Freitag, 7. Januar 2022

Der Blick der Giraffe

 

Das Umschlagblatt des Notizbuches, das ich mir gestern in Cancún erstanden habe, ziert das Porträt einer Giraffe. Die Aufnahme ist interessanter, als ich mir Giraffen im allgemeinen vorstelle. In Naturfilmen und Ganzkörperaufnahmen kommen sie mir nämlich eher ungelenk vor und auch etwas blöd mit ihren überhängenden Oberlippen. Öffnen sie ihr Maul, so züngelt gar eine Schlange heraus. Auch nicht gerade das, was mich anmacht, Sympathien zu entwickeln.

Doch hier, bei dieser Giraffe, werde ich mit grossen Augen fürsorglich angeschaut, als ob sie sich über mein Krankenlager beugte und fragen wollte, ob es uns denn gut gehe heute Morgen. Der Blick wird von den Fältchen über den Augen und den auf den Patienten gerichteten Ohren noch unterstützt. Rief der Fotograf dem Tier vor dem Knipsen etwas zu? «Guck mal», oder «Psps», oder «so ist gut»…  

Ihre Aufmerksamkeit wird, und das ist mir bei Giraffen früher nie aufgefallen, auch durch den hochgezogenen Stirnbuckel und die beiden senkrecht in den Himmel reckenden, lustig behaarten Hörnchen signalisiert. Darauf hat die Giraffe gar keinen Einfluss, die sind ihr von Natur aus gegeben. verleihen ihr aber, zusammen mit den markanten Augenbrauen, einen gewissen Charme.

Ich empfehle Giraffen dringend, sich nicht beim Fressen oder Fortbewegen filmen zu lassen, denn dann verlieren sie das, was mich zum Kauf des Notizbuches verleitet hat, nämlich eine angenehme und verständnisvolle Begleitung für meine täglichen Notizen zu sein, die ich niederzuschreiben vorhabe.

Der Himmel ist blau, die vereinzelten Schleierwolken tragen dazu bei, dass es ihr und mir nicht zu heiss wird und uns erlaubt, auch noch nicht ganz klare Gedanken zuzulassen. Oft ergeben sie sich erst, wenn man sie nachwirken lässt.  

 

©Nikolaus Wyss

 

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