Samstag, 29. Juli 2017

Plötzlich meine ich Sepp Estermann besser zu verstehen


In den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat sich im Hause des damaligen Stadtpräsidenten von Zürich, Sepp Estermann, und seiner Frau Maggie ein seltsames Geköch zugetragen. Eine illustre Gästeschar aus Literaten, Schriftstellerinnen, Journalisten und Musikerinnen fand sich zusammen, man sass an einem grossen Tisch und trank exquisiten Wein. Die Gespräche waren durchaus unterhaltsam und anregend, doch der eigentliche Gastgeber hörte nur von Weitem zu. Er stand in der Küche, verbat sich jede Hilfe und richtete die Speisen an. Seine gelegentlichen Kommentare beschränkten sich aufs Geklapper von Kochgeschirr und auf Zurufe an Maggie, dass ein neuer Gang zum Servieren bereit sei. Damals befremdete mich dieses Setting. Wann immer ich später in die Situation geriet, eine Anekdote zum damaligen Stadtoberhaupt zu liefern, kam mir dieses Abendmahl in den Sinn. Nicht ohne die originelle Kochschürze zu vergessen, die ihn vor Flecken auf seinen piekfeinen Bügelfaltenhosen schützen sollte.

Sepp Estermann ist mir vor ein paar Jahren wieder in den Sinn gekommen, als ich mich hier in Kolumbien für eine junge Gästeschar ins Zeug legte. Zehn hungrige und plappernde Mäuler versammelten sich um unseren Tisch, und ich kochte ihnen das, wovon ich am meisten etwas zu verstehen meine: Improvisiertes. Das, was der Kühlschrank halt so hergibt. Ich stand also hinter den dampfenden Kochtöpfen und klapperte zuweilen mit dem Geschirr, und im Hintergrund fand eine etwas laute, aber durchaus sympathische Party statt. Manchmal kam der eine oder andere hungrig schauen, ob die Gerichte schon gar seien, schnappte sich etwas aus einer Pfanne und kommentierte es. Ich war zufrieden in meiner Rolle. Ich fühlte mich in dieser Runde gut aufgehoben, trug meinen Teil zum allgemeinen Wohlbefinden bei, erntete Zustimmung, musste mich aber nicht an den Gesprächen beteiligen, die mich sowohl sprachlich als auch gedanklich überfordert hätten. Ich blieb in meiner eigenen kleinen Welt der Gewürze und Küchendämpfe und trug gerade damit zu einem erfolgreichen Abend bei.
Wahrscheinlich war es nicht einmal mein kulinarischer Beitrag, der mich an diesem Abend glücklich stimmte. Vielleicht waren es bloss die Stimmen, die an mein Ohr drangen. Ich hörte gar nicht zu, ich nahm sie einfach wahr. Ich war nicht allein und doch ganz bei mir.

Meine Mutter übrigens bezeichnete die letzten drei Monate ihres Lebens als ihre glücklichsten. Sie war schon hinfällig und bettlägerig. Doch während sie die Jahre zuvor unter quälenden Depressionen litt, überstrahlte zum Schluss Heiterkeit ihr Dasein. Ich fragte mich oft, wie es ohne Psychopharmaka zu dieser Wende kommen konnte, und erklärte mir ihren Gemütswandel mit der Anwesenheit vieler, hilfsbereiter Freundinnen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, sie in den letzten Wochen ihres Lebens nicht allein zu lassen. Im Gegensatz zu ihrem früheren Alleinsein war sie jetzt rund um die Uhr von Menschen umgeben. Sie liessen sie zwar in Ruhe und reagierten erst, wenn sie ihr Glöcklein betätigte. Doch sie unterhielten sich in Zimmerlautstärke in der Küche oder im Wohnzimmer, und die Tür zu ihrem Schlafraum blieb immer einen Spalt weit offen. So waren im Hintergrund stets menschliche Geräusche präsent und beruhigten sie – etwa so wie eine Hand, die einen streichelt. Es gab übrigens mit der Zeit immer mehr Frauen, die einander abwechselten. Ich kannte nicht alle. Als ich einmal unangemeldet vorbeischauen wollte, öffnete eine mir unbekannte Dame die Tür. Sie liess mich wissen, dass Frau Wyss jetzt keine Besuche empfangen könne. Erst als ich mich als deren Sohn zu erkennen gab, liess sie mich eintreten. Mir gefiel dieses Vorkommnis, es entlastete mich in meiner Sorge um meine Mutter und bestärkte mich im Wissen, dass sie gut beschützt wird.

Vermenge ich Begebenheiten, die nicht zusammengehören? Auf assoziativer Ebene mögen sie miteinander zu tun haben, doch die Beweggründe Sepp Estermanns, sich in der Küche nützlich zu machen, haben womöglich nichts mit meinen weiteren Überlegungen zum Wohlbefinden bei der Wahrnehmung von Gesprächsfetzen zu tun. Vielleicht wollte der Stadtpräsident wirklich nur etwas Feines kochen und nahm dafür die Distanz zur geladenen Gesellschaft einfach in Kauf. Immerhin konnte er aus der Ferne den Unterhaltungen folgen und in etwa abschätzen, ob sich die Gäste gut vertrugen oder ob er in irgendeiner Weise intervenieren müsse. Mein Verdacht aber bleibt, dass ihm beim Kochen wohler war als bei Tisch, wo ein unausgesprochener Wettbewerb der besten, gescheitesten und assoziationsreichsten Einwürfe im Gange war. Wer heimste wohl die heftigsten Lacher ein? Ich glaube, Sepp Estermann hätte in Anbetracht der illustren Gästeschar, worunter sich auch solche Kaliber wie der sowohl schlagfertige als auch redselige Hugo Loetscher befanden, einen schweren Stand gehabt. So aber war er dabei, ohne dabei sein zu müssen.

Seis drum. Es geht mir in meinen mäandernden Überlegungen letztlich um Folgendes: über den Wert von Gesprächen, denen man nicht zuhören muss, die aber gleichwohl oder vielleicht gerade deswegen auf eigene Weise wirken und einem gestatten, in seiner eigenen Welt zu bleiben. Ich halte sie für therapeutisch relevant und kündige schon einmal vorsorglich an: Bitte die Türe einen Spalt breit offen lassen. Danke.

Samstag, 22. Juli 2017

Alex die Türschwelle



Der zugelaufene Strassenköter heisst Alex. Er macht es sich zur Aufgabe, Haushund zu sein. Das Haus, das er sich dafür aussuchte, gehört Heinz und steht im mexikanischen Juchitán de Zaragoza. Diese Stadt liegt in der Provinz Oaxaca, eine Autostunde vom Pazifik entfernt. Dort hat sich der frühere Pädiater und rastlose Kino-, Konzert- und Theatergänger, der leidenschaftliche Museumsbesucher und Literaturliebhaber den Traum einer kleinen Kulturoase verwirklicht. In seinem Haus mit üppigem Vorgarten organisiert er für talentierte Nachwuchskünstler Musikworkshops und für Kinder Malkurse. Er stellt Werke von Künstlerinnen und Fotografen aus, unterhält für die lokalen Rapper ein Tonstudio und serviert seinen Gästen aus der grossen Espressomaschine gut gerösteten, fein duftenden Kaffee. Am Kücheneingang aber liegt Alex. Das ist sein Platz. Alle müssen mit ihren Kaffeetassen über ihn hinwegsteigen. Er lässt sich von dort einfach nicht vertreiben. Er spielt Türschwelle.
Heinz hat Alex nach einer Figur aus Martin Franks Buch Sechs Liebesgeschichten benannt. Niemand weiss, von wo Alex gekommen ist. Plötzlich war er da, zusammen mit Heerscharen von Flöhen in seinem Fell, die ihn den Tag lang auf Trab halten. Der Köter bemächtigte sich ungeniert des Hauses und deklariert es fortan zu seinem Revier.
Alex bekommt hier nichts zu fressen und nichts zu trinken. Er bettelt und jammert auch gar nie darum. Für ihn scheint das Arrangement Logis ohne Kost selbstverständlich zu sein. Das ist das Merkwürdige an dieser Geschichte. Er beschafft sich draussen auf der Strasse alles selbst. Da er den lieben langen Tag am Kücheneingang sitzt, nutzt er wohl die Nacht dazu. Ich sah ihn einmal draussen aus einer Pfütze Wasser trinken, nachdem er sich durch eine Lücke im Gartenzaun hinaus auf die Strasse gezwängt hatte. Sein weiterer Lebensunterhalt bleibt aber im Dunkeln. Wie viele Nachkommen hat er wohl schon gezeugt? Wo beschafft er sich seine Nahrung? Wohin scheisst er? Hat er ausser Hauses Freunde? Jagt er Katzen? Welche Düfte mag er am liebsten?
Alex wird, ausser dass man über ihn hinwegsteigen muss, von den Menschen im Haus kaum wahrgenommen und schon gar nicht gestreichelt. Bei diesem struppigen Fell, das stets neue Nagespuren seines täglichen Kampfes mit den Blutsaugern aufweist, mag ihn niemand so richtig anfassen. Er aber liebt den Betrieb. Er geniesst die Konzerte auf dem Vorplatz. Er entspannt sich dabei und streckt beim grellen Saxofonsolo alle Viere von sich. Nach dem Gig stolziert er zwischen den Beinen der Gäste herum, als ob er selbst Gastgeber wäre und mit den Besuchern die Begeisterung fürs Dargebotene teilen möchte.
Das Haus verteidigt er nach Gutdünken. Es scheint, als ob er sich ein paar Mal am Tag vornimmt, für Ordnung zu sorgen. Pflichtbewusst steuert er dann zum Gartentor und bellt Leute und Fahrzeuge an. Nach getaner Arbeit trottet er befriedigt zurück zur Küchentür und widmet sich wieder seiner Flohkolonie.
Wieso nur hat es mir dieser Strassenköter so angetan? Wieso schreibe ich als erstes über ihn statt über das beeindruckende Kulturwerk von Heinz? – Vielleicht liegt es an meinen mangelnden Hundekenntnissen. Vielleicht sind Hunde einfach so. Alex beeindruckt mich jedenfalls mit seiner schicksalsergebenen, realistischen Einschätzung der eigenen Situation. Vielleicht entspricht das Arrangement seines jetzigen Hundealltags seinem Traum und ist zehnmal besser, als was er vorher je gehabt hatte. Zudem fehlt ihm vermutlich die Vorstellung davon, dass es Hunden durchaus noch besser gehen könnte. Er weiss nicht, wie es ist, mit Flohpuder behandelt worden zu sein und einen Fressnapf vorgesetzt zu bekommen. Sein Schicksal ist seins, er kommt gut damit zurecht. That’s it. Er vermittelt mir keinen Augenblick lang das Gefühl, ihn bemitleiden zu müssen. Wie angenehm, so einen Hund am Kücheneingang. Jeder steigt respektvoll über ihn hinweg. Er verdankt es mit Anspruchslosigkeit und uneingeforderter Treue.

© Nikolaus Wyss

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Dienstag, 18. Juli 2017

Vom Drehen Mahlers im Grab


Wenn sich Gelegenheit ergibt, bin ich dankbarer Nutzer des hiesigen Konzert- und Theaterangebots. Kürzlich ging ich wieder einmal zusammen mit ein paar Freunden ins Teatro Colon, einem prächtigen Bau mitten in der Altstadt Bogotás, der in der Tradition klassischer Opernhäusern Italiens erbaut wurde. Das Gebäude wollte zum Zeitpunkt seiner Errichtung wohl sichtbar dokumentieren, dass Kolumbien kulturell der Alten Welt durchaus das Wasser reichen kann, und dass es sich, zumindest was die Innenausstattung angeht, mit dem viel berühmteren und grösseren Teatro Colon von Buenos Aires messen will.
Wir waren an der Premiere von Giuseppe Verdis Otello. Arme Desdemona. Das einzig Gute an ihrem Tod mochte sein, dass sie sich das Geschrei ihres eifersüchtigen Alten nicht mehr anhören musste. Manchmal befürchtete ich, sie bekomme einen Hörschaden, so laut brüllte der venezianische Mohr seine Klagen ins Publikum. Doch wenn sie gewusst hätte, dass Othello sich zum Schluss das Messer in die eigene Brust stösst, hätte sie eigentlich nicht zu sterben brauchen.
Sonst aber war die Produktion hochstehend und durchsetzt mit gutem internationalem Personal und mit einem ansprechenden, modernen Bühnenbild versehen. Ein durchaus gewinnbringender, erbaulicher Abend. Die besten Plätze kosteten gerade mal 70 Franken. Für hiesige Verhältnisse jedoch ein Vermögen.
Während in der Oper das kolumbianische Staatsorchester zum Zuge kam, feierte das andere Eliteorchester der Stadt, die Bogotá-Philharmonie, sein 50-jähriges Bestehen mit einem Konzertzyklus. Dazu gehörte auch eine Aufführung von Gustav Mahlers 3. Symphonie im ärmsten Süden der Stadt nachmittags um drei. Die schwere Kost wurde in einer auf zwei Seiten hin offenen Eventhalle in unmittelbarer Nähe zur Iglesia del Divino Niño Jesús del 20 de Julio serviert. Der Zutritt war zwar kostenlos, aber man bezahlte mit dem Akzeptieren von Einschränkungen, die sich aus diesem ungewöhnlichen Vorführungsort ergaben. Die Bewohner des Quartiers hörten wohl zum ersten Mal live solche Musik und tauschten sich während des Konzerts fleissig über nachbarschaftliche und familiäre Begebenheiten aus. Kinder krabbelten über die Bänke und schrien, wenn es ihnen danach war, was die Eltern schon gar nicht zu unterbinden versuchten. Und aus der benachbarten Kirche hörte man mikrofonverstärkte fromme Lieder, welche die leisen Stellen der Mahler-Komposition glatt übertönten. Dann tat mir der riesige Kinderchor leid, der weit über eine Stunde lang auf seinen kurzen Bim-Bam-Einsatz warten musste. Und ob der chilenische Mezzosopran schön klang, konnte ich beim besten Willen und auch mit spitzigsten Ohren nicht ausmachen.
Der Anlass berührte mich trotzdem zutiefst. Wahrscheinlich bin ich noch nie so bewegt aus einem Konzert gekommen. Die Musik allein kann es nicht gewesen sein. Doch vielleicht hat es etwas mit der Würde und dem Respekt zu tun, deren Gemengelage so einmalig zur Wirkung gelangte. Da war das zwangsläufig scheiternde Bemühen des Orchesters und seines Dirigenten, diese Musik einem nicht ausgewählten Publikum näherzubringen. Doch die Musiker hielten unbeirrt durch, was mir grössten Respekt abverlangte. Ich als Dirigent hätte schon längst abgeklopft. Die Aufführenden schienen es auf wundersame Weise Gustav Mahler, dem lieben Gott und dem lauschenden Publikum schuldig gewesen zu sein, den letzten, unhörbaren Ton auch noch zu spielen. Es gab unter den Zuhörenden aller Altersklassen etliche, die ebenso unbeirrt, ernsthaft und hoch konzentriert der Musik lauschten, soweit diese an ihr Ohr zu dringen vermochte. Und genau da erhob sie sich, diese heilige Mischung von Göttlichem, das sich in dieser geheimnisvollen Komposition von Gustav Mahler mit dem irdischen Leid in Verbindung zu setzen versucht, und es gelang an diesem Nachmittag, wonach sich Mahler unter Verwendung seiner kompositorischen Mittel wohl ein Leben lang sehnte. «[...] Die Welt ist tief / Und tiefer, als der Tag gedacht. / Tief ist ihr Weh –, / Lust – tiefer noch als Herzeleid: / Weh spricht: Vergeh! / Doch alle Lust will Ewigkeit –, / – will tiefe, tiefe Ewigkeit.» – Und der Kinderchor bittet später Jesus um Erbarmen, weil er die zehn Gebote gebrochen hat, worauf Jesus ihm empfiehlt, Reue zu üben und zu Gott zu beten. Ja, Mahlers Biograf Paul Stefan bemerkte dazu, dass bei Mahler das «Erlebnis des Weltalls auf der Strasse beginnt und im Unendlichen endet».
Als ich später ins Taxi einstieg, wusste ich einen Augenblick lang meine Adresse nicht mehr.




©Nikolaus Wyss









© Nikolaus Wyss

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