Sonntag, 22. Januar 2023

Am I the #luckiestguyalive? Und was meint unsere Katze CUAL dazu?

Meine Freundin Milena pflegt ihre Posts auf Instagram mit dem Hashtag "luckiestgirlalive" zu begleiten. Als glücklich verheiratete, bestandene, erfolgreiche Frau und Mutter zweier erwachsener Söhne sich als "girl" zu bezeichnen, ist natürlich der amerikanischen Kultur geschuldet. Sie wohnt schliesslich in San Francisco. Dort wurde ich als 50jähriger von der Kassiererin im Supermarkt auch schon mit "honey" begrüsst, mit Schätzchen oder Liebling also. Was mich hier aber mehr interessiert, ist der Superlativ "luckiest", das glücklichste Mädchen. Auch dies ist sehr amerikanisch. Dort bezeichnet man sich ungeniert als sehr reich oder als sehr glücklich, während in der Schweiz zum Beispiel solche Superlative statt Mitfreude und Bewunderung eher Neid und Missgunst hervorrufen. Oder zumindest Fragen, ob man angesichts des Elends in dieser Welt überhaupt befugt oder gut beraten sei, von sich so etwas zu behaupten. Es könnte ja als respektlos und provokativ gegenüber denjenigen aufgefasst werden, denen das Glück nicht so hold ist. Zudem gibt es bestimmt noch an Glück reichere Menschen, die aber nicht so angeben! Bescheidenheit ist schliesslich eine Zier...

    "...doch besser lebt sich's ohne ihr." Grammatikalisch ziemlich falsch, doch, wenn man gnädig sein will, immerhin witzig, will diese Redewendung die Ungenierten und Unbekümmerten ermutigen, zu ihrem Glück zu stehen. Der Satz siedelt sich nahtlos im Umfeld einer weiteren Redewendung an, welche der streitbare, einflussreiche und umstrittene Schweizer Politiker Christoph Blocher gerne im Munde führt: "Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert." - Der alte Polterer hat natürlich gut reden mit seinen Milliarden im Hintergrund.

    Ich fahre jetzt nicht fort mit einem moralischen Exkurs über mangelnde Empathie bei Angebern, über Rücksicht und Mitleid, über das Unglück des Glücks, wenn es in falsche Hände gerät und Argwohn provoziert, ganz im Sinne von Schillers Willhelm Tell: "Es kann der Glücklichste nicht in Frieden leben, wenn es dem neidischen Nachbarn nicht gefällt", auch wenn im Stück eigentlich vom Frömmsten und vom bösen Nachbarn die Rede ist. - Was soll's, dem Sinn nach stimmt's...

    Nein, ich fahre vielmehr fort mit der Frage, wo ungefähr ich, übers Ganze gesehen, mein eigenes Glück ansiedeln würde. Reicht es zum "luckiestguyalive" (den "boy" lasse ich jetzt mal beiseite), oder doch eher nur zum "luckyman", oder wenigstens zum zufriedenen Pensionär? Oder muss ich es wie mein Vater halten, der zum Schluss seines Lebens traurig resümierte: "Ich bin mit meinem Lebensglück in den roten Zahlen steckengeblieben." - Diese traurige Bilanz, das war Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts, beeindruckte und bedrückte mich sehr. Denn er galt in seinen jungen Jahren, so erzählte er es mir wenigstens, als Hoffnungsträger, als talentierter, gescheiter, ja brillanter Jurist, der auch den musischen Seiten des Lebens zugetan war. Er schrieb Gedichte, musizierte auf seinem zweimanualigen Cembalo und tauschte sich im Zürcher Café Odeon mit der literarischen Oberklasse der damaligen Zeit aus, wo auch die intellektuellen Freigeister des NZZ-Feuilletons, des Schauspielhauses, der Tonhalle und der Universität ihren Milchkaffee schlürften und Zeitungen aus aller Welt lasen. Offenbar erfüllte er aber die in ihn gesetzten Hoffnungen, an die er selbst glaubte, und welche Richtschnur seiner Karriere hätte werden sollen, später nicht, rutschte ab in die schlüpfrigen Gefilde eines Winkeladvokats und Scheidungsanwalts und in die stinkenden Schlammschlachten der Politik. Leider machte er auch als Vater nicht die beste Figur.

    So nahm ich mir an seinem Sterbebett vor, am Schluss meines eigenen Lebens nicht zum selben Ergebnis zu gelangen, zumindest was meinen eigenen Beitrag zum Glück angeht. Klar, Unbeeinflussbares, wie das Schicksal und die politische Grosswetterlage etwa, reden auch noch ein Wörtlein mit. 

    War ich nicht, wie mein Vater, auch mit vielen Talenten für ein abwechslungsreiches, buntes Leben ausgestattet, galt als origineller und vielleicht auch etwas eigensinniger Kopf, in den man Hoffnungen setzen durfte? - In Erinnerung aber bleibt mir, trotz meines eigenen Vorsatzes an Vaters Sterbebett, eigentlich eher, dass ich extrem faul war und aus meinen musischen und intellektuellen Talenten erstaunlich wenig machte. Ich verbrachte Stunden, Tage, Wochen, ja, Monate mit Nichtstun, streunte unglücklich in Herrensaunen herum, schrieb Klagelieder in meine Tagebüchlein und träumte von einem anderen Leben, das mich von aller Mühsal befreien würde. Trotz Vaters Schlussbilanz war ich nicht imstande, irgend etwas Gescheiteres für mein eigenes Glück zu unternehmen. So kam ich im Laufe meines Lebens allzu oft zum Schluss, der Apfel sei nicht weit genug vom Stamm gefallen. Im Rückblick sind diese Auszeiten wohl als Depressionen zu werten, gut versteckt hinter irgendwelchen Ausreden und Selbsttäuschungen. Dass ich es trotzdem schaffte, über die Runden zu kommen und mich heute zufrieden, ja, glücklich zu wähnen, ist wohl...

    Gerade jetzt, in diesem Moment, ich lüge nicht, ist CUAL, unsere Katze, ausgerutscht. Dazu muss man wissen, dass sie den ganzen lieben Tag um mich herumstreicht und meine Aufmerksamkeit einfordert. Auch dann, wenn ich grad am Computer sitze. (Manchmal macht sie es sich auf der Tastatur bequem und produziert unendlich lange, unentzifferbare Buchstabenfolgen, die ich dann wieder mühsam löschen muss.) Auf meinem Schreibtisch liegen allerlei Papiere, Kabel zum Laden des Laptops und des Tablets und noch zu bezahlende Rechnungen herum. Dazu kommen Berge von vor Unglücklichsein triefenden Tagebüchlein aus den unterschiedlichsten Abschnitten meines Lebens. Ich nahm mir nämlich kürzlich vor, sie probehalber neu zu lesen und sie anderswie zu gruppieren. Monatsweise. Das heisst, alle Texte, die ich über die Jahre in einem Januar niedergeschrieben habe, möchte ich dahingehend überprüfen, ob sie, zu einem Lauftext zusammengefasst, einen neuen Sinn ergeben könnten. Einen Monatssinn sozusagen. Dasselbe würde ich dann auch mit den vielen Februaren versuchen, und so fort. Ich bin jedenfalls gespannt, was dabei herausschaut, wenn der Januar 1973 mit dem Januar 1998 verbunden wird (und alle dazwischen natürlich auch), und ob sich irgendein Sinn erschliesst zwischen meinen Februar-Einträgen von 2012 bis 2021. Und so fort. 

    Unsere Katze also wollte sich vorhin gerade auf ein blaues Tagebüchlein setzen, worauf dieses ins Rutschen geriet. Heft und Katze landeten krachend am Boden. Unwillkürlich musste ich über CUALS Missgeschick lachen, doch die Katze tat so, als ob gar nichts geschehen wäre. Sie leckte sich sofort das Fell, als ob sie das an dieser Stelle schon immer beabsichtigt hätte. 

    CUAL: Was guckst du blöd? Lachst du auf meine Kosten? Ist dies jetzt das Glücksgefühl, von dem du eigentlich reden möchtest, es aber nicht wagst, weil es unanständig ist, sich auf Kosten anderer lustig zu machen?

    Sorry, aber dein Sturz und deine Reaktion darauf entbehren nicht einer gewissen Komik. 

    Ich mag mich aber jetzt nicht auf diese Art von Diskussion einlassen. Soll CUAL sich doch weiter ihr Fell lecken. Ich hingegen wende mich dem zu Boden gefallenen Büchlein zu und lese auf der aufgeschlagenen Seite folgenden Eintrag vom 7. Januar 2011: ... Ich staune über meinen Fleiss und das damit zusammenhängende Glücksgefühl. Die Worte Cornelias, seine Erfüllung, sein Glück zu suchen und zu finden in dem, was man hat, und nicht nachzutrauern von Verpasstem und sich nicht in Vergleich zu stellen mit denen, die Sichtbareres und Prestigereicheres wie Häuser, Autos, Positionen geerbt oder mit Glück bekommen oder sich erarbeitet haben (was ja noch keine Aussage über deren Glück zulässt). - Es geht also um das Akzeptieren und Gutheissen des selbst gelebten Lebens und der eigenen Aktivitäten, sie sind die einzige Quelle für mein eigenes Glück. Ich kann nur wirken (auf mich wie auch auf andere) mit dem, was mich ausmacht, mit meinem individuellen Leben. Das nimmt enorm viel Druck weg und macht frei...

    Wie gelegen mir dieses Zitat doch kommt. Ich lese es CUAL vor, damit sie von ihrem Beleidigtsein ablässt.

    Und? meint sie darauf, wie kann ich mich mit anderen Katzen überhaupt vergleichen, wenn ich die ganze Zeit hier eingesperrt bleibe?

    Du hast ja Schiss, vors Haus zu treten, und wenn du trotzdem deine Pfoten einmal vor die Tür setzst, so miaust du nach zehn Sekunden und willst wieder hereinkommen.

    Ich will auf etwas anderes hinaus, Nikolaus. Das Glück stellt sich nicht nur bei der Abstinenz von Vergleichen ein. Ich habe jeden Tag Glücksgefühle, die aus mir selber kommen.

    Eben. Wenn du dich zum Beispiel saubergeleckt oder etwas zu fressen bekommen hast, so empfindest du Glücksgefühle, auch ohne miesepeterisch zu denken, ob andere Katzen vielleicht mit noch besserem Katzenfutter, noch frischerem Fisch oder mit 100 statt nur mit 85 Gramm Hackfleisch verköstigt werden. 

    Du nennst das meine "heure bleue", wenn ich wie wild im Wohnzimmer herumrenne und euch alle verrückt mache, weil ich den Überzug des Sofas zerkratze. Und wenn ich auf deinem Schoss hocke, so beginne ich zu schnurren. Ich kann gar nicht anders.

    Das sind die spontan auftretenden, momentanen Glückswallungen. Ich weiss aber nicht zu sagen, ob die Kumulation täglicher Glücksanwandlungen etwas darüber aussagt, ob man sich grundsätzlich glücklich schätzen darf. Oder ob es auch beim Unglücklichsein einfach kleine Lichtblicke und bescheidene Glücksmomente gibt, ohne dass sich diese auf die Gesamtverfassung auswirken.

    Das Glück, von dem ich rede, ist spontan. Richtig. Ich habe glückliche Momente, auch wenn ich eingesperrt bin, auch wenn es mir nicht vergönnt ist, Kinder zu bekommen...

    ... du hast Katzengesellschaft stets abgelehnt. Wir sind deine einzigen Bezugswesen. Wir wollten dir einen Katzengespahnen schenken. Mein Gott, war das ein Drama! Du hast das kleine Kätzchen beinahe totgeprügelt...

    Lass mich in Ruhe damit. Dieses kleine Wesen, das ihr mir zumuten wolltet, mit seinen das ganze Gesicht beherrschenden Kugelaugen war eine Bedrohung unseres Hauses und verkörperte für mich das reine Unglück. Und wenn wir Katzen Unglück wittern und unser Revier in Gefahr sehen, so schlagen wir halt heftig und furchtlos zu, bis wir die Gefahr gebannt haben und wieder unserem Glück frönen können. So ist das bei uns. Das kannst du in Tausenden von Youtube-Filmchens überprüfen.

    Ich weiss, ich weiss. Dann darfst du dich aber auch nicht beklagen, dass du allein geblieben bist. 

    Kannst du schnurren?

    Nein.

    Dann weisst du gar nicht, was Glück ist.

    Das ist jetzt etwas krass. Ich fühle mich aussergewöhnlich oft glücklich hier, auch wenn ich nicht schnurre. Gemessen an meinen vielen früheren Tagebucheintragungen in der Schweiz aus dem letzten Jahrhundert, die überfüllt sind mit Klagen, Depressionsbezeugungen, Kummer und Gejammer, überkommen mich hier in Kolumbien immer wieder auf eine Weise Glücksgefühle, auf die ich aufgrund meines bisherigen Gefühls und Lebenswandels nie zu hoffen wagte. Ich habe, seit ich hier bin, auch aufgehört, Tagebüchlein zu schreiben. Das ist, bei mir wenigstens, ein starkes Anzeichen fürs Glücklichsein. Dafür schreibe ich hier Blogeinträge. Die machen mich glücklich, selbst wenn sie nur von wenigen zur Kenntnis genommen werden.

    Und ich dachte, ich sei es, die dich glücklich macht.

    Du machst mich jedenfalls, auch wenn ich mich oft über dich ärgere, nicht unglücklich, CUAL. Und du führst mich dazu, mit dir ungeniert und unbedacht zu diagolisieren. So, wie du unsere Möbel zerkratzst, kratze ich an meiner Vernunft und fühle mich glücklich dabei.  

    Also der #luckiestguyalive? 

    So eine Bezeichnung würde mich wieder in die Situation versetzen, mich mit anderen zu vergleichen, um zu diesem Befund zu kommen.

    Du bist blöd. Du kannst dich doch unvergleichlich glücklich fühlen.

    Ja schon, aber dann lassen wir das "luckiest" doch beiseite. Es soll nicht zu einem Wettbewerb des Glücks ausarten. Der einzige Massstab, dem das Glück unterliegt, ist das Unglück, das Pech.

    Gestern? Als dir ein Weinglas zu Boden fiel?

    Ich glaube, dass das Glück manchmal auch seine Opfer einfordert. Das Glück macht sich erst so richtig bemerkbar, wenn es sich aufgrund von Entscheidungen, Schicksalsschlägen oder, wie bei mir gestern, von Ungeschicklichkeiten manifestiert.

    Ein zerschlagenes Glas und Weintropfen auf dem ganzen Boden machen dich glücklich?

    Ein zerbrochenes Weinglas wiegt schwerer und richtet grössere Schäden an, wenn man es als Unglück ansieht. Bei mir aber ist es eine Anekdote nur, um mir zu zeigen, dass es mir eigentlich nichts anhaben kann. Wir sagen auf Deutsch: Scherben bringen Glück. Da bin ich glaub' ich auf dem richtigen Weg.

    Stellt sich also Glück ein, wenn du regelmässig ein Weinglas zu Boden fallen lässt?

    Du bist mühsam, CUAL. Das Glück kann man nicht erzwingen. Es stellt sich nur ein, wenn es ihm selber passt, und wenn man bereit ist, es als solches wahrzunehmen und willkommen zu heissen. 

    Das heisst, ein zerbrochenes Weinglas kann sowohl Glück wie auch Unglück bedeuten?

    Es ist in der Tat eine Sache der Interpretation. Nehme ich den Vorfall als Unglück wahr, oder kann er mir nichts anhaben? Im letzteren Fall bleibt nur, die Scherben aufzulesen und dabei aufzupassen, sich selber nicht in den Finger zu schneiden.       

    Dann ist Milenas Behauptung, #theluckiestgirlalive zu sein, ihre Entscheidung, sich in dieser Welt so positionieren zu wollen. Es soll den anderen nicht das Urteil überlassen werden, ob man es wirklich ist?

    Ich staune über deine Intelligenz. 

    Für dich bin ich nur eine gefrässige Katze, ich weiss. Das könnte mich unglücklich machen, aber ich behaupte mal, trotz allen Widrigkeiten #theluckiestcatalive zu sein. Das erleichtert ungemein und prägt die Welt um mich herum mit anderen, fröhlicheren Farben. 

    Jetzt, wo ich langsam in Fahrt komme, läutet es unten an der Tür. Die Katze, neugierig wie sie ist, springt auf und rennt hinunter. Fertig lustig. Vielleicht ist es aber auch ein Glück, sich ins Thema nicht noch weiter zu verstricken.

@Nikolaus Wyss

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Es gibt schon einen früheren Beitrag mit unserer Katze CUAL. Hier nachzulesen. Und einen späteren. Hier nachzulesen

Im übrigen freue ich mich immer, Rückmeldungen und Grüsse zu bekommen und danke schon jetzt dafür. Hier meine weiteren thematisch geordneten Blog-Einträge und Videos, abrufbar mit einem Click.


 




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