Sonntag, 22. Januar 2023

Am I the #luckiestguyalive? Und was meint unsere Katze CUAL dazu?

Meine Freundin Milena pflegt ihre Posts auf Instagram mit dem Hashtag "luckiestgirlalive" zu begleiten. Als glücklich verheiratete, bestandene, erfolgreiche Frau und Mutter zweier erwachsener Söhne sich als "girl" zu bezeichnen, ist natürlich der amerikanischen Kultur geschuldet. Sie wohnt schliesslich in San Francisco. Dort wurde ich als 50jähriger von der Kassiererin im Supermarkt auch schon mit "honey" begrüsst, mit Schätzchen oder Liebling also. Was mich hier aber mehr interessiert, ist der Superlativ "luckiest", das glücklichste Mädchen. Auch dies ist sehr amerikanisch. Dort bezeichnet man sich ungeniert als sehr reich oder als sehr glücklich, während in der Schweiz zum Beispiel solche Superlative statt Mitfreude und Bewunderung eher Neid und Missgunst hervorrufen. Oder zumindest Fragen, ob man angesichts des Elends in dieser Welt überhaupt befugt oder gut beraten sei, von sich so etwas zu behaupten. Es könnte ja als respektlos und provokativ gegenüber denjenigen aufgefasst werden, denen das Glück nicht so hold ist. Zudem gibt es bestimmt noch an Glück reichere Menschen, die aber nicht so angeben! Bescheidenheit ist schliesslich eine Zier...

    "...doch besser lebt sich's ohne ihr." Grammatikalisch ziemlich falsch, doch, wenn man gnädig sein will, immerhin witzig, will diese Redewendung die Ungenierten und Unbekümmerten ermutigen, zu ihrem Glück zu stehen. Der Satz siedelt sich nahtlos im Umfeld einer weiteren Redewendung an, welche der streitbare, einflussreiche und umstrittene Schweizer Politiker Christoph Blocher gerne im Munde führt: "Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert." - Der alte Polterer hat natürlich gut reden mit seinen Milliarden im Hintergrund.

    Ich fahre jetzt nicht fort mit einem moralischen Exkurs über mangelnde Empathie bei Angebern, über Rücksicht und Mitleid, über das Unglück des Glücks, wenn es in falsche Hände gerät und Argwohn provoziert, ganz im Sinne von Schillers Willhelm Tell: "Es kann der Glücklichste nicht in Frieden leben, wenn es dem neidischen Nachbarn nicht gefällt", auch wenn im Stück eigentlich vom Frömmsten und vom bösen Nachbarn die Rede ist. - Was soll's, dem Sinn nach stimmt's...

    Nein, ich fahre vielmehr fort mit der Frage, wo ungefähr ich, übers Ganze gesehen, mein eigenes Glück ansiedeln würde. Reicht es zum "luckiestguyalive" (den "boy" lasse ich jetzt mal beiseite), oder doch eher nur zum "luckyman", oder wenigstens zum zufriedenen Pensionär? Oder muss ich es wie mein Vater halten, der zum Schluss seines Lebens traurig resümierte: "Ich bin mit meinem Lebensglück in den roten Zahlen steckengeblieben." - Diese traurige Bilanz, das war Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts, beeindruckte und bedrückte mich sehr. Denn er galt in seinen jungen Jahren, so erzählte er es mir wenigstens, als Hoffnungsträger, als talentierter, gescheiter, ja brillanter Jurist, der auch den musischen Seiten des Lebens zugetan war. Er schrieb Gedichte, musizierte auf seinem zweimanualigen Cembalo und tauschte sich im Zürcher Café Odeon mit der literarischen Oberklasse der damaligen Zeit aus, wo auch die intellektuellen Freigeister des NZZ-Feuilletons, des Schauspielhauses, der Tonhalle und der Universität ihren Milchkaffee schlürften und Zeitungen aus aller Welt lasen. Offenbar erfüllte er aber die in ihn gesetzten Hoffnungen, an die er selbst glaubte, und welche Richtschnur seiner Karriere hätte werden sollen, später nicht, rutschte ab in die schlüpfrigen Gefilde eines Winkeladvokats und Scheidungsanwalts und in die stinkenden Schlammschlachten der Politik. Leider machte er auch als Vater nicht die beste Figur.

    So nahm ich mir an seinem Sterbebett vor, am Schluss meines eigenen Lebens nicht zum selben Ergebnis zu gelangen, zumindest was meinen eigenen Beitrag zum Glück angeht. Klar, Unbeeinflussbares, wie das Schicksal und die politische Grosswetterlage etwa, reden auch noch ein Wörtlein mit. 

    War ich nicht, wie mein Vater, auch mit vielen Talenten für ein abwechslungsreiches, buntes Leben ausgestattet, galt als origineller und vielleicht auch etwas eigensinniger Kopf, in den man Hoffnungen setzen durfte? - In Erinnerung aber bleibt mir, trotz meines eigenen Vorsatzes an Vaters Sterbebett, eigentlich eher, dass ich extrem faul war und aus meinen musischen und intellektuellen Talenten erstaunlich wenig machte. Ich verbrachte Stunden, Tage, Wochen, ja, Monate mit Nichtstun, streunte unglücklich in Herrensaunen herum, schrieb Klagelieder in meine Tagebüchlein und träumte von einem anderen Leben, das mich von aller Mühsal befreien würde. Trotz Vaters Schlussbilanz war ich nicht imstande, irgend etwas Gescheiteres für mein eigenes Glück zu unternehmen. So kam ich im Laufe meines Lebens allzu oft zum Schluss, der Apfel sei nicht weit genug vom Stamm gefallen. Im Rückblick sind diese Auszeiten wohl als Depressionen zu werten, gut versteckt hinter irgendwelchen Ausreden und Selbsttäuschungen. Dass ich es trotzdem schaffte, über die Runden zu kommen und mich heute zufrieden, ja, glücklich zu wähnen, ist wohl...

    Gerade jetzt, in diesem Moment, ich lüge nicht, ist CUAL, unsere Katze, ausgerutscht. Dazu muss man wissen, dass sie den ganzen lieben Tag um mich herumstreicht und meine Aufmerksamkeit einfordert. Auch dann, wenn ich grad am Computer sitze. (Manchmal macht sie es sich auf der Tastatur bequem und produziert unendlich lange, unentzifferbare Buchstabenfolgen, die ich dann wieder mühsam löschen muss.) Auf meinem Schreibtisch liegen allerlei Papiere, Kabel zum Laden des Laptops und des Tablets und noch zu bezahlende Rechnungen herum. Dazu kommen Berge von vor Unglücklichsein triefenden Tagebüchlein aus den unterschiedlichsten Abschnitten meines Lebens. Ich nahm mir nämlich kürzlich vor, sie probehalber neu zu lesen und sie anderswie zu gruppieren. Monatsweise. Das heisst, alle Texte, die ich über die Jahre in einem Januar niedergeschrieben habe, möchte ich dahingehend überprüfen, ob sie, zu einem Lauftext zusammengefasst, einen neuen Sinn ergeben könnten. Einen Monatssinn sozusagen. Dasselbe würde ich dann auch mit den vielen Februaren versuchen, und so fort. Ich bin jedenfalls gespannt, was dabei herausschaut, wenn der Januar 1973 mit dem Januar 1998 verbunden wird (und alle dazwischen natürlich auch), und ob sich irgendein Sinn erschliesst zwischen meinen Februar-Einträgen von 2012 bis 2021. Und so fort. 

    Unsere Katze also wollte sich vorhin gerade auf ein blaues Tagebüchlein setzen, worauf dieses ins Rutschen geriet. Heft und Katze landeten krachend am Boden. Unwillkürlich musste ich über CUALS Missgeschick lachen, doch die Katze tat so, als ob gar nichts geschehen wäre. Sie leckte sich sofort das Fell, als ob sie das an dieser Stelle schon immer beabsichtigt hätte. 

    CUAL: Was guckst du blöd? Lachst du auf meine Kosten? Ist dies jetzt das Glücksgefühl, von dem du eigentlich reden möchtest, es aber nicht wagst, weil es unanständig ist, sich auf Kosten anderer lustig zu machen?

    Sorry, aber dein Sturz und deine Reaktion darauf entbehren nicht einer gewissen Komik. 

    Ich mag mich aber jetzt nicht auf diese Art von Diskussion einlassen. Soll CUAL sich doch weiter ihr Fell lecken. Ich hingegen wende mich dem zu Boden gefallenen Büchlein zu und lese auf der aufgeschlagenen Seite folgenden Eintrag vom 7. Januar 2011: ... Ich staune über meinen Fleiss und das damit zusammenhängende Glücksgefühl. Die Worte Cornelias, seine Erfüllung, sein Glück zu suchen und zu finden in dem, was man hat, und nicht nachzutrauern von Verpasstem und sich nicht in Vergleich zu stellen mit denen, die Sichtbareres und Prestigereicheres wie Häuser, Autos, Positionen geerbt oder mit Glück bekommen oder sich erarbeitet haben (was ja noch keine Aussage über deren Glück zulässt). - Es geht also um das Akzeptieren und Gutheissen des selbst gelebten Lebens und der eigenen Aktivitäten, sie sind die einzige Quelle für mein eigenes Glück. Ich kann nur wirken (auf mich wie auch auf andere) mit dem, was mich ausmacht, mit meinem individuellen Leben. Das nimmt enorm viel Druck weg und macht frei...

    Wie gelegen mir dieses Zitat doch kommt. Ich lese es CUAL vor, damit sie von ihrem Beleidigtsein ablässt.

    Und? meint sie darauf, wie kann ich mich mit anderen Katzen überhaupt vergleichen, wenn ich die ganze Zeit hier eingesperrt bleibe?

    Du hast ja Schiss, vors Haus zu treten, und wenn du trotzdem deine Pfoten einmal vor die Tür setzst, so miaust du nach zehn Sekunden und willst wieder hereinkommen.

    Ich will auf etwas anderes hinaus, Nikolaus. Das Glück stellt sich nicht nur bei der Abstinenz von Vergleichen ein. Ich habe jeden Tag Glücksgefühle, die aus mir selber kommen.

    Eben. Wenn du dich zum Beispiel saubergeleckt oder etwas zu fressen bekommen hast, so empfindest du Glücksgefühle, auch ohne miesepeterisch zu denken, ob andere Katzen vielleicht mit noch besserem Katzenfutter, noch frischerem Fisch oder mit 100 statt nur mit 85 Gramm Hackfleisch verköstigt werden. 

    Du nennst das meine "heure bleue", wenn ich wie wild im Wohnzimmer herumrenne und euch alle verrückt mache, weil ich den Überzug des Sofas zerkratze. Und wenn ich auf deinem Schoss hocke, so beginne ich zu schnurren. Ich kann gar nicht anders.

    Das sind die spontan auftretenden, momentanen Glückswallungen. Ich weiss aber nicht zu sagen, ob die Kumulation täglicher Glücksanwandlungen etwas darüber aussagt, ob man sich grundsätzlich glücklich schätzen darf. Oder ob es auch beim Unglücklichsein einfach kleine Lichtblicke und bescheidene Glücksmomente gibt, ohne dass sich diese auf die Gesamtverfassung auswirken.

    Das Glück, von dem ich rede, ist spontan. Richtig. Ich habe glückliche Momente, auch wenn ich eingesperrt bin, auch wenn es mir nicht vergönnt ist, Kinder zu bekommen...

    ... du hast Katzengesellschaft stets abgelehnt. Wir sind deine einzigen Bezugswesen. Wir wollten dir einen Katzengespahnen schenken. Mein Gott, war das ein Drama! Du hast das kleine Kätzchen beinahe totgeprügelt...

    Lass mich in Ruhe damit. Dieses kleine Wesen, das ihr mir zumuten wolltet, mit seinen das ganze Gesicht beherrschenden Kugelaugen war eine Bedrohung unseres Hauses und verkörperte für mich das reine Unglück. Und wenn wir Katzen Unglück wittern und unser Revier in Gefahr sehen, so schlagen wir halt heftig und furchtlos zu, bis wir die Gefahr gebannt haben und wieder unserem Glück frönen können. So ist das bei uns. Das kannst du in Tausenden von Youtube-Filmchens überprüfen.

    Ich weiss, ich weiss. Dann darfst du dich aber auch nicht beklagen, dass du allein geblieben bist. 

    Kannst du schnurren?

    Nein.

    Dann weisst du gar nicht, was Glück ist.

    Das ist jetzt etwas krass. Ich fühle mich aussergewöhnlich oft glücklich hier, auch wenn ich nicht schnurre. Gemessen an meinen vielen früheren Tagebucheintragungen in der Schweiz aus dem letzten Jahrhundert, die überfüllt sind mit Klagen, Depressionsbezeugungen, Kummer und Gejammer, überkommen mich hier in Kolumbien immer wieder auf eine Weise Glücksgefühle, auf die ich aufgrund meines bisherigen Gefühls und Lebenswandels nie zu hoffen wagte. Ich habe, seit ich hier bin, auch aufgehört, Tagebüchlein zu schreiben. Das ist, bei mir wenigstens, ein starkes Anzeichen fürs Glücklichsein. Dafür schreibe ich hier Blogeinträge. Die machen mich glücklich, selbst wenn sie nur von wenigen zur Kenntnis genommen werden.

    Und ich dachte, ich sei es, die dich glücklich macht.

    Du machst mich jedenfalls, auch wenn ich mich oft über dich ärgere, nicht unglücklich, CUAL. Und du führst mich dazu, mit dir ungeniert und unbedacht zu diagolisieren. So, wie du unsere Möbel zerkratzst, kratze ich an meiner Vernunft und fühle mich glücklich dabei.  

    Also der #luckiestguyalive? 

    So eine Bezeichnung würde mich wieder in die Situation versetzen, mich mit anderen zu vergleichen, um zu diesem Befund zu kommen.

    Du bist blöd. Du kannst dich doch unvergleichlich glücklich fühlen.

    Ja schon, aber dann lassen wir das "luckiest" doch beiseite. Es soll nicht zu einem Wettbewerb des Glücks ausarten. Der einzige Massstab, dem das Glück unterliegt, ist das Unglück, das Pech.

    Gestern? Als dir ein Weinglas zu Boden fiel?

    Ich glaube, dass das Glück manchmal auch seine Opfer einfordert. Das Glück macht sich erst so richtig bemerkbar, wenn es sich aufgrund von Entscheidungen, Schicksalsschlägen oder, wie bei mir gestern, von Ungeschicklichkeiten manifestiert.

    Ein zerschlagenes Glas und Weintropfen auf dem ganzen Boden machen dich glücklich?

    Ein zerbrochenes Weinglas wiegt schwerer und richtet grössere Schäden an, wenn man es als Unglück ansieht. Bei mir aber ist es eine Anekdote nur, um mir zu zeigen, dass es mir eigentlich nichts anhaben kann. Wir sagen auf Deutsch: Scherben bringen Glück. Da bin ich glaub' ich auf dem richtigen Weg.

    Stellt sich also Glück ein, wenn du regelmässig ein Weinglas zu Boden fallen lässt?

    Du bist mühsam, CUAL. Das Glück kann man nicht erzwingen. Es stellt sich nur ein, wenn es ihm selber passt, und wenn man bereit ist, es als solches wahrzunehmen und willkommen zu heissen. 

    Das heisst, ein zerbrochenes Weinglas kann sowohl Glück wie auch Unglück bedeuten?

    Es ist in der Tat eine Sache der Interpretation. Nehme ich den Vorfall als Unglück wahr, oder kann er mir nichts anhaben? Im letzteren Fall bleibt nur, die Scherben aufzulesen und dabei aufzupassen, sich selber nicht in den Finger zu schneiden.       

    Dann ist Milenas Behauptung, #theluckiestgirlalive zu sein, ihre Entscheidung, sich in dieser Welt so positionieren zu wollen. Es soll den anderen nicht das Urteil überlassen werden, ob man es wirklich ist?

    Ich staune über deine Intelligenz. 

    Für dich bin ich nur eine gefrässige Katze, ich weiss. Das könnte mich unglücklich machen, aber ich behaupte mal, trotz allen Widrigkeiten #theluckiestcatalive zu sein. Das erleichtert ungemein und prägt die Welt um mich herum mit anderen, fröhlicheren Farben. 

    Jetzt, wo ich langsam in Fahrt komme, läutet es unten an der Tür. Die Katze, neugierig wie sie ist, springt auf und rennt hinunter. Fertig lustig. Vielleicht ist es aber auch ein Glück, sich ins Thema nicht noch weiter zu verstricken.

@Nikolaus Wyss

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Es gibt schon einen früheren Beitrag mit unserer Katze CUAL. Hier nachzulesen. Und einen späteren. Hier nachzulesen

Im übrigen freue ich mich immer, Rückmeldungen und Grüsse zu bekommen und danke schon jetzt dafür. Hier meine weiteren thematisch geordneten Blog-Einträge und Videos, abrufbar mit einem Click.


 




Mittwoch, 4. Januar 2023

Tres dias

 

Primer día

 

Morgendämmerung. Der Himmel wolkenbehangen. Die Strassen voller Pfützen, Überbleibsel einer regenreichen Nacht. Darunter verbergen sich Schlaglöcher. Wir fahren im Zickzack. Zweimal schlägt das Auto hart auf.

    Um halb sechs Uhr erreichen wir die Klinik. Pünktlich, was eindeutig zu früh ist. Hier rechnet man mit dem Durchschnittskolumbianer, der in der Regel eine halbe Stunde zu spät eintrifft. So werden alle Termine eine halbe Stunde früher angesetzt. was für uns Pünktlichen ärgerliche Wartezeiten zur Folge hat. Wobei man auch warten muss, wenn man eine halbe Stunde später erscheint. Bis heute habe ich die ideale Ankunftszeit nicht herausgefunden. Vermutlich gibt es sie gar nicht. Ob zu früh, zu spät oder pünktlich: immer musst du nach dem Eintreffen warten, bis sich jemand bequemt, sich deines Anliegens anzunehmen.

    Im Warteraum der Klinik schauen wir Frühstücksfernsehen: Überschwemmungen, Werbung, Erdrutsche, Werbung, Überführung eines Drogenbosses, Werbung, ein paar Tote bei einem spektakulären Unfall eines Reisebusses, Werbung… Das Übliche also.

    Wir sind in dieser Klinik, weil sich Danika endlich ihre Brüste implantieren lassen will. Sie liegt mir damit schon seit Monaten in den Ohren. Jede Unterhaltung endet mit ihrer Frage, welche Grösse ich denn für angemessen halte. Die Diskussion hängt mir seit langem zum Hals hinaus. Mir kommt dabei immer wieder meine Arbeit beim Jelmoli-Versandkatalog in den Sinn. Das ist lange her, vor der Onlinebestellzeit. Ich musste damals auch Texte für Frauenunterwäsche abfassen und mit Angaben zu Körbchengrössen und Preisen versehen. Eine Heidenarbeit. Der Streit von Fräulein Nydegger, der Product-Managerin, mit dem Katalogverantwortlichen Peterhans drehte sich damals um die Frage, ob die Korsetts, die „Panzer“, wie er sich auszudrücken beliebte, und alle grossen Grössen auf einer einzigen Doppelseite abgebildet werden sollen, oder doch besser verteilt über die gesamte Unterwäschestrecke von sechzehn Seiten und in Nachbarschaft von attraktiven Tangas und anderer Reizwäsche. Den Sieg trug schliesslich Fräulein Nydegger davon mit dem Argument, es schmeichle schliesslich jeder festen Frau, in attraktiver Umgebung ihre Einkäufe zu tätigen. So platzierten wir Mieder, Hüftgürtel und Corsagen zwischen durchsichtigen BHs und hauchdünnen Höschen.

    Mein Rat an Danika zum x-ten Mal: nicht zu voluminös bitte. Du bist gertenschlank, gross und hast schmale Hüften. Alles eine Frage der Proportionen. 

    Vor dem chirurgischen Eingriff holte sie sich die Meinung verschiedener Ärzte ein, verglich auch die Preise und entschied sich dann für ein Ehepaar, welches als Team in dieser Klinik arbeitet. Die Frau soll dabei bereits im achten Monat schwanger sein, lässt mich Danika flüsternd wissen. Ich bin als Familienangehöriger hier. Kein Patient geht in diesem Land allein zu einem Arzttermin. Jeder kommt in Begleitung - es könnte ja etwas passieren, und dann ist man froh, jemanden bei sich zu haben…

    Jetzt wird Danika in den Operationsaal geführt, und ich packe meine vor unserer Abfahrt zubereiteten Sandwiches aus, klaube mit meinen fettigen Fingern den Kindle hervor und lese in Werner Herzogs Autobiografie Jeder für sich und Gott gegen alle. Die Lektüre ist eine atemlose Schilderung von Unglücksfällen, gefährlichen Situationen auf den Filmsets, Schiessereien, Drohungen (Stichwort: der tobende Klaus Kinski) und sonstigen Widerwärtigkeiten, die sich aber in letzter Minute oder beim dritten Anlauf immer wieder zu Gunsten eines für den Filmemacher erfolgreichen Ausgangs auflösen. Mir kommt diese Aneinanderreihung von oft aus (gespielter?) Naivität eingegangenen Gefahren und Risiken etwas eitel vor und in ihrer Häufung mit der Zeit auch etwas langweilig. Sie ist die seltsame Koketterie eines trotz aller Hindernisse vom Glück verfolgten, beharrlichen, alten Mannes, die ich beim Anschauen seiner Filme so nicht wahrgenommen habe. Seine Produktivität über all die Jahre als Film- und Opernregisseur, als Buchautor und Dozent ist beeindruckend. Ein Rastloser und Fleissiger, zweifelsohne.

    Zum Ausgleich zwischen den Kapiteln spiele ich auf dem Tablet ein paar Patiencen. Schade, dass dort das Spiel immer schon fertig ist, sobald alle Karten aufgedeckt sind. Das ist für mich unbefriedigend. Ich hätte es lieber, wenn ich nach dem Aufdecken aller Karten noch Ordnung schaffen könnte mit den vier Königen an der Spitze, so wie man das Geschirr in der Küche vor dem Weggehen noch gerne verräumt oder nach dem Aufstehen das ungemachte Bett noch geradezieht…

    In regelmässigen Zeitabständen werde ich über den Zustand der Patientin informiert. Das erste Mal teilt man mir mit, die Operation sei gut verlaufen, die Brüste befänden sich am richtigen Ort. Danika sei aber noch nicht aufgewacht. Eine Stunde später berichtet mir der diensthabende Krankenpfleger, Danika sei jetzt aus der Narkose erwacht, fühle sich aber noch etwas beduselt. Das dritte Mal erhalte ich die Mitteilung, Danika schlürfe jetzt eine warme Bouillon und fühle sich gut. In einer guten Stunde dürfe ich sie abholen. So ist es dann auch. Im Rollstuhl wird sie von der freundlichen Schwester Eliana in den Flur geschoben, und ich bin für einen Moment lang versucht, sie zu umarmen.

    Auf der Rückfahrt schweigen wir zunächst. Manifestiert sich in diesem Moment zwischen uns nicht eine gewisse Zufriedenheit, es trotz divergierender Lebenskonzepte gemeinsam geschafft zu haben und seit über sieben Jahren füreinander da zu sein? - Die Pfützen sind jetzt weggetrocknet und lassen die Schlaglöcher erkennen. Wir umfahren sie grossräumig, ja, elegant, fast übermütig schon. Vor unserer Ankunft erklärt mir dann Danika noch mit ungewohnt leiser Stimme, was sie in den nächsten acht Wochen alles nicht verrichten dürfe: Katzenkistchen leeren, den Tisch decken, kochen, abwaschen… eigentlich alles Dinge, die ich schon vor ihrer Operation im Alleingang erledigte. Ich muss leicht schmunzeln und kündige im Gegenzug an, am darauffolgenden Abend nicht zu Hause zu sein, weil ich mit Simon unser Einjähriges feiern möchte. Kein Problem, meint sie, und mobilisiert über ihr Handy sofort ein paar treue Freunde, die ihr morgen etwas Essen vorbeibringen werden.

    Zu Hause angekommen, bereite ich eine Hühnerbouillon mit Gemüseeinlagen zu. Danika scheint sie zu schmecken. Doch das Heben des Löffels tut ihr weh. Mein Angebot, ihr die Suppe einzuträufeln, lehnt sie aber entschieden ab. Es ist Zeit für den ersten Schmerzmittelnachschub.

    Der Nachmittag schliesslich ist nicht weiter erwähnenswert. Bei Danika dringt zwar Körperflüssigkeit durch den Wundverband. Ein Anruf in die Klinik aber beruhigt. Das sei normal. So ist eine ausgedehnte Siesta angesagt. Sie wird später von keinen weiteren Aktivitäten mehr abgelöst.  

 

Segundo día

 

    Einer meiner ersten Lovers hiess Markus Kägi. Das war Mitte der 70er Jahre. Wir hatten es nicht gut zusammen. Heute würde man von einer toxischen Beziehung sprechen. Sie war bittersüss und quälend. Irgendwie kam ich aber von ihm nicht los, und Markus wusste meine Verzweiflung genüsslich zu schüren und tanzte mir auf der Nase herum. Als sich nach zehn Monaten doch langsam ein Ende abzeichnete, sang Markus bei jeder Gelegenheit den damals grad in der Hitparade gespielten Schlager Ein Frühling, ein Sommer, ein Jahr… Stephanie Lindbergh besingt darin mit hartem R, dass die Erinnerungen bleiben, auch wenn nach diesem Jahr die Liebe ein Ende gefunden hat.

    Nachdem dieser Song bei unserer Trennung seine Schuldigkeit getan hatte, verkroch er sich für lange Jahre in mein Unterbewusstsein. Erst kürzlich poppte er wieder auf, und zwar genau in dem Augenblick, wo Simon und ich uns anschickten, unser Einjähriges zu feiern.

    Im Bewusstsein, dass mir Danika zwar nicht als Partnerin aber als Mann langsam zu entgleiten drohte, lernte ich wohl nicht ganz zufällig, aber unverhofft, im Pärkchen hinter der Basilica de Nuestra Señora de Lourdes einen jungen Studenten kennen. Er sieht nicht nur hinreissend aus, er scheint auch etwas im Köpfchen zu haben. Er studiert Jurisprudenz an der besten Universität der Stadt und stammt, wie sich im Verlaufe der Zeit herausstellen sollte, aus sehr gutem, vermögendem Hause, was alsogleich mein Vorurteil entkräftete, dass sich junge Männer nur dann gern auf ältere Herren einlassen, wenn bei diesen das Potential eines Sugardaddys erkennbar ist, der ihnen ein iPhone kauft, allfällige Studiengebühren begleicht, die Spitalkosten der kranken Grossmutter übernimmt und sie in angesagte Gaststätten einlädt.

    Doch Simon hat all dies nicht nötig. Sein Taschengeld reicht vom Kauf von Markenkleidern über Taxifahrten, Flugreisen in der Business Class bis hin zu Club-Besuchen. Und ich musste mich fragen, worin denn für diesen jungen Mann überhaupt der Reiz bestand, sich auf diesen Schweizer Pensionär einzulassen. Gerontophilie? – Simon kann es mir bis heute nicht erklären. Doch im Verlaufe des Jahres hörte ich wenigstens mit dieser sinnlosen Hinterfragung auf und begann, Simons Zuneigung einfach zu geniessen und im Gegenzug auch ihm meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn nur nicht plötzlich dieser verdammte Ohrwurm von Stephanie Lindbergh wieder aufgetaucht wäre und in meinen abergläubigen Gefühlen Verunsicherung geschürt hätte. Dieser Schlager spielte sich, völlig ungerechtfertigt, als unheilverkündendes Vorzeichen auf. Nichts deutete schliesslich auf ein Ende unserer Langzeit-Romanze hin, und schon fast trotzig traf ich Simon heute Abend, um unser Einjähriges zu feiern. Wir gingen ins Penta, eines unserer Lieblingsrestaurants, zehn Fussminuten von unserem Haus entfernt. Maria Adriana, die Besitzerin, kennen wir gut. Sie studierte in Europa Kunst und pflegt heute als Gastronomin beste Beziehungen zu Bogotás Oberschicht, zu welcher sie selbst auch gehört. So erstaunte es uns nicht weiter, als sie uns an diesem Abend wissen liess, dass eigentlich das ganze Restaurant für einen eleganten Event ausgebucht sei. Sie bot uns wenigstens das Katzentischchen draussen im Patio an.

    Beim Essen sprachen wir über Simons Papa, der seit seiner Rückkehr von einer Geschäftsreise nach Japan gegenüber dem Sohn ein seltsames Verhalten an den Tag legt. Plötzlich ist er ungewöhnlich streng mit ihm, will ihn erziehen, verhängt ein generelles Ausgehverbot, kürzt das Taschengeld und droht, ihn aus dem Haus zu werfen, sollte sich Simon nicht an seine Direktiven halten. Hintergrund ist ein Vorfall an der Universität, wo Simon nicht die beste Falle gemacht hatte, indem er einen Übeltäter deckte statt ihn anzuzeigen. Das hatte von Seiten der Fakultät einen Verweis zur Folge. Sicherlich ein leichtsinniges Vergehen von Simon, das mich als Vater auch sauer gemacht hätte. Doch die Fallhöhe der strengen Massnahmen ist deshalb so gross, weil vorher derselbe Vater seinen Sohn nach Strich und Faden verwöhnt hatte, ihm kostbare Uhren schenkte, unter anderen eine goldene Rolex, und dessen weiteren Wünsche von den Lippen abzulesen pflegte.

    Unser Treffen im Penta war also klandestin. Ich weiss nicht, was für eine Ausrede er erfunden hatte, um das Haus überhaupt zu verlassen.

Eben wurde die Hauptspeise aufgetragen, als die erwartete hohe Gesellschaft eintraf. Simon beobachtete die eintretenden Gäste und bemerkte erstaunt: „Ich kenne die, die sind im selben Club wie mein Vater“. Nur einen Moment später sprang er abrupt vom Tisch auf, wandte sich ruckartig um und schlich auf allen Vieren zum nahen Busch im Patio, hinter welchem er sich, so gut es ging, versteckte. Wie ein begossener Pudel blieb ich sitzen. Nach ein paar Minuten bekam ich auf mein Handy eine Textnachricht von ihm des Inhalts: „Mein Vater befindet sich unter den Gästen. Ich kann mich nicht zeigen, er würde mich entdecken. Sorry.“

    Statt für zwei zu essen, verschlug es mir den Appetit. Ich schrieb Simon zurück: „Ich warte auf dich draussen“. Ich liess mir darauf die leckeren Speisen einpacken, bezahlte und versuchte beim Hinausgehen herauszufinden, wer unter diesen vielen Leuten Simons Vater sein könnte, denn ich habe noch nie ein Bild von ihm gesehen. Kaum draussen, begann es zu regnen, und ich suchte einen Unterstand. Die unterschiedlichsten und widersprüchlichsten Gefühle standen bei mir in diesem Moment Spalier, und ich wusste nicht, welches ich wählen soll. Eines war geprägt von unverhoffter Abenteuerlust, ein weiteres von Irritation und Befremden. Ein drittes deckte gleichzeitig Ungläubigkeit und Ärger ab, und wieder ein anderes liess mich einfach nur lachen: Wie bin ich bloss in diesen falschen Film geraten? 

    Zeit verstrich, der Regen wurde stärker, die Papierverpackung des mitgenommenen Essens weichte allmählich auf. Je länger ich wartete, umso unwohler wurde es mir in der Rolle des unfreiwilligen Komplizen. Soll ich für mich einfach ein Taxi bestellen und Simon hinter dem Busch hocken lassen? Als ob die Situation nicht schon genug Sprengkraft gehabt hätte, ertönte just in diesem Moment in meinem Inneren das unselige Lied von Stephanie Lindbergh, und ich musste zu mir selbst sagen, du alter Trottel bist doch nicht 73 geworden, um so kindische Abenteuer, wie sie allenfalls unter Jungen begangen werden, zu bestehen. Simons Vater hätte schliesslich mein Sohn sein können. Alles hing irgendwie gewaltig schief an diesem Abend, und ich stand im Regen.  

    „Geh nach Hause“, textete mir Simon nach einer Weile, „ich warte, bis Papa aufs Klo geht, dann werde ich versuchen, mich an all seinen Freunden vorbei aus dem Restaurant zu stehlen und so schnell wie möglich nach Hause zu gelangen. Hast du bezahlt? Ich bin pudelnass. Schlaf gut. Ich liebe dich. Und vielen Dank fürs Essen.“

 

Tercer día

 

    Heute morgen fahre ich mit Danika zur Brustkontrolle. Das Korsett beengt sie. Der Brustkorb ist geschwollen. Die Brustwarzen jucken. Ich empfehle Babypuder. Von meinem nächtlichen Abenteuer im Penta erzähle ich ihr aber nichts. Ich warte unten im Auto, bis Danika von der Untersuchung zurückkommt.

    Über Mittag habe ich mit René abgemacht, einem Schweizer, dem ich vom letzten Treffen her noch ein Glas Wein und eine Tasse Kaffee schulde. Mein letzter Wissensstand bei ihm ist, dass er sich jetzt, nach seiner Pensionierung, mit seinem kolumbianischen Partner in Medellín niederlassen will. Heute aber äussert er plötzlich Bedenken, denn er will die Krankenkasse in der Schweiz nicht verlieren und auch nicht das Steuerdomizil, besonders jetzt, wo hier in Kolumbien nach den letzten Wahlen ein linker Präsident ans Ruder gekommen ist und mit massiven Erhöhungen der Abgaben droht. René weiht mich in seine Überlegungen ein und fragt mich um Rat. Soll er pendeln? Ein halbes Jahr hier, ein halbes dort? Soll er eines der beiden Appartements, die er sich in Medellín erstanden hat, verkaufen? Wieviel würde er heute dafür bekommen bei dieser Inflation? Was macht sein Partner, der keinen Schulabschluss und schon gar keine beruflichen Erfahrungen mitbringt, in diesen halben Jahren in der Schweiz? Und was würde René hier in Kolumbien in der anderen Jahreshälfte den lieben langen Tag tun?

    Statt aufmerksam seinen Erwägungen zu folgen, schweife ich ab und befrage mich, angestachelt durch Renés Fragen, selbst. Wieso habe ich für mich selbst bis heute noch kaum derartige Zukunftsgedanken angestellt? Bin ich, im Gegensatz zu René, leichtsinnig und sehe dem Unabdingbaren nicht genug deutlich ins Auge? Was, wenn ich pflegebedürftig werde? Was, wenn ich von Danika und Simon verlassen werde? Was, wenn ich das Gedächtnis verliere? Wird mir jemand den Arsch abwischen und beim Sterben helfen? - Ich habe keine einzige Antwort darauf parat.

    Ich befürchte, ich bin für René heute ein schlechter Ratgeber. Ich scheine im Gegensatz zu ihm in einer Weise in den Tag hineinzuleben, die wohl nicht ganz schweizerischem Standard entspricht. Sollte mich meine Sorglosigkeit mehr beunruhigen, als sie es tut?

    Plötzlich läutet mein Handy. Die Nummer ist mir unbekannt. Mit matter Stimme und schwerer Zunge meldet sich Simon. Er berichtet, er sei spät nachts, nachdem sich die geladene Club-Gesellschaft endlich aufgelöst habe, aus seinem Versteck gekrochen und vor dem Penta in ein Taxi gestiegen. Von da weg könne er sich aber an gar nichts mehr erinnern. Heute Mittag sei er dann völlig durchnässt und verdreckt hinter einem Gebüsch eines nahen Parkes mit blutverschmiertem Hemd und Platzwunden im Gesicht und an den Schultern aufgefunden worden. So habe es ihm die Polizei berichtet. Sie habe ihn darauf zu einem Arzt gebracht, der bei der Untersuchung im Blut betäubende Substanzen entdeckt habe. Alle Wertsachen seien weg und auch sein Handy. Er habe heftiges Kopfweh. Später sei er von der Ambulanz nach Hause gebracht worden, wo sein Vater ihn kühl und ohne grosse Anteilnahme mit den Worten empfangen habe, das alles wäre nicht passiert, wenn sich sein Sohn an die elterlichen Vorgaben gehalten hätte.

    Meine Aufmerksamkeit für René ist jetzt vollends dahin. Ich entschuldige mich bei ihm für mein merkwürdiges Benehmen, bezahle die Konsumation und verabschiede mich rasch und schnörkellos. Doch wohin mit meinen Sorgen? Simon liegt jetzt vermutlich im Bett und ist wohl vorerst keines vernünftigen Gedankens fähig. Ich auch nicht.



©Nikolaus Wyss

 

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