Montag, 8. Januar 2024

Rösti in Kalkutta

Sterbekönigin Mutter Theresa. Skulptur in ihrer kosovarischen Heimat
 

    Ende 2003 befand ich mich emotional in einer prekären Gemengelage: beruflich stand ich auf der Abschussliste meines obersten Chefs unserer Fachhochschule, weil er sich mit meinem Stil und meiner Strategie für unsere Kunsthochschule nicht anfreunden mochte und mir offenbar nicht zutraute, es recht zu machen. Er habe sich, so wurde mir kolportiert, in seinen Gremien verschiedentlich negativ zu meiner Person geäussert und angedroht, Konsequenzen zu ziehen. Seltsam nur, dass er sich nie zu einer direkten Aussprache mit mir durchringen mochte. Ihm war es wohl bequemer, ein grosses Maul zu führen und damit Drohkulissen zu bedienen als mich zur Rede zu stellen. Belastend genug, so oder so. Der Konflikt verstärkte sich noch durch ein lächerliches Gezänk um die Verleihung des Professorentitels an mich. Ich vertrat die Meinung, Rektoren von Hochschulen würden ex officio das Recht darauf haben, während der fragliche Fachhochschulratspräsident der Ansicht war, man müsse den Titel unterlegen mit wissenschaftlichen Arbeiten. Während also meine Rektorats-Kolleginnen und -Kollegen aus Wirtschaft, Sozialer Arbeit, Musik und Architektur fleissig noch den letzten Text, den sie vielleicht vor zehn Jahren in irgendeinem katholischen Amtsblatt veröffentlicht haben, in ein Mäppchen legten, um zu beweisen, dass sie eines Professorentitels würdig sind, weigerte ich mich standhaft, irgendwelche Arbeiten beizubringen, die den Titel legitimiert hätten.  

    Auch privat hing damals einiges schief bei mir, verstrickt in einer Beziehung über Tausende von Kilometern hinweg. P. studierte in Yogyakarta Psychologie. Wir hatten uns im Verlauf der vergangenen Jahre einige Male gegenseitig besucht und verstanden uns im Bett wesentlich besser als ausserhalb. Ich erlebte mich, was meine Alltagsansprüche anging, in seiner Gegenwart einsamer als allein. Klassische Musik, Museumsbesuche, Würste aus Schweinefleisch, Lektüre und Wandern fielen in seiner Gegenwart aus den Traktanden. Gleichzeitig aber bezeichnete er mich als Mann seines Lebens und hatte ernsthaft die Absicht, nach Abschluss seiner Studien den Rest meiner Lebtage mit mir zu verbringen. Das konnte meiner Ansicht nach nicht gut enden, und ich trug mich mit dem Gedanken, diese Fernbeziehung endlich zu beenden, was mir umso schwerer fiel, als ich P. über alle Massen mochte.

    Im Verlauf desselben Jahres pflegte ich auch einen lockeren Kontakt zu A. in Kalkutta. Ich kannte ihn persönlich nicht, doch die unverbindlichen Plaudereien im Chatroom, wo wir uns zufällig getroffen hatten, waren witzig und unbeschwert. Diese gelegentlichen Interaktionen trugen dazu bei, dass ich zu jener Zeit nicht depressiv wurde. A. erzählte mir, dass er zwei Neffen grossziehe, da deren Mutter sich dazu überfordert fühle, nachdem ihr Mann, Vater der beiden, bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei. Die Buben waren damals sieben und acht Jahre alt. Sie sahen entzückend aus, wie ich den zugesandten Bildern entnehmen konnte. A. arbeitete bei einer Bank, hatte aber eigentlich Geschichte studiert. Er stammte aus dem ostindischen Manipur, war gläubiger Christ und sah es als solcher für selbstverständlich an, familiäre Verantwortung zu übernehmen. Das imponierte mir und kam meinen eigenen Bedürfnissen nach familiärer Geborgenheit entgegen. Im Verlauf des Herbstes entschloss ich mich dann, die Festtage zum Jahresende zu benutzen, A. und seine Buben in Kalkutta aufzusuchen.  

    Bei meiner Ankunft vermittelte mir die Stadt den Eindruck, den ich bereits von meinen Besuchen von Städten in China und Afrika her kannte, dass nämlich die Welt zu gross sei, um sie wirklich erfassen zu können. Hilflos schrieb ich in mein Notizbuch: «Sie spucken wie die Vögel scheissen: sequenziell und nicht in einem Schuss. Hier alles sehr laut, sehr verschmutzt. Irgendwie verlaufen sich die Gedanken in die Verirrung, jeder ist sich selbst der Nächste, man schlängelt aneinander vorbei, wenn im Auto, dann mit lautem Hupen.» Kalkutta verkörperte in idealer Weise das Chaos in meiner Seele. Da war die Trennung von P. von einer Telefonkabine aus. Ich rief ihn an, wünschte ihm alles Gute zum neuen Jahr und kündigte an, dass es mit uns wohl ein Ende habe. Als ich den Hörer auf die Gabel zurücklegte, weinte ich auf offener Strasse. Und: anstatt familiäre Gefühle für A. und seine Boys zu entwickeln, kam ich schon bald zum Schluss, dass ich in Kalkutta und mit A. an der Seite wohl kaum je glücklich würde. Ich war hier genauso hilflos wie in diesem Scheiss-Luzern, wo mir der Chef im Verlauf dieses Jahres das Leben so schwer gemacht hatte.

    A. lebte mit seinen Buben in einer von seiner Arbeitgeberin, der Bank, zur Verfügung gestellten Wohnung. Der Flur vor der Wohnungstür war grösser als das Appartment selbst. Dort spielte ich mit den Kleinen Fussball. Es kam vor, dass der Ball über die fensterlose Brüstung sprang. Dann mussten wir ihn im Hof vier Stockwerke weiter unten holen. Die Luft war geschwängert vom Rauch unzähliger Kohlefeuerchen, die in dieser Stadt für die Zubereitung von Speisen und zum Wärmen der Hände loderten. Man sah abends keine zehn Meter weit, so dicht war er. Er räucherte auch die Kleidung. Es war bitterkalt. - Und doch: mit jedem Tag stieg mein Respekt für diese Stadt. Sie war eine Metropole mit imposanten Universitäten, eindrücklichen Tempeln, lebendiger Literatur, U-Bahnlinien und grossartigen Gedenkstätten und Museen. Sie war keineswegs nur das Drecksloch, wie ich es mir vor meiner Ankunft ausgemalt und bei meiner Ankunft vorgefunden hatte. Mein Bild von Kalkutta war halt geprägt von der Tätigkeit der Mutter Theresa, der kosovarischen Sterbekönigin, der indischen Göttin Kali gleich. Ich kam zum Schluss, dass Mutter Theresa wohl die übelste Botschafterin Kalkuttas war. Sie versaute den Ruf dieser Stadt mit ihrer schon fast obszön anmutenden öffentlichen Hingabe für die Ärmsten in einer Weise, die die stolze Stadt Kalkutta nicht verdient hat. Ich wanderte in Parks, gewöhnte mich allmählich ans Gewusel und besuchte angesagte Restaurants und fragte mich, wie es die Frauen hier machen, dass ihnen ihr Sari-Umhang nicht von ihren Schultern gleitet. Ich wagte mich mit der Zeit auf die fast undurchdringlichen Märkte der Stadt und begann, ab und zu auch ein Häppchen Frittiertes zu kosten, das mir am Wegrand angeboten wurde. Allerdings wurde die Anfreundung an die fremde Umgebung durch die Gewissheit erleichtert, ein Retour-Ticket in der Tasche zu haben.

    Zum Jahreswechsel mieteten wir ein Fahrzeug mit Chauffeur und machten eine mehrtägige Wallfahrt zur Tempelstadt Puri am Golf von Bengalen. Ich erinnere mich, wie mich A. bei jedem Kauf eines Souvenirs belehrte, dass ich es viel zu teuer erstanden hätte. Jetzt galt ich als blöder Westler, der sich überteuerte Waren aufschwatzen liess, was mir die Freude am erstandenen Gegenstand drastisch minderte. Ich nahm mir vor, von nun an ihm gegenüber niedrigere Preise zu nennen, wenn er danach fragte, und einmal erregte ich so anerkennendes Staunen, als ich ihm ein aus Rinden geschaffenes Leporello zeigte, auf welchem handgeschnitzt Kamasutra-Szenen abgebildet waren. Ein Schnäppchen, meinte er, nicht wissend, dass ich dafür wesentlich mehr hingelegt hatte…

    Puri im indischen Staate Odisha ist für jemanden wie mich insofern uninteressant, weil ich als Nicht-Hindu die grossen Tempelanlagen von Jagannath gar nicht besuchen durfte. Ich wurde in einer verstaubten Bibliothek gegenüber des heiligen Viertels abgestellt, von wo aus ich aus der Ferne das imposante Geviert betrachten konnte. Der Christ A. hingegen und seine beiden Ziehsöhne zückten ihre Identitätskarten, die sie als indische Staatsangehörige auswiesen, und wurden eingelassen.

    Mehr actions für mich fand später vorne am weiten Sandstrand statt. Da war ich die Attraktion des Ortes. Alle, wirklich alle, die unsere Stelle passierten, wollten ein Bild mit mir schiessen. Ich war unglaublich begehrt und wurde viele Male abgelichtet, wie ich ganze Familien umarmen und in die Kamera lachen durfte. Eigentlich wollten sie nichts weiter von mir wissen. Eine Fotografie mit einem Fremden war ihnen genug, um sie irgendwo auf ihrem Hausaltar auszustellen. 

    Jetzt befanden wir uns bereits im neuen Jahr. Ich schrieb dazu: «Die Geschichte mit P. geht irgendwie weiter, ich denke unaufhörlich an ihn, wie überhaupt alles irgendwie weitergeht. Das ist sowieso eines meiner Lieblingsthemen, dass sich Veränderungen oft erst nachträglich erkennen lassen. Natürlich, man kann Veränderungen herbeiführen, indem man den Wohnort wechselt, die Arbeit wechselt, den Partner wechselt, aber oft geht die gleiche Chose in neuen Kleidern weiter. Das Äussere hat zwar gewechselt, doch das Innere noch nicht zwangsläufig. Verändere ich mich denn innerlich? – Schwierig, es selbst zu beurteilen.»

    Zum Abschluss meines Aufenthalts wünschten sich meine Gastgeber ein Schweizer Essen. Zuerst dachte ich an ein Käsefondue, doch ich musste feststellen, dass ich dafür wohl etwas viel Logistik mit unsicherem Ausgang hätte betreiben müssen. Wo hätte ich mir ein Caquelon und lange Gabeln ausleihen können? Auch dem Käse traute ich nicht, und das verfügbare Fladenbrot vom Markt hätte sich wohl nur begrenzt für dieses Vorhaben geeignet. Also Rösti. Beim Kartoffelkauf wurde ich von einem Dutzend Einkaufshelfern begleitet. Alle priesen unterschiedliche Kartoffelsorten an, die dort auf dem Boden zu Türmen aufgeschichtet lagen. Blitzartig kam mir das Fehlen eines Sparschälers in den Sinn, was den Entschluss erleichterte, für die Rösti gekochte Kartoffeln zu verwenden, bei denen das Schälen der Haut wesentlich leichter fällt. Dazu machte ich eine Hühnerfricassée an Kokosmilch, was ich so noch nie ausprobiert hatte. Da aber A. und den Buben der Vergleich fehlte, passierte das Gericht als Schweizer Spezialität ohne Tadel…

    Dann der Abflug. Der Flughafen damals ein Albtraum, in allen Teilen vernachlässigt, staubig und mit sturem Personal versehen. Bei meiner Ankunft zehn Tage zuvor schon der Schock, dass mein Koffer bei der Gepäckausgabe nicht dabei war, und ich in Kalkutta erst einmal Zahnpasta, Socken und ein paar Ersatzunterhosen kaufen musste. Als wir Tage später nachschauen gingen, ob mittlerweile der Koffer angekommen sei, schien ich dort der erste zu sein, dem je ein Gepäckstück verloren gegangen ist. Niemand kannte das Procedere, alle stellten sich an, als ob sie vorher noch nie mit dieser Art von Problemen konfrontiert gewesen wären.

    In der Maschine der Binam Bangladesh Airlines vor dem Start dann die Verlesung eines Gebets. Und die Zwischenlandung später in Dhaka kündigte der Pilot mit «inshallah» an. Nun gut, ich bin immer noch da. A. schickte mir später ein SMS des Inhalts, die Buben hätten als liebstes Erinnerungsstück an mich meine gebrauchten Zahnstocher in ihre Vitrine gestellt. 

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©Nikolaus Wyss

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 Noch ein paar Städtebemerkungen hier zum Anclicken:

"Zurückbleiben bitte" - Berliner Impressionen

 - Meine Mexiko-Wochen

- Zürich, Ende September

- Ein Tag in London

- Wieder in Bogotá

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