, von allen liebevoll umsorgt schien, hielten mich irgendwie davon ab, den Schritt auf ihn zuzutun.

    Als ich kürzlich seine Seite wieder aufschlug, las ich unter dem Datum 10. Mai 2020 folgenden Eintrag von Carolina, und ich nehme an, es handelt sich dabei um eine seiner Töchter: «Mein Väterchen, du bist heute von uns gegangen, aber du bleibst uns lebendig und bist eintätowiert in unseren Gedanken und Herzen. Wir lieben dich.» Und am 4. Juni desselben Jahres schrieb Monik, wohl eine andere Tochter: «Mein wunderbarer Papa, heute würdest du einen weiteren Geburtstag feiern, doch jetzt weilst du beim Lieben Gott. Ich vermisse dich sehr. Alles Gute einem weiteren Engel im Himmel. Mein Papito, ich liebe dich.»

***

    Ich weiss nicht recht, wie ich diesen Text zu einem befriedigenden Schluss bringen soll. Texte verlangen nach einer gewissen Dramaturgie und nach einem Sinn, wozu sie überhaupt geschrieben worden sind. Erinnerungen hingegen hängen in der Luft, einer Wolke gleich, aus welcher manchmal Wehmut tropft.

 


© Nikolaus Wyss

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