Montag, 19. September 2022

Die Bussfahrt



Tatort: Panaderia Pola in Guaduas, Cundinamarca, Kolumbien
     Nach über dreistündiger, anstrengender Berg- und Talfahrt, wo uns einmal ein entgegenkommender Bus bei seinem Überholmanöver bedrohlich nahe kam, wo uns Kolonnen von schweren Lastern das Fahren im Schneckentempo aufzwangen, und wo jede Kurve als Abenteuer abgebucht werden kann, hatte ich als Fahrer das dringende Bedürfnis, auf unserer Fahrt nach La Dorada in Guaduas einen Zwischenhalt einzulegen. 

    Kennt man dieses Guaduas nur von der staubigen Durchgangsstrasse her, so würde ich es als einen der hässlichsten, ungemütlichsten und lärmigsten Orte von ganz Kolumbien bezeichnen. Erst später hat mir das Internet vor Augen geführt, dass sich hinter dieser unwirtlichen Hauptstrasse dem Touristen ein historisches Bijou auftun würde, ein hübsches Städtchen mit viel Geschichte. Das wussten wir damals aber nicht. Uns ging es nur um eine erholsame Erfrischung. Wir kehrten in der Panaderia Pola ein,  zufällig, und ich wunderte mich noch, wie eine Bäckerei zu so einem Namen kommt, denn eine Pola bedeutet in Kolumbien eine Dose Bier. Auch hier löste später das Internet das Rätsel: Policarpa Salavarrieta Ríos, genannt la Pola, wurde hier am 26. Januar 1795 geboren und prägte sich während der Unabhängigkeitskämpfe als tapfere Spionin ins Geschichtsbewusstsein Kolumbiens ein. Sie büsste übrigens ihren Einsatz mit dem Leben. Sie wurde in Bogotá am 14. November 1817 von den Spaniern exekutiert.
    Wir aber tranken dort bloss unseren Kaffee, assen ein Biscuit und kauften uns für unterwegs noch eine Flasche Wasser. Es war klar, dass hier für uns kein Ort zum Verweilen ist. Wir benützten noch schnell die Gelegenheit für den Besuch der Toilette, und schon befanden wir uns auf der Weiterfahrt.    Wir aber tranken dort bloss unseren Kaffee, assen ein Biscuit und kauften uns für unterwegs noch eine Flasche Wasser. Es war klar, dass hier für uns kein Ort zum Verweilen ist. Wir benützten noch schnell die Gelegenheit für den Besuch der Toilette, und schon befanden wir uns auf der Weiterfahrt.
    Wir waren schon fast eine weitere Stunde unterwegs, da stellte Reisegefährte Pino die Frage, wieviel er mir für die Konsumation in Guaduas noch schulde. Und ich: Hast nicht du bezahlt? - So kamen wir unverhofft zum unangenehmen Schluss, in die Geschichte Guaduas wohl als Zechpreller einzugehen - wenn wir nicht  unverzüglich zurückkehren würden. Letzteres verwarfen wir aber, denn diese Aktion schien uns dann angesichts des recht geringen Betrags doch etwas zu aufwändig. Gleichwohl beschäftigten uns, als besonders korrekte Schweizer, diese Schulden noch einige Male, verpackten sie zwar in ein Witzchen hier und ein Spässlein da, aber sie blieben irgendwie hängen. 
    Nun ergab es sich, ein gutes Jahr nach diesem Vorfall, dass mich der Weg, allerdings mit anderer Begleitung, wieder durch Guaduas führte, und ich nahm mir bei dieser Gelegenheit vor, die Schulden von damals zu begleichen. Wenn ich allerdings im Vorfeld von meiner Absicht erzählte, belächelte man mich mitleidig. Niemand hielt es für angebracht oder gar für notwendig, auf unsere damalige Unterlassung zurückzukommen. 
    Ich aber machte es mir zur Aufgabe, in Guaduas einen Zwischenstopp einzulegen, um unsere Unterlassung von damals wieder gutzumachen. Ich stieg aus und erkundigte mich im Pola nach der Geschäftsleitung. Die Serviertochter antwortete, heute sei Sonntag, sie und ihre Service-Kolleginnen seien heute allein im Lokal zugange, das übrigens zu dieser Stunde voll mit Leuten war. Es schien, als ob Leidi Maria, so hiess sie, auf mein Anliegen nicht gerade gewartet hätte. Hier einen Café con leche, dort einen Tinto, da hinten ein paar trockene Süssigkeiten und einen Orangensaft, und ein paar Gazeosas an einem weiteren Tisch, bitteschön. Gleichwohl versuchte ich ihr im Gedränge zu erklären, was vor einem Jahr vorgefallen war. Sie meinte darauf: so zeigen Sie mir doch bitte die Rechnung von damals. Ich sagte, wir hätten gar keine Rechnung erhalten, weil wir es ja unterliessen, danach zu fragen. Beide seien der Meinung gewesen, der andere hätte die Rechnung bezahlt, während man selber auf der Toilette weilte... 
    Ich glaube, sie hielt mich für verrückt oder zumindest für sehr seltsam. Als ich ihr einen Geldschein, dessen Wert weit über unsere Schulden hinausging, überreichte und sagte, das Geld gehöre nicht ihr  persönlich sondern der Kasse, verstummte sie ganz und liess mich stehen. Ich folgte ihr und wiederholte: das sei kein Trinkgeld und schon gar keine Spende, sie solle diese 50.000 Pesos vielmehr der Kassiererin überreichen und erklären, dass ich gekommen sei, die Schulden von damals gutzumachen. Und der Restbetrag decke unser schlechtes Gewissen. Ihr unverständiger Blick wird mich noch eine Zeitlang verfolgen, so, wie mich früher diese Schulden verfolgten. Hatte ich freudige Dankbarkeit erwartet?
    Ich verzog mich und kehrte etwas ratlos zum Auto zurück. Statt Erleichterung machte sich jetzt Befremden breit. Über mich. Über die Situation - ein Gefühl, vor welchem ich gottseidank jahrzehntelang verschont geblieben bin. Doch jetzt war es plötzlich wieder da.
Ich war mir in diesem Moment so etwas von peinlich und kam mir nur noch kautzig vor. Unsere Schulden von damals spielten hier nach einem Jahr doch keine Rolle mehr. Und ich stellte Leidi Maria vor ein Problem, womit sie nichts anzufangen wusste. Wie soll dieses Geld bloss verbucht werden? - Jetzt, noch bevor ich wieder ins Auto einstieg, stellte sich der Wunsch ein, die Serviertochter würde das Geld für sich selbst behalten und es als unverhofftes Geschenk betrachten. Und noch mehr wünschte ich mir in diesem Moment, sie wären uns vor einem Jahr hinterhergerannt und hätten uns als Zechpreller beschimpft, als wir Anstalten machten, das Lokal zu verlassen ohne zu bezahlen. Das hätte das System wieder in Ordnung gebracht. Aber so...   

[Dieser Text ist dem Direktionspräsidenten der FHNW, Prof. Dr. Crispino Bergamaschi, freundschaftlich zugeeignet, der während seines Sabbaticals im Herbst 2021 drei Monate in unserem Haus in Bogotá, Kolumbien, verbracht hat, dabei fleissig Spanisch lernte und online erfolgreich einen Programmierkurs in Künstlicher Intelligenz absolvierte. Man frage mich bloss nicht, wie der Fachausdruck dafür lautet]

©Nikolaus Wyss

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