Samstag, 24. Februar 2024

Mein täglicher Spaziergang - oder der Furor von Olga, Santiago, Nohora und den anderen

Fotos aus dem Gruppen-Chat

Wenn es trüb aussieht, nehme ich den Schirm. In der Regel brauche ich ihn dann nicht. Wenn ich ihn jedoch nicht mitnehme, so kann ich mir fast sicher sein, dass ich auf meinem Spaziergang verregnet werde.

Vor dem Haus begegne ich zuerst oft Benjamin. Er wohnt gegenüber, sitzt gerne auf dem Treppenabsatz vor seinem Haus, raucht Zigaretten und bearbeitet sein Handy. Seine Tür steht dann offen, und aus dem Hintergrund ertönt jeden Tag ein anderes Genre Musik. Die Stücke reichen von Dmitri Schostakowitsch über Vivaldi bis zu John Coltrane. Ich fühle mich jeweils bei meinem Gruss über die Strasse aufgefordert, die Musik zu erraten, die gerade vom Innern seines Hauses heraustönt, und ich konnte Benjamin mit meinem Wissen schon ein paarmal überraschen. Er ist ein schwarzhaariger, bärtiger Argentinier von eher kleinem Körperwuchs. Er fährt ein elegantes, schwarzes Fahrrad mit blauleuchtenden Felgen. Er studiert Musikkomposition an der Uni Nacional. Erst kürzlich erfuhr ich, dass er und seine Wohngenossen, die ich eher selten zu Gesicht bekomme, Vegetarier sind. Als wir nämlich das letzte Mal etwas von unserem Weihnachtshuhn hinüberbrachten, bedauerte er, sie würden kein Fleisch essen. Gleichwohl nahm er unsere Gabe an, denn sie erwarteten am selben Nachmittag Freunde, von denen er wusste, dass sie das Mitgebrachte gerne verspeisen werden.

Einmal auf der Strasse gehört zur täglichen Routine die Entscheidung, in welche Richtung ich mich denn diesmal bewegen soll. Gegen Norden, ins Chico, ginge es in eine vornehmere Gegend, wo für die Bewohner Strom, Wasser, Telefonabonnement und Abfallentsorgung um die Hälfte teurer sind als bei uns. Dort könnte ich mich mit einem feinen Cappuccino im Café Pomeriggio für meinen Spaziergang belohnen, serviert von weiss livrierten Kellnern.

In Richtung Süden reicht mein Perimeter normalerweise bis zur Buchhandlung Santo & Seña an der 4. Carrera mit der 54. Strasse. Dort gibt es auch Kaffee, vor allem aber gibt es dort Bücher, die zum Verweilen und zum Kauf anregen. Dort überkommen mich meistens Erinnerungen an meine eigene Buchhändlerzeit in Bogotá: der Geruch des Papiers, die gedämpfte Stimmung, die Gewissheit, wenigstens etwas mit allen anderen in diesem Raum zu teilen, nämlich die Liebe zum geschriebenen Wort. Wobei zum heutigen Sortiment einer anständigen Buchhandlung auch Comics, Vinyl-Schallplatten und Fanzines unterschiedlichster Provenienz gehören, was damals bei meinem Chef Karl Buchholz undenkbar gewesen wäre. Er war Vertreter der reinen Buchdeckel-Lehre. Schon Broschuren fasste er lediglich mit spitzen Fingern an, schliesslich verdiente er daran viel weniger, und sie wurden auch viel schneller alt und sahen vergriffen aus. Seine wahre Leidenschaft aber war der Kunsthandel. Dort fasst man die Gegenstände in der Regel schon gar nicht an, oder dann nur mit weissen Archivhandschuhen.

Gegen Osten hin würde mich ein steiler Anstieg erwarten an unseren Lieblingsrestaurants (zum Beispiel dem Salon Tropical oder dem Tierra) und weiter bergauf an den schwedischen und russischen Botschaften vorbei bis zur Quebrada La Vieja, einem steilen Tälchen bergauf, das Wanderern eigentlich nur an Wochenenden auf Anmeldung hin offensteht.

Im Westen schliesslich liegt der eher schmucklose Stadtteil Barrios Unidos, der aber insofern interessant ist, als man dort weder interessante Kunstgalerien, ausgezeichnete Fisch-Restaurants noch schöne Parks erwartet. Doch es gibt sie, und gerade deshalb sind sie bei einem Spaziergang einer Entdeckung wert.

Ich weiss allerdings nicht, ob ich textlich einen ganzen Rundgang in alle vier Himmelsrichtungen zusammenbringe. In den ersten 100 Metern passiert bereits so viel Berichtenswertes, dass das verbale Abschreiten aller Optionen wohl Romanvolumen annehmen würde, was ich sowohl mir als auch der Leserschaft nicht zumuten möchte.

Die Begegnung mit dem zahnlosen, herzensguten Carlos, der zehn Jahre älter aussieht als er ist, gehört zum festen Bestandteil eines jeden Spaziergangs. Entweder schlürft er grad einen Tinto bei Juan next door, der dort Portier ist, oder er versucht, seiner Arbeit nachzugehen, nämlich auf geparkte Autos am Strassenrand aufzupassen und auf ein paar Pesos zu hoffen, wenn der Besitzer zurückkehrt. Unser Grussritual besteht in einem Fingerzeig gegen den Himmel. Regen? Sonne? Meistens stecke ich ihm darauf ein paar Pesos zu mit der Bemerkung, mein Auto stehe dort drüben, und er solle gut aufpassen, damit es nicht gestohlen werde. Natürlich stimmt das so nicht, denn mein Auto steht ja wohlversorgt in unserer Garage. Doch Spass muss sein, und es soll nicht nach Almosen aussehen. Dann lachen wir beide und gehen unserer Wege.

Im nächsten Haus befand sich vor der Pandemie ein Swingerclub mit einem Jacuzzi-Bad im Treppenhaus. Ich weiss das, weil morgens jeweils die Putzfrau vor unserem Haus auf die Ankunft des Betreibers wartete und mir allerlei berichtete von den Überbleibseln der vorangegangenen Nacht. Der neue Besitzer jedoch, der zuweilen mit seinem neuen Volvo vorfährt und zum Rechten schaut, vermietet heute die Räumlichkeiten Start-ups und politischen Kampagnen. Im vergangenen Jahr zum Beispiel hat sich der mittlerweile gewählte Bürgermeister Bogotás, Carlos Fernando Galán, mit seinem Team für die Wahlvorbereitungen dort einquartiert. Es wird behauptet, er sei nur deshalb gewählt worden, weil sein Vater, Luis Carlos Galán, einst Präsidentschaftskandidat Kolumbiens, 1989 von politischen Gegnern ermordert worden sei. Der Sohn habe also vom Mitleidbonus profitiert. Befand sich Galán in der Nachbarschaft, so war die ganze Strasse jeweils mit kugelsicheren und mit verdunkelten Scheiben versehenen Toyota Cruisern und Polizeieskorten überstellt, an deren wartenden Fahrern und an den Zigaretten rauchenden Leibwächtern ich mich, freundlich grüssend, vorbeischlängeln musste. Ihre Präsenz erhöhte mein Sicherheitsgefühl nicht unbedingt. Sie führte mir eher vor Augen, mit welchen Gefahren hier zu rechnen ist. Es ist aber auch ein Ding des Prestiges: je mehr Aufwand um eine Person, umso mehr Wichtigkeit wird ihr zugeschrieben.

An unserer Strasse befindet sich auch ein peruanisches Restaurant, klein, fein und teuer. Wir gingen dort schon ein paarmal essen. Doch dann verleidete es uns, weil der Kellner Jhon, der uns vom Vorbeigehen her bestens kennt, jedes Mal so ausführlich erklärte, was er uns gerade auftischt, dass die Speisen zum Schluss nur noch lauwarm waren.

Vor dem Peruaner sitzt morgens jeweils Fernando, der mich doctor nennt. Er dürfte um die 60 sein. Muy buenos dias, doctor. Como esta, doctor?, sagt er jeweils. Dann öffnet er unaufgefordert seine Brieftasche und zeigt mir die Einladung zu seinem nächsten Arzttermin, was mich immer etwas verlegen macht. Ich ging auch schon Umwege, um ihm nicht zu begegnen. Seine Krankheitsgeschichten kenne ich mittlerweile auswendig: Kropf und schmerzhafte, geschwollene Beine, manchmal Rücken und Gicht. Er glaubt bekenntnisreich an Gott, der ihn tröstet und schon weiss, was für ihn vorgesehen ist. Er verkauft an seinem kleinen Stand Lutschbonbons und Zigaretten und wäscht auf Wunsch den Parkierenden auch deren Autos. Zu Weihnachten bekommt er von mir etwas zugesteckt.

Ab und zu begegne ich auch Jaime, das heisst, er ruft mir vom dritten Stock aus zu, wo er gerade altes Brot auf die Strasse schmeisst und so die Tauben rund ums Haus füttert. Er kann ein paar Brocken Deutsch, die er bei jeder Begegnung anbringt. Er ist kleinwüchsig und ein Dandy, zieht sich also extravagant an und trägt auf der Strasse einen Strohhut, unter welchem die zu einem Rossschwanz gebundenen, weissen Haare hervorlugen. Es ist zuweilen schwierig, sich von ihm wieder zu lösen, denn am liebsten verstrickt er einen in einen never ending Monolog über die ganzen Stockwerke hinweg. Manchmal macht er mit seiner Partnerin Lili, die in der Nachbarschaft den Musikclub Matik Matik führt, und mit seiner Exfrau einen Ausflug in seinem stets putzfein gewaschenen, eleganten schwarzen Mercedes aus dem Jahre 1961.

Etwas seltener begegne ich Liz. Sie ist Galeristin und bespielt mit ihrer Kunst internationale Messen in Mexiko-City, São Paulo und Miami. Sie wohnt mit ihrem Gatten, einem Computerfachmann und Liebhaber von Vinyl-Schallplatten, zwei Häuser weiter oben in einem Objekt, das lange Zeit zum Verkauf stand. Auch wir interessierten uns damals dafür, doch es schien uns etwas teuer angesichts der vielen Dinge, die noch hätten renoviert werden müssen. Die beiden sind jetzt dort zur Miete. Doch sie beklagen sich über die Feuchtigkeit im Haus und über ignorante Vermieter.

Vor ein paar Monaten lud mich Liz ein, einem Nachbarschafts-Chat beizutreten. Dort würden Belange des Quartiers verhandelt. Zum Chat gehöre auch eine direkte Linie zur Polizei, die man wählen könne, wenn Gefahr droht. Das sei effizienter, als wenn man sich als Einzelperson über die Nummer 123 an die Polizei wenden müsse.

Seit ich Teilnehmer dieser Nachbarschaftsverbindung bin, ist nichts mehr wie früher, und meine Spaziergänge drohen in Depressionen zu enden. Der Chat wird von geschätzten 60 Nachbarn fleissig genutzt, so fleissig und erbarmungslos, dass einem davon übel werden kann. Olga, Santiago, Nohora und ein Dutzend andere lassen hier ihren Beobachtungen, Verdächtigungen, Ohnmachtsgefühlen, Früsten, Anschuldigungen und Ressentiments freien Lauf. In ihren Augen lauert an jeder Strassenecke des Quartiers ein suspektes Subjekt. Kürzlich zum Beispiel parkte ein Gast von mir sein Mietauto vor unserem Haus, und plötzlich musste ich dem Chat entnehmen: „Polizei-Patrouille bitte an Calle 68#11-63, verdächtiges Fahrzeug steht seit drei Stunden hier…“ Ein Foto wurde auch gleich beigefügt. – Umgehend musste ich antworten, das Fahrzeug gehöre einem Gast von mir. Ich konnte es mir nicht verkneifen anzufügen, dass vielleicht nicht jedes geparkte Auto verdächtig sei…

Hauptthemen sind Abfall und geparkte Autos, gefolgt von Lärmbelästigungen und Drogenkonsum. Ja, unsere ruhige Strasse wird von Jugendlichen der nahen Schulen gerne frequentiert, um sich hier einen Joint zu drehen und hereinzuziehen, und es kommt öfters vor, dass mein Heimweg durch Schwaden von Marijuana-Rauch führt. Nicht weiter schlimm in meinen Augen, doch Santiago, den ich persönlich nicht kenne, bekommt deswegen im Chat regelmässig Panikattacken. Kaum identifiziert er eine rauchende Gruppe, ruft er nach einer Polizeipatrouille. – Während ich diese Zeilen hier schreibe, jetzt, am Samstag, 24. Februar, 17.38 Uhr, verschickt Olga gerade zehn Fotos von falsch geparkten Autos und bittet, die Polizei solle doch umgehend vorbeikommen. Und ich denke dabei intensiv an den herzensguten, armen Carlos, der sich seine paar Pesos mit dergestalt geparkten Autos verdient. Kürzlich, so berichtete er mir, hätte ihn die Polizei fortgeschickt unter dem Hinweis, hier habe er nichts zu suchen. Ich dachte sogleich, diese Aktion sei unserem Chat zu verdanken. Woher soll er jetzt, klagte er mir, die paar Pesos bekommen, die ihm bisher sein knappes Überleben sicherten? – In derselben Manier verfährt unser Chat mit den Abfallverwertern mit ihren grossen Schubkarren. Sie durchwühlen Abfallsäcke am Strassenrand und entnehmen unter Hinterlassung von stinkendem Müll Reziklierbares, um damit ein paar Pesos zu verdienen. Im Chat sind sie aber nur als lästiges Gesinde identifiziert, und Nohora, die offenbar eine Schwiegertochter in der Schweiz hat und sie einmal besuchen ging, schwärmte davon, dass es dort sowas nicht gebe.

Nun trage ich mich mit dem Gedanken, aus dieser unerträglichen virtuellen Gemeinschaft wieder auszusteigen. Wie kann ich meinen Spaziergang geniessen, wenn ich mich umstellt sehe von missgünstigen Nachbarn, die hinter ihren Vorhängen den lieben langen Tag das Geschehen auf der Strasse beobachten und Verdächtigungen kultivieren?

Vorgestern allerdings hatten wir wieder einmal den Sänger vor unserem Haus, der alle zwei bis drei Monate im Vollsuff auftaucht und mit seiner rauhen Stimme und falschen Gitarrenklängen von Mitternacht bis zum frühen Morgen Flamencoähnliches von sich gibt. Es gibt niemanden in unserer Strasse, der davon nicht geweckt wird, und ich dachte, jetzt sei der Moment, die Nützlichkeit einer direkten Linie zur Polizei unter Beweis stellen zu können. Subito vermeldete ich den Tatbestand und wartete am Fenster auf die Ankunft einer Polizeipatrouille, um den Störefried zum Schweigen zu bringen. Eine Stunde verging, zwei Stunden vergingen, meine Füssen wurden schon kalt, so dass ich mir Socken überstreifen musste. Doch nichts geschah. Der nimmermüde Sänger waltete immer noch seines vom Alkohol diktierten Amtes. Auch Nachbarin Liz verlangte nach einer Patrouille, dreimal, wie ich dem Chat entnehmen konnte, und auch ich doppelte alle halbe Stunde nach. Um halb fünf morgens schliesslich zog er davon - ohne polizeiliche Aufforderung.

Ich sehne mich nach meinen früheren, sorgenfreien Spaziergängen zurück und beobachte den Zwiespalt, der sich vor meinen Augen auftut. Ich verstehe ja, dass sich meine Nachbarn nach einem ordentlichen Leben sehnen, wie es ihnen die Schweiz vormacht, und gleichzeitig anerkenne ich die Notwendigkeit, dass arme Schlucker und Strassenbewohner mit irgendwelchen Drehs in dieser chaotischen, korrupten Stadt zu überleben versuchen, einer Stadt, die nicht bereit scheint, ihren ärmsten Einwohnern entgegenzukommen. Und wenn wir schon dabei sind: eigentlich gehört auch die Polizei mit ihren Minimallöhnen hier zu den armen Schluckern, angewiesen auf Zusatzeinnahmen, die mit der Wegweisung von Abfallverwertern und Störefrieden nicht zu erwirtschaften sind. Da hält man sich doch eher an Falschparker, die sich mit ein paar Geldscheinen freikaufen und am nächsten Tag wieder dort auftauchen, wo es meine Chatgemeinschaft stört.  

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©Nikolaus Wyss

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Montag, 8. Januar 2024

Rösti in Kalkutta

Sterbekönigin Mutter Theresa. Skulptur in ihrer kosovarischen Heimat
 

    Ende 2003 befand ich mich emotional in einer prekären Gemengelage: beruflich stand ich auf der Abschussliste meines obersten Chefs unserer Fachhochschule, weil er sich mit meinem Stil und meiner Strategie für unsere Kunsthochschule nicht anfreunden mochte und mir offenbar nicht zutraute, es recht zu machen. Er habe sich, so wurde mir kolportiert, in seinen Gremien verschiedentlich negativ zu meiner Person geäussert und angedroht, Konsequenzen zu ziehen. Seltsam nur, dass er sich nie zu einer direkten Aussprache mit mir durchringen mochte. Ihm war es wohl bequemer, ein grosses Maul zu führen und damit Drohkulissen zu bedienen als mich zur Rede zu stellen. Belastend genug, so oder so. Der Konflikt verstärkte sich noch durch ein lächerliches Gezänk um die Verleihung des Professorentitels an mich. Ich vertrat die Meinung, Rektoren von Hochschulen würden ex officio das Recht darauf haben, während der fragliche Fachhochschulratspräsident der Ansicht war, man müsse den Titel unterlegen mit wissenschaftlichen Arbeiten. Während also meine Rektorats-Kolleginnen und -Kollegen aus Wirtschaft, Sozialer Arbeit, Musik und Architektur fleissig noch den letzten Text, den sie vielleicht vor zehn Jahren in irgendeinem katholischen Amtsblatt veröffentlicht haben, in ein Mäppchen legten, um zu beweisen, dass sie eines Professorentitels würdig sind, weigerte ich mich standhaft, irgendwelche Arbeiten beizubringen, die den Titel legitimiert hätten.  

    Auch privat hing damals einiges schief bei mir, verstrickt in einer Beziehung über Tausende von Kilometern hinweg. P. studierte in Yogyakarta Psychologie. Wir hatten uns im Verlauf der vergangenen Jahre einige Male gegenseitig besucht und verstanden uns im Bett wesentlich besser als ausserhalb. Ich erlebte mich, was meine Alltagsansprüche anging, in seiner Gegenwart einsamer als allein. Klassische Musik, Museumsbesuche, Würste aus Schweinefleisch, Lektüre und Wandern fielen in seiner Gegenwart aus den Traktanden. Gleichzeitig aber bezeichnete er mich als Mann seines Lebens und hatte ernsthaft die Absicht, nach Abschluss seiner Studien den Rest meiner Lebtage mit mir zu verbringen. Das konnte meiner Ansicht nach nicht gut enden, und ich trug mich mit dem Gedanken, diese Fernbeziehung endlich zu beenden, was mir umso schwerer fiel, als ich P. über alle Massen mochte.

    Im Verlauf desselben Jahres pflegte ich auch einen lockeren Kontakt zu A. in Kalkutta. Ich kannte ihn persönlich nicht, doch die unverbindlichen Plaudereien im Chatroom, wo wir uns zufällig getroffen hatten, waren witzig und unbeschwert. Diese gelegentlichen Interaktionen trugen dazu bei, dass ich zu jener Zeit nicht depressiv wurde. A. erzählte mir, dass er zwei Neffen grossziehe, da deren Mutter sich dazu überfordert fühle, nachdem ihr Mann, Vater der beiden, bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei. Die Buben waren damals sieben und acht Jahre alt. Sie sahen entzückend aus, wie ich den zugesandten Bildern entnehmen konnte. A. arbeitete bei einer Bank, hatte aber eigentlich Geschichte studiert. Er stammte aus dem ostindischen Manipur, war gläubiger Christ und sah es als solcher für selbstverständlich an, familiäre Verantwortung zu übernehmen. Das imponierte mir und kam meinen eigenen Bedürfnissen nach familiärer Geborgenheit entgegen. Im Verlauf des Herbstes entschloss ich mich dann, die Festtage zum Jahresende zu benutzen, A. und seine Buben in Kalkutta aufzusuchen.  

    Bei meiner Ankunft vermittelte mir die Stadt den Eindruck, den ich bereits von meinen Besuchen von Städten in China und Afrika her kannte, dass nämlich die Welt zu gross sei, um sie wirklich erfassen zu können. Hilflos schrieb ich in mein Notizbuch: «Sie spucken wie die Vögel scheissen: sequenziell und nicht in einem Schuss. Hier alles sehr laut, sehr verschmutzt. Irgendwie verlaufen sich die Gedanken in die Verirrung, jeder ist sich selbst der Nächste, man schlängelt aneinander vorbei, wenn im Auto, dann mit lautem Hupen.» Kalkutta verkörperte in idealer Weise das Chaos in meiner Seele. Da war die Trennung von P. von einer Telefonkabine aus. Ich rief ihn an, wünschte ihm alles Gute zum neuen Jahr und kündigte an, dass es mit uns wohl ein Ende habe. Als ich den Hörer auf die Gabel zurücklegte, weinte ich auf offener Strasse. Und: anstatt familiäre Gefühle für A. und seine Boys zu entwickeln, kam ich schon bald zum Schluss, dass ich in Kalkutta und mit A. an der Seite wohl kaum je glücklich würde. Ich war hier genauso hilflos wie in diesem Scheiss-Luzern, wo mir der Chef im Verlauf dieses Jahres das Leben so schwer gemacht hatte.

    A. lebte mit seinen Buben in einer von seiner Arbeitgeberin, der Bank, zur Verfügung gestellten Wohnung. Der Flur vor der Wohnungstür war grösser als das Appartment selbst. Dort spielte ich mit den Kleinen Fussball. Es kam vor, dass der Ball über die fensterlose Brüstung sprang. Dann mussten wir ihn im Hof vier Stockwerke weiter unten holen. Die Luft war geschwängert vom Rauch unzähliger Kohlefeuerchen, die in dieser Stadt für die Zubereitung von Speisen und zum Wärmen der Hände loderten. Man sah abends keine zehn Meter weit, so dicht war er. Er räucherte auch die Kleidung. Es war bitterkalt. - Und doch: mit jedem Tag stieg mein Respekt für diese Stadt. Sie war eine Metropole mit imposanten Universitäten, eindrücklichen Tempeln, lebendiger Literatur, U-Bahnlinien und grossartigen Gedenkstätten und Museen. Sie war keineswegs nur das Drecksloch, wie ich es mir vor meiner Ankunft ausgemalt und bei meiner Ankunft vorgefunden hatte. Mein Bild von Kalkutta war halt geprägt von der Tätigkeit der Mutter Theresa, der kosovarischen Sterbekönigin, der indischen Göttin Kali gleich. Ich kam zum Schluss, dass Mutter Theresa wohl die übelste Botschafterin Kalkuttas war. Sie versaute den Ruf dieser Stadt mit ihrer schon fast obszön anmutenden öffentlichen Hingabe für die Ärmsten in einer Weise, die die stolze Stadt Kalkutta nicht verdient hat. Ich wanderte in Parks, gewöhnte mich allmählich ans Gewusel und besuchte angesagte Restaurants und fragte mich, wie es die Frauen hier machen, dass ihnen ihr Sari-Umhang nicht von ihren Schultern gleitet. Ich wagte mich mit der Zeit auf die fast undurchdringlichen Märkte der Stadt und begann, ab und zu auch ein Häppchen Frittiertes zu kosten, das mir am Wegrand angeboten wurde. Allerdings wurde die Anfreundung an die fremde Umgebung durch die Gewissheit erleichtert, ein Retour-Ticket in der Tasche zu haben.

    Zum Jahreswechsel mieteten wir ein Fahrzeug mit Chauffeur und machten eine mehrtägige Wallfahrt zur Tempelstadt Puri am Golf von Bengalen. Ich erinnere mich, wie mich A. bei jedem Kauf eines Souvenirs belehrte, dass ich es viel zu teuer erstanden hätte. Jetzt galt ich als blöder Westler, der sich überteuerte Waren aufschwatzen liess, was mir die Freude am erstandenen Gegenstand drastisch minderte. Ich nahm mir vor, von nun an ihm gegenüber niedrigere Preise zu nennen, wenn er danach fragte, und einmal erregte ich so anerkennendes Staunen, als ich ihm ein aus Rinden geschaffenes Leporello zeigte, auf welchem handgeschnitzt Kamasutra-Szenen abgebildet waren. Ein Schnäppchen, meinte er, nicht wissend, dass ich dafür wesentlich mehr hingelegt hatte…

    Puri im indischen Staate Odisha ist für jemanden wie mich insofern uninteressant, weil ich als Nicht-Hindu die grossen Tempelanlagen von Jagannath gar nicht besuchen durfte. Ich wurde in einer verstaubten Bibliothek gegenüber des heiligen Viertels abgestellt, von wo aus ich aus der Ferne das imposante Geviert betrachten konnte. Der Christ A. hingegen und seine beiden Ziehsöhne zückten ihre Identitätskarten, die sie als indische Staatsangehörige auswiesen, und wurden eingelassen.

    Mehr actions für mich fand später vorne am weiten Sandstrand statt. Da war ich die Attraktion des Ortes. Alle, wirklich alle, die unsere Stelle passierten, wollten ein Bild mit mir schiessen. Ich war unglaublich begehrt und wurde viele Male abgelichtet, wie ich ganze Familien umarmen und in die Kamera lachen durfte. Eigentlich wollten sie nichts weiter von mir wissen. Eine Fotografie mit einem Fremden war ihnen genug, um sie irgendwo auf ihrem Hausaltar auszustellen. 

    Jetzt befanden wir uns bereits im neuen Jahr. Ich schrieb dazu: «Die Geschichte mit P. geht irgendwie weiter, ich denke unaufhörlich an ihn, wie überhaupt alles irgendwie weitergeht. Das ist sowieso eines meiner Lieblingsthemen, dass sich Veränderungen oft erst nachträglich erkennen lassen. Natürlich, man kann Veränderungen herbeiführen, indem man den Wohnort wechselt, die Arbeit wechselt, den Partner wechselt, aber oft geht die gleiche Chose in neuen Kleidern weiter. Das Äussere hat zwar gewechselt, doch das Innere noch nicht zwangsläufig. Verändere ich mich denn innerlich? – Schwierig, es selbst zu beurteilen.»

    Zum Abschluss meines Aufenthalts wünschten sich meine Gastgeber ein Schweizer Essen. Zuerst dachte ich an ein Käsefondue, doch ich musste feststellen, dass ich dafür wohl etwas viel Logistik mit unsicherem Ausgang hätte betreiben müssen. Wo hätte ich mir ein Caquelon und lange Gabeln ausleihen können? Auch dem Käse traute ich nicht, und das verfügbare Fladenbrot vom Markt hätte sich wohl nur begrenzt für dieses Vorhaben geeignet. Also Rösti. Beim Kartoffelkauf wurde ich von einem Dutzend Einkaufshelfern begleitet. Alle priesen unterschiedliche Kartoffelsorten an, die dort auf dem Boden zu Türmen aufgeschichtet lagen. Blitzartig kam mir das Fehlen eines Sparschälers in den Sinn, was den Entschluss erleichterte, für die Rösti gekochte Kartoffeln zu verwenden, bei denen das Schälen der Haut wesentlich leichter fällt. Dazu machte ich eine Hühnerfricassée an Kokosmilch, was ich so noch nie ausprobiert hatte. Da aber A. und den Buben der Vergleich fehlte, passierte das Gericht als Schweizer Spezialität ohne Tadel…

    Dann der Abflug. Der Flughafen damals ein Albtraum, in allen Teilen vernachlässigt, staubig und mit sturem Personal versehen. Bei meiner Ankunft zehn Tage zuvor schon der Schock, dass mein Koffer bei der Gepäckausgabe nicht dabei war, und ich in Kalkutta erst einmal Zahnpasta, Socken und ein paar Ersatzunterhosen kaufen musste. Als wir Tage später nachschauen gingen, ob mittlerweile der Koffer angekommen sei, schien ich dort der erste zu sein, dem je ein Gepäckstück verloren gegangen ist. Niemand kannte das Procedere, alle stellten sich an, als ob sie vorher noch nie mit dieser Art von Problemen konfrontiert gewesen wären.

    In der Maschine der Binam Bangladesh Airlines vor dem Start dann die Verlesung eines Gebets. Und die Zwischenlandung später in Dhaka kündigte der Pilot mit «inshallah» an. Nun gut, ich bin immer noch da. A. schickte mir später ein SMS des Inhalts, die Buben hätten als liebstes Erinnerungsstück an mich meine gebrauchten Zahnstocher in ihre Vitrine gestellt. 

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©Nikolaus Wyss

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 Noch ein paar Städtebemerkungen hier zum Anclicken:

"Zurückbleiben bitte" - Berliner Impressionen

 - Meine Mexiko-Wochen

- Zürich, Ende September

- Ein Tag in London

- Wieder in Bogotá

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Donnerstag, 4. Januar 2024

Adieu Paris - Paris adieu

 

Für eine Fahrt nach Brüssel empfehlen die Schweizer Bundesbahnen den TGV über Paris. Laut Fahrplan stehen dem Fahrgast ganze 45 Minuten zur Verfügung, um von der Gare de Lyon zur Gare du Nord zu gelangen. Was für ein Gehetze. Vor vielen Jahren habe ich das einmal gemacht mit meiner Mutter im Schlepptau. Nie wieder. Ich entschied mich deshalb, diesmal in Paris einen Zwischenhalt einzulegen und erst am darauffolgenden Morgen weiterzufahren nach Belgien.

Als ich in Paris ankam, regnete es. Ich spannte meinen Knirps auf, buckelte den kleinen Rucksack und unterzog den neu erstandenen Schuhen einem Wassertest. Ich wanderte der Seine entlang, erwischte fotografisch eine Taube beim Abflug, tauchte später ins Gewusel des 2. Arrondissement ein, um von dort, immer der Nase nach, meine Absteige an der Rue Notre Dame de Lorette im 9. Arrondissement zu erreichen. Auf dem Weg legte ich in einem Bistro einen Zwischenhalt ein und ass libanesisch anmutende Speisen. Was mir auch diesmal auffiel, und was schon meine früheren Paris-Eindrücke prägte, war die Attitüde der Kellner. Sie performen in einer Mischung aus Nonchalance, Arroganz und Eleganz, die ich in dieser Ausprägung von keiner anderen Stadt her kenne. Sie geben dem Gast jederzeit das Gefühl, sich hier in Paris zu befinden, dem zivilisatorischen Zentrum der Welt. Hier diktiert als legitime Vertretung der Parisiens das Servierpersonal die Verkehrs- und Verhaltensregeln, denen man sich als Gast gefälligst zu unterwerfen hat. Für Einheimische kein Problem, doch für Besucher von auswärts stets eine Lektion. Sollten diese zudem des Französischen nicht ausreichend mächtig sein, so fällt man ganz durch und wird mit Geringschätzung und Nichtbeachtung bestraft. Das übertriebene Trinkgeld zum Schluss, das eigentlich als Beschämungsversuch gemeint war, wird als selbstverständlich und ohne ein Zeichen von Irritation einkassiert.

Was mich früher in Paris faszinierte, kam mir diesmal verkrustet vor. Als ob Paris in seiner eigenen Falle stecke, in einer Attitüde, die dem Neuling und dem unerschütterlichen Paris-Fan zwar immer noch Respekt abverlangt und imponiert, welcher aber auch eine gewisse Lächerlichkeit innewohnt, weil sie ohne Ironie und ohne spielerische Variation seit 50, vielleicht seit 100 Jahren dieselbe ist. Es ist dieselbe Aufführung, wie sie schon den Künstlern Francis Picabia, Fernand Léger, Pablo Picasso oder Getrude Stein dargebracht wurde, von der auch meine Mutter sprach, als sie vor dem Krieg ein Französisch-Semester in Paris absolvierte, eine Aufführung, in deren Genuss auch Yves Montant, Jacques Brel und Jacques Dutronc kamen, oder Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir mit ihren existentialistischen, feingeistigen Compatriots im Café de Flore oder im Les Deux Magots, damals noch mit einer Pfeife oder einer Gitanes oder Gauloise aus Maispapier im Mundwinkel und – natürlich – einer Baskenmütze schräg auf dem Kopf, einem Béret.

Ja, die Kundschaft hat sich mittlerweile rundum erneuert. Die Stadt von heute steht in grossen Teilen gewandelt da. Neue Museen, Strassen, imposante Gebäude und Radwege prägen nun ausserhalb des innersten Kreises das Stadtbild. Doch die Kellner sind geblieben, ob sie aus Marokko, Algerien oder aus den Banlieues stammen. Sie gehören zu Paris wie der Eiffelturm. Sie stellen sicher, dass sich in Paris jedes Mal ein spezielles Bewusstsein einstellt, das keinen Zweifel aufkommen lässt, wo man sich befindet. Sie verkörpern die Identität des Ortes, trennen diejenigen, die dazugehören, von denen, die zugelaufen sind.

Als Besucher verdanke ich der Stadt viel. Hier sah ich zum ersten Mal ein Stück von Fernando Arrabal und liess mich verprügeln, weil ich die Hand hob ohne zu wissen, was «frapper» heisst, worauf ich in die Arena gezogen wurde. Man stülpte mir eine Papiertüte über den Kopf und verhaute mich gehörig. In Paris sah ich grossartige Ausstellungen und besuchte immer wieder meine Lieblingsmuseen. Lange war es das Musée des Arts et Métiers, welches stets mein Bewusstsein stärkte, doch das richtige Studium, nämlich Volkskunde und Ethnologie, gewählt zu haben. Ich wandelte durch die Strassen der Rive Gauche im Wissen um die Möglichkeit, Pierre Bourdieu zu begegnen. Ich besuchte Herrensaunen im Wissen um die Möglichkeit, auf den schlüpfrigen Fliesen Michel Foucault über den Weg zu laufen. Den ersten Aufstieg auf den Eiffelturm schaffte ich in Gesellschaft meines Patenkindes Daniel, später dann noch mit Padi und noch später mit Chuma und zuletzt mit Danika. In Paris knüpfte ich meine Kontakte zu Afrika, in Paris sah ich jedes Mal inspirierende Theaterstücke und Opernaufführungen. Unvergesslich zum Beispiel der Saint François d'Assise von Olivier Messiën in der Opéra de Bastille, 2004. In Paris ass ich zuweilen unterirdisch schlecht und nie wirklich erstklassig (ausser bei den Arabern mit ihren Couscous und anderen Köstlichkeiten). Höhepunkte fanden für mich aus einem Land ohne U-Bahn oft auf langen Metro-Fahrten statt, wenn ich an brillanten Musikanten vorbeikam, welche die langen Umsteigetunnels in Tonhallen verwandelten. In Erinnerung an Paris kommt mir auch noch das Belangloseste in den Sinn: einmal schiss mir eine Taube auf den Kopf. Und so fort.

Ich schreibe über mein Paris, weil ich mich von dieser Stadt verabschieden will. Dankbar, dass es sie gibt, dankbar, dass ich mich an ihr immer mal wieder reiben konnte, doch einsichtig genug auch anzuerkennen, dass ich mich dort nie richtig heimisch fühlte. Sie war eine Art Disneyland (wo ich übrigens nie war), wofür ich jeweils viel Geld ausgab und jetzt zu zweifeln beginne, ob ich heute den erhofften Gegenwert noch bekomme. Ich kenne die Theateraufführung dieser Stadt mit den Tausenden von Statisten in den Restaurants zur Genüge, ich muss mir nicht mehr von jedem Kellner mit seinem lächerlichen Gehabe vorführen lassen, dass ich mich jetzt in Paris befinde. Ich entscheide mich, die Metropole jetzt aufs Niveau eines Umsteigeortes zu degradieren, zu einem französischen Olten sozusagen. So, wie die Taube weiss, wohin sie gehört und noch über Hunderte von Kilometern hinweg den Heimweg findet, so weiss ich, dass ich nicht nach Paris fliegen würde, wenn ich heimkehren müsste. Ich flöge vermutlich nach Bogotá, auch wenn ich dort nicht zu den Einheimischen zähle. Aber wenigstens bilden sie sich dort nicht ein, der Nabel der Welt zu sein. Das verbindet mich schon ein bisschen mit dieser Stadt. 

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©Nikolaus Wyss

 

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