Donnerstag, 4. Januar 2024

Adieu Paris - Paris adieu

 

Für eine Fahrt nach Brüssel empfehlen die Schweizer Bundesbahnen den TGV über Paris. Laut Fahrplan stehen dem Fahrgast ganze 45 Minuten zur Verfügung, um von der Gare de Lyon zur Gare du Nord zu gelangen. Was für ein Gehetze. Vor vielen Jahren habe ich das einmal gemacht mit meiner Mutter im Schlepptau. Nie wieder. Ich entschied mich deshalb, diesmal in Paris einen Zwischenhalt einzulegen und erst am darauffolgenden Morgen weiterzufahren nach Belgien.

Als ich in Paris ankam, regnete es. Ich spannte meinen Knirps auf, buckelte den kleinen Rucksack und unterzog den neu erstandenen Schuhen einem Wassertest. Ich wanderte der Seine entlang, erwischte fotografisch eine Taube beim Abflug, tauchte später ins Gewusel des 2. Arrondissement ein, um von dort, immer der Nase nach, meine Absteige an der Rue Notre Dame de Lorette im 9. Arrondissement zu erreichen. Auf dem Weg legte ich in einem Bistro einen Zwischenhalt ein und ass libanesisch anmutende Speisen. Was mir auch diesmal auffiel, und was schon meine früheren Paris-Eindrücke prägte, war die Attitüde der Kellner. Sie performen in einer Mischung aus Nonchalance, Arroganz und Eleganz, die ich in dieser Ausprägung von keiner anderen Stadt her kenne. Sie geben dem Gast jederzeit das Gefühl, sich hier in Paris zu befinden, dem zivilisatorischen Zentrum der Welt. Hier diktiert als legitime Vertretung der Parisiens das Servierpersonal die Verkehrs- und Verhaltensregeln, denen man sich als Gast gefälligst zu unterwerfen hat. Für Einheimische kein Problem, doch für Besucher von auswärts stets eine Lektion. Sollten diese zudem des Französischen nicht ausreichend mächtig sein, so fällt man ganz durch und wird mit Geringschätzung und Nichtbeachtung bestraft. Das übertriebene Trinkgeld zum Schluss, das eigentlich als Beschämungsversuch gemeint war, wird als selbstverständlich und ohne ein Zeichen von Irritation einkassiert.

Was mich früher in Paris faszinierte, kam mir diesmal verkrustet vor. Als ob Paris in seiner eigenen Falle stecke, in einer Attitüde, die dem Neuling und dem unerschütterlichen Paris-Fan zwar immer noch Respekt abverlangt und imponiert, welcher aber auch eine gewisse Lächerlichkeit innewohnt, weil sie ohne Ironie und ohne spielerische Variation seit 50, vielleicht seit 100 Jahren dieselbe ist. Es ist dieselbe Aufführung, wie sie schon den Künstlern Francis Picabia, Fernand Léger, Pablo Picasso oder Getrude Stein dargebracht wurde, von der auch meine Mutter sprach, als sie vor dem Krieg ein Französisch-Semester in Paris absolvierte, eine Aufführung, in deren Genuss auch Yves Montant, Jacques Brel und Jacques Dutronc kamen, oder Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir mit ihren existentialistischen, feingeistigen Compatriots im Café de Flore oder im Les Deux Magots, damals noch mit einer Pfeife oder einer Gitanes oder Gauloise aus Maispapier im Mundwinkel und – natürlich – einer Baskenmütze schräg auf dem Kopf, einem Béret.

Ja, die Kundschaft hat sich mittlerweile rundum erneuert. Die Stadt von heute steht in grossen Teilen gewandelt da. Neue Museen, Strassen, imposante Gebäude und Radwege prägen nun ausserhalb des innersten Kreises das Stadtbild. Doch die Kellner sind geblieben, ob sie aus Marokko, Algerien oder aus den Banlieues stammen. Sie gehören zu Paris wie der Eiffelturm. Sie stellen sicher, dass sich in Paris jedes Mal ein spezielles Bewusstsein einstellt, das keinen Zweifel aufkommen lässt, wo man sich befindet. Sie verkörpern die Identität des Ortes, trennen diejenigen, die dazugehören, von denen, die zugelaufen sind.

Als Besucher verdanke ich der Stadt viel. Hier sah ich zum ersten Mal ein Stück von Fernando Arrabal und liess mich verprügeln, weil ich die Hand hob ohne zu wissen, was «frapper» heisst, worauf ich in die Arena gezogen wurde. Man stülpte mir eine Papiertüte über den Kopf und verhaute mich gehörig. In Paris sah ich grossartige Ausstellungen und besuchte immer wieder meine Lieblingsmuseen. Lange war es das Musée des Arts et Métiers, welches stets mein Bewusstsein stärkte, doch das richtige Studium, nämlich Volkskunde und Ethnologie, gewählt zu haben. Ich wandelte durch die Strassen der Rive Gauche im Wissen um die Möglichkeit, Pierre Bourdieu zu begegnen. Ich besuchte Herrensaunen im Wissen um die Möglichkeit, auf den schlüpfrigen Fliesen Michel Foucault über den Weg zu laufen. Den ersten Aufstieg auf den Eiffelturm schaffte ich in Gesellschaft meines Patenkindes Daniel, später dann noch mit Padi und noch später mit Chuma und zuletzt mit Danika. In Paris knüpfte ich meine Kontakte zu Afrika, in Paris sah ich jedes Mal inspirierende Theaterstücke und Opernaufführungen. Unvergesslich zum Beispiel der Saint François d'Assise von Olivier Messiën in der Opéra de Bastille, 2004. In Paris ass ich zuweilen unterirdisch schlecht und nie wirklich erstklassig (ausser bei den Arabern mit ihren Couscous und anderen Köstlichkeiten). Höhepunkte fanden für mich aus einem Land ohne U-Bahn oft auf langen Metro-Fahrten statt, wenn ich an brillanten Musikanten vorbeikam, welche die langen Umsteigetunnels in Tonhallen verwandelten. In Erinnerung an Paris kommt mir auch noch das Belangloseste in den Sinn: einmal schiss mir eine Taube auf den Kopf. Und so fort.

Ich schreibe über mein Paris, weil ich mich von dieser Stadt verabschieden will. Dankbar, dass es sie gibt, dankbar, dass ich mich an ihr immer mal wieder reiben konnte, doch einsichtig genug auch anzuerkennen, dass ich mich dort nie richtig heimisch fühlte. Sie war eine Art Disneyland (wo ich übrigens nie war), wofür ich jeweils viel Geld ausgab und jetzt zu zweifeln beginne, ob ich heute den erhofften Gegenwert noch bekomme. Ich kenne die Theateraufführung dieser Stadt mit den Tausenden von Statisten in den Restaurants zur Genüge, ich muss mir nicht mehr von jedem Kellner mit seinem lächerlichen Gehabe vorführen lassen, dass ich mich jetzt in Paris befinde. Ich entscheide mich, die Metropole jetzt aufs Niveau eines Umsteigeortes zu degradieren, zu einem französischen Olten sozusagen. So, wie die Taube weiss, wohin sie gehört und noch über Hunderte von Kilometern hinweg den Heimweg findet, so weiss ich, dass ich nicht nach Paris fliegen würde, wenn ich heimkehren müsste. Ich flöge vermutlich nach Bogotá, auch wenn ich dort nicht zu den Einheimischen zähle. Aber wenigstens bilden sie sich dort nicht ein, der Nabel der Welt zu sein. Das verbindet mich schon ein bisschen mit dieser Stadt. 

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©Nikolaus Wyss

 

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 Noch ein paar Städtebemerkungen hier zum Anclicken:

 

"Zurückbleiben bitte" - Berliner Impressionen

 - Meine Mexiko-Wochen

- Zürich, Ende September

- Ein Tag in London

- Wieder in Bogotá

- Rösti in Kalkutta 


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