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Dienstag, 5. September 2023

"Zurückbleiben bitte" - Berliner Impressionen 2023

 

 

    Es ist bestimmt nicht so, wie ich es beschreibe. Es ist nur so, wie ich es zurzeit empfinde. Jetzt, in meinem Zustand dieser Tage in Berlin. Diese Stadt hat mir sonst immer erhellende, bereichernde Erlebnisse und neue Eindrücke beschert. Diesmal ist es anders. Meine Berliner Zeit scheint für einmal darin zu bestehen, auf diese Bereicherungen verzichten zu müssen. Diesmal rauschen sie unkenntlich und spurlos an mir vorbei. Ich konsultiere keinen Veranstaltungskalender, besuche keine einzige Ausstellung und komme an keinem wichtigen Monument vorbei. Ich mache keine Kneipentouren, und mein Sinn steht auch nicht nach einem Abenteuer. Was überhaupt mache ich hier? Das ist doch reine Geld- und Zeitverschwendung!

    Es ist einfach zu heiss. Meine Erschöpfung allein gibt den Tagesrhythmus vor. Mein Alltag findet vornehmlich im Hotelzimmer statt: Nochmals schlafen nach dem Frühstück. Später nach 80 Metern Abbruch eines Spaziergangversuchs. Voll verschwitzt zurück zur Bleibe. Restminuten des Frühstückfernsehens mit Sven Loreck angucken, der schon seit geschätzten 150 Jahren dabei ist, und, neu, mit einer kecken jungen Dame, deren Name sich mir nicht einprägen will. Auch noch mit dabei der Wettermann Benjamin Stöbe, immer munter drauf und kompetent.

    Zum Lesen zu schwach. Langes Werweissen, wo ich später am Tag noch etwas essen könnte. Dann, nach ein paar Sushis um die Ecke, wieder auf dem Bett, mit Unterhosen bloss. Später Mittagsschlaf bei laufendem Fernsehapparat. So vergehen meine Berliner Tage im Jahre 2023.

    Einzig an den Abenden, wenn sich die drückende Hitze etwas legt, habe ich mich schon mit ein paar Freunden getroffen. Für mich gestalten sich diese Begegnungen immer mehr zu einer Art «peer review». Wir belauern uns wohlwollend und in alter Freundschaft, beobachten dabei aber genau, wo es beim andern schon zu bröckeln beginnt. In aller Verschwiegenheit finden Vergleiche statt, wobei ich mich meistens als hinfälliger einschätzen muss als meine Gegenüber. Liegt es vielleicht daran, dass das 24-Stunden-Hamsterrad Berlin es den hier Wohnhaften schon gar nicht erlaubt, sich erschöpft zu geben? Man lebt schliesslich in dieser Stadt, um davon zu profitieren, was es andernorts nicht gibt: Kultur, Parties, Events, Premieren, Konzerte, neue Lokale… Darauf zu verzichten, kommt schon fast einem Verrat gleich. Deshalb fühle ich mich tagsüber auch so unnütz in meinem Hotelzimmer, ja, schuldig.

    Und doch, in einem bin ich mit meinen Freunden gleicher Meinung: es ist nicht mehr so wie früher. Die Stadt gibt zwar den Einheimischen nach wie vor den Lebensrhythmus vor. Nur kommt jeder und jede heute mehr ins Hecheln, führt das aber auf die Hitze zurück und nicht auf das eigene, fortgeschrittene Alter, auf eine gewisse Sättigung auch.

    Auf dem Heimweg nach einem abendlichen Freundesbesuch dann die überraschende und tröstende Erleuchtung in einer gottverlassenen U-Bahn-Station. Dort ertönt doch kurz vor dem Schliessen der Türen jeweils eine Stimme und mahnt: «Zurückbleiben bitte.» - Plötzlich offenbaren für mich in der einen schwülen Nacht diese tausendfach wiedergegebenen Worte eine erlösende Botschaft. Berlin erteilt mir zehn Meter unter dem Boden die Absolution für mein Nichtstun: ich muss doch gar nicht! Ich kann alles, was ich mir eigentlich vorgenommen habe, und weswegen ich nach Berlin gefahren bin, sausen lassen. Ich kann all die Züge, die mich zu spannenden Orte fahren würden, abfahren lassen und in aller Ruhe zurückbleiben. So halte ich es schliesslich schon die ganze Woche, bedrückt und auch leicht verärgert. Doch jetzt bekomme ich offiziell und freihändig von der Stadt die Rechtfertigung für mein Verhalten geliefert. Berlin hat gesprochen und mir unverhofft eine unbezahlbare Einsicht im Wert eines U-Bahnfahrscheins beschert.

    Der nächste Morgen fühlt sich überraschenderweise energiegeladen an. Mutig setze ich mich nach einem frühen Frühstück der Hitze aus, schaffe es bis zum Uniqlo- Kleiderladen, wo ich mich in guten Händen von Roger Federer weiss. Die stark aufgedrehte Klimaanlage trägt das ihrige dazu bei, dass ich wahllos Unterwäsche, Hemden und Socken kaufe. Ich muss ja nirgends hin, bleibe im Perimeter des Hotels. Im Kaufhof daneben erstehe ich mir noch einen Koffer, um das Eingekaufte auch gut geschützt zu transportieren. Und ein roter Morgenrock zu günstigem Preis passt auch noch rein. Übermütig, wenn auch verschwitzt, schaffe ich es zum Hotel zurück und kleide mich für eine Fotografie an meine Lieben in Übersee so ein, damit sie sehen, mit welchem Outlook sie bei meiner Rückkehr rechnen müssen.

    Abends dann Richard Strauss’ Elektra in der Deutschen Staatsoper unter den Linden. Im Laufe der Aufführung komme ich zum Schluss, dass Elektra eine dumme Kuh sein muss. Liegt vielleicht auch daran, dass der Tonmeister meint dem Publikum eine Freude zu bereiten, wenn er das ganze Haus während der ganzen Aufführung mit derselben Tonstärke beschallt. Ein pausenloses Geschrei und ein überlautes Orchester. – Ich hätte zurückbleiben müssen. Sei’s drum.

    Tags darauf probt Zubin Mehta draussen auf dem Bebelplatz mit der Berliner Staatskapelle Bruckners Siebte. Der Platz füllt sich mit Liegestühlen. Ich aber gehe Eis essen. Übermorgen fahr ich eh los und lasse Berlin zurück. 

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©Nikolaus Wyss
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 - Meine Mexiko-Wochen

- Zürich, Ende September

- Ein Tag in London

- Wieder in Bogotá

- Rösti in Kalkutta 

- Adieu Paris - Paris adieu 

 
  


Dienstag, 26. Juni 2018

Rigoletto im Puppenhaus

Bernhard Vogelsanger (1920-1995)
(alle Bilder von Emanuel Ammon, kopiert aus dem Magazin des Tages-Anzeigers)

Mein Text über den Schwamendinger Opernhausdirektor Bernhard Vogelsanger erschien erstmals am 26./27. August 1988 im Magazin des Tages-Anzeigers. Damals lebte Vogelsanger noch und erlebte mit dieser Publikation eine gewisse Berühmtheit, die ihn etwas überforderte. Zu viele Besucherinnen und Besucher wollten jetzt seine Inszenierungen sehen, dabei dachte er altershalber schon darüber nach, seine Aufführungen einzustellen. - Gegenwärtig findet in der Galerie Tenne in Zürich-Schwamendingen eine Ausstellung über Vogelsangers kunstvoll-wunderliche Opernwelt statt. Aus diesem Anlass und in Erinnerung an diesen speziellen Menschen publiziere ich hier nochmals den Text von damals.  

»Zur Sicherung des Familienbesitzstandes soll die Schwester des machthungrigen Lord Henry Ashton, Lucia di Lammermoor, eine Zweckheirat mit dem einflussreichen Lord Arthur eingehen. Doch diese liebt Edgar von Rawenswood, ausgerechnet den ärgsten Feind ihres Bruders, worauf letzterer sich gezwungen sieht, intrigantisch einen Keil zwischen die Liebenden zu treiben, was ihm auch vorzüglich gelingt, denn enttäuscht wendet sich jetzt Edgar ab, worauf es zur vom Bruder geplanten Hochzeit kommt. Diese endet jedoch im Blutbad, denn Lucia bringt in ihrem Schmerz den ungeliebten Bräutigam um und endet selber mit einer herrlichen Arie im Wahnsinn.
In Bernhard Vogelsangers Inszenierung der berühmten Donizetti-Oper in 3 Akten singt Maria Callas in einer Aufnahme aus dem Jahre 1955 die Lucia di Lammermoor. Die Schallplatten haben schon etwas Staub angesetzt, und der Plattenspieler ist ein Grammophon. Doch was will man sagen: Der Eintritt ins wohl kleinste Opernhaus der Welt ist gratis. Es befindet sich im zweiten Stock eines Hauses in Zürich-Schwamendingen. Im Kinderzimmer einer engen Genossenschaftswohnung wird seit 40 Jahren Saison für Saison an Samstagen fast das gesamte Repertoire der klassischen Oper und Operette gespielt. Das Theater weist acht Sitzplätze auf, die Bühne ist so gross wie eine Schuhschachtel, und in den Pausen werden Wein, Mineralwasser und gestrichene Brötchen serviert.
Die grössten Dramen von Liebe, Leidenschaften und Tod finden hier ihren miniaturisierten Ausdruck in sieben Zentimeter grossen, liebevoll bemalten, gelenkigen Pappfiguren, die Vogelsanger, diesmal in der Funktion eines Bühnenmeisters, an feinen Drähten über die Bühne führt. Alle Stürme, Kriege, Ängste, Sehn- und Eifersüchte, alle Mörder, Liebenden, Nebenbuhler, Kammerdiener und Götter sind so weit auf Guckkastenformat reduziert, dass sie für einen einzigen Mann beherrschbar werden. Eigentlich wäre er gern zur richtigen Oper gegangen, in diesen extrem arbeitsteiligen Betrieb, in welchem er zur Schaffung eines Gesamtkunstwerkes sowohl Trompeter, Geiger und Dirigenten als auch Sänger, Statisten und Beleuchter, sowohl Garderobieren als auch Regisseure braucht. Er sah sich darin als Bühnenbildner. Das war für ihn klar, seit er in der 3. Sek mit seiner Oerliker Schulklasse in der Zürcher Oper, Stadttheater damals noch, Giuseppe Verdis Simone Boccanegra sah. Doch als er sich nach Ausbildungsmöglichkeiten erkundigte, gab man ihm, dem mittellosen Handwerkersohn, abschlägigen Bescheid. Eine Kunstakademie wäre das Mindeste gewesen, was er hätte besuchen müssen. So musste er sich eine Künstlerkarriere aus dem Kopf schlagen, doch die Oper liess er sich nicht nehmen.
Bernhard Vogelsanger lernte im Warenhaus Globus Dekorateur und ging fleissig in Opernvorstellungen. Als dann das Stadttheater 1941 Zuzüger für einen Extrachor suchte, meldete er sich als Tenor und wurde aufgenommen. Das sei für ihn die glücklichste Zeit gewesen, gesteht er. Während draussen auf den Strassen Kriegsverdunkelung herrschte und manch einer nachts in einen unbeleuchteten Laternenpfahl rannte - auch Vogelsanger ereilte dieses Missgeschick -, herrschte drinnen auf der Bühne die scheinwerferhelle, glitzernde Welt von Macht und Schicksal. Er sang bei Tannhäuser, bei Carmina Burana und beim Zigeunerbaron mit.
Am meisten interessierten ihn die Ausstattungen. Er begann, angeregt durch seine Mitwirkung im Chor und seine Begegnung mit dem damaligen Bühnenbildner Roland Clemens, bei sich zu Hause alte Schuhschachteln zu sammeln und aus deren Karton Bühnenprospekte und Figuren auszuschneiden. So kam mit der Zeit ein ganzer Fundus von Säulengängen, Sternenhimmeln, Treppen, Kelchen, Drehbühnen und Schleiertänzerinnen zusammen.
Als er dann Ende der 40er Jahre zusammen mit seiner Mutter nach Schwamendingen umzog, bekam sein Hobby einen eigenen Raum. Die Wände legte er mit rotem Kreppapier aus, und in der Mitte zog er einen schwarzen Vorbau. Dahinter richtete er sich eine Bühne ganz nach seinen Bedürfnissen ein, einen Arbeitsplatz, wo er mit einer Hand den Plattenspieler bediente und mit der anderen Taschenlampen und Beleuchtungstableau, mit der dritten den Chor und mit der vierten die Solisten, mit der fünften weitere Auftritte in Stellung bringt, und mit der sechsten den Vorhang zieht.  
Ein gestelltes Bild aus Tosca, 1. Akt, denn Vogelsangers Figurenführung mit feinen Drähten bleibt dem Zuschauer normalerweise verborgen.
Dass dabei während einer langen Aufführung einmal eine Figur hängen bleibt und eine andere mitten im tragischsten Augenblick vielleicht etwas gar auffällig zuckelt, weil der ins Schwitzen geratene Operndirektor in der Hitze des Gefechts an die feinen Drähte stösst, ist nicht weiter verwunderlich. Man kann sagen, es gehöre zum Charme dieser Art von Theatererlebnis, bei welchem die Zuschauer nicht allein vom Verlauf der Handlung und von der Schönheit der Arien gerührt sind, sondern ebenso vom Einsatz dieses Mannes, der sich so ganz seiner Mini-Oper verschrieben und darin eine kaum zu überbietende Sachkenntnis und Meisterschaft erlangt hat.
Das Publikum von Vogelsangers Lucia di Lammermoor zum Beispiel kommt in den Genuss einer Aufführung, wie sie an anderen Häusern kaum mehr geboten wird. Wo noch wird die Turmszene überhaupt gespielt, in welcher sich Ashton und Edgar in einem bravourösen Duett ihre Feindschaft bestätigen? Nicht einmal auf jener Callas-Einspielung ist sie zu finden. Vogelsanger aber reicht sie mittels einer anderen Aufnahme aus seinen 4000 Schallplatten umfassenden Diskothek nach. Dort singen Giuseppe di Stefano und Roland Panorai

Von einigen Opern existieren bis zu sechs Bühnenfassungen. Dabei haben es moderne, nüchtern gehaltene Inszenierungen beim Publikum schwerer als konventionelle, reichhaltige Puppenstubenausstattungen, bei denen es Akt für Akt viel zu entdecken gibt. Für Bühnenbildner Vogelsanger bedeutet dies aber auch Mehrarbeit, denn jede Figur, jedes Möbelstück, jedes Pferd, jeder Kronleuchter und jede Tapete will schliesslich individuell angefertigt werden. Und da in der Wohnung extremer Platzmangel herrscht, müssen überdies zur raumsparenden Lagerung die Bühnenprospekte zusammenfaltbar sein.
Als Vogelsanger mit seiner Opernarbeit begann, existierten erst die 78er Schellack-Schallplatten. Da spielte er nur die Highlights, denn ganze Aufführungen mit zwanzig oder noch mehr Scherben waren einfach nicht zu leisten und zudem viel zu teuer für den Dekorateur. So sang er damals oft dazu, wenn er mit dem Wechseln der Platten nicht mehr nachkam, oder wenn es einzelne Szenen zu überbrücken galt. Seit dem Siegeszug der Langspielplatte jedoch sucht der Intendant die Einhaltung von Werktreue und Vollständigkeit, was für den unterhaltungssüchtigen Zuschauer ein erhebliches Mehr an Aufmerksamkeit und Ausdauer bedeutet. Doch die meisten wissen ja, was sie erwartet, es sind Habitués, die sich das exklusive Vergnügen leisten, auf Vogelsangers Adressliste zu figurieren und angerufen zu werden, wenn das Stück ihrer Wahl wieder einmal auf dem Spielplan steht.

Die Oper über das Schicksal von Bernhard Vogelsanger muss erst noch geschrieben werden. Vielleicht wird sie eine Art Rigoletto mit gutem Ausgang, die Geschichte eines kleinen Narren, der sich der grossen, menschenfressenden Welt entzog, und dessen Tochter, die Oper, entsprechend kleinwüchsig blieb und deshalb vom leichtlebigen Herzog von Mantua auch nicht begehrt wurde, mit allen wunderbaren Konsequenzen, die sich daraus ergeben, denn die Tochter bleibt am Leben, während sie beim tragischen Rigoletto umgebracht wird, versehentlich zwar, aber vom eigenen Vater.
Für den allfälligen Librettisten und Komponisten wichtig zu wissen ist der Umstand, dass auch Vogelsangers tägliches Leben ein erheblicher Inszenierungsgrad durchzieht. Er ist wohl der bunteste Vogel, der in der Migros Schwamendingen einkaufen geht: mit grellfarbenem Pink-Floyd-T-Shirt, mit ACDC-Lederjacke, Stiefeln, oder mit einem Jeans-Outfit, an welchem eine grosse Rolling-Stones-Zunge angenäht ist. Seine Hände schmückt er mit dicken Ringen. Und in seiner Plattensammlung fehlen keineswegs Elvis Presley, Rod Steward, Black Sabbath, überhaupt Heavy-Metal-Lärm.
Und wenn dann zwischen den einzelnen Akten Vogelsanger vor die Bühne tritt und seinen Gästen wort- und kenntnisreich die nächsten Szenen erklärt, so vermischen sich Opernstoff und Wirklichkeit vollends. In der Hauptrolle spielt Vogelsanger sich selbst, und er ist Lucia di Lammermoor und Rigoletto ebenso wie deren billig-kunstvollen Pappversionen, die auf dieser Minibühne herumzuckeln. Welch eine Summe von Rollen, welch eine Welt dort oben im zweiten Stock.« 

© Nikolaus Wyss

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Dienstag, 18. Juli 2017

Vom Drehen Mahlers im Grab


Wenn sich Gelegenheit ergibt, bin ich dankbarer Nutzer des hiesigen Konzert- und Theaterangebots. Kürzlich ging ich wieder einmal zusammen mit ein paar Freunden ins Teatro Colon, einem prächtigen Bau mitten in der Altstadt Bogotás, der in der Tradition klassischer Opernhäusern Italiens erbaut wurde. Das Gebäude wollte zum Zeitpunkt seiner Errichtung wohl sichtbar dokumentieren, dass Kolumbien kulturell der Alten Welt durchaus das Wasser reichen kann, und dass es sich, zumindest was die Innenausstattung angeht, mit dem viel berühmteren und grösseren Teatro Colon von Buenos Aires messen will.
Wir waren an der Premiere von Giuseppe Verdis Otello. Arme Desdemona. Das einzig Gute an ihrem Tod mochte sein, dass sie sich das Geschrei ihres eifersüchtigen Alten nicht mehr anhören musste. Manchmal befürchtete ich, sie bekomme einen Hörschaden, so laut brüllte der venezianische Mohr seine Klagen ins Publikum. Doch wenn sie gewusst hätte, dass Othello sich zum Schluss das Messer in die eigene Brust stösst, hätte sie eigentlich nicht zu sterben brauchen.
Sonst aber war die Produktion hochstehend und durchsetzt mit gutem internationalem Personal und mit einem ansprechenden, modernen Bühnenbild versehen. Ein durchaus gewinnbringender, erbaulicher Abend. Die besten Plätze kosteten gerade mal 70 Franken. Für hiesige Verhältnisse jedoch ein Vermögen.
Während in der Oper das kolumbianische Staatsorchester zum Zuge kam, feierte das andere Eliteorchester der Stadt, die Bogotá-Philharmonie, sein 50-jähriges Bestehen mit einem Konzertzyklus. Dazu gehörte auch eine Aufführung von Gustav Mahlers 3. Symphonie im ärmsten Süden der Stadt nachmittags um drei. Die schwere Kost wurde in einer auf zwei Seiten hin offenen Eventhalle in unmittelbarer Nähe zur Iglesia del Divino Niño Jesús del 20 de Julio serviert. Der Zutritt war zwar kostenlos, aber man bezahlte mit dem Akzeptieren von Einschränkungen, die sich aus diesem ungewöhnlichen Vorführungsort ergaben. Die Bewohner des Quartiers hörten wohl zum ersten Mal live solche Musik und tauschten sich während des Konzerts fleissig über nachbarschaftliche und familiäre Begebenheiten aus. Kinder krabbelten über die Bänke und schrien, wenn es ihnen danach war, was die Eltern schon gar nicht zu unterbinden versuchten. Und aus der benachbarten Kirche hörte man mikrofonverstärkte fromme Lieder, welche die leisen Stellen der Mahler-Komposition glatt übertönten. Dann tat mir der riesige Kinderchor leid, der weit über eine Stunde lang auf seinen kurzen Bim-Bam-Einsatz warten musste. Und ob der chilenische Mezzosopran schön klang, konnte ich beim besten Willen und auch mit spitzigsten Ohren nicht ausmachen.
Der Anlass berührte mich trotzdem zutiefst. Wahrscheinlich bin ich noch nie so bewegt aus einem Konzert gekommen. Die Musik allein kann es nicht gewesen sein. Doch vielleicht hat es etwas mit der Würde und dem Respekt zu tun, deren Gemengelage so einmalig zur Wirkung gelangte. Da war das zwangsläufig scheiternde Bemühen des Orchesters und seines Dirigenten, diese Musik einem nicht ausgewählten Publikum näherzubringen. Doch die Musiker hielten unbeirrt durch, was mir grössten Respekt abverlangte. Ich als Dirigent hätte schon längst abgeklopft. Die Aufführenden schienen es auf wundersame Weise Gustav Mahler, dem lieben Gott und dem lauschenden Publikum schuldig gewesen zu sein, den letzten, unhörbaren Ton auch noch zu spielen. Es gab unter den Zuhörenden aller Altersklassen etliche, die ebenso unbeirrt, ernsthaft und hoch konzentriert der Musik lauschten, soweit diese an ihr Ohr zu dringen vermochte. Und genau da erhob sie sich, diese heilige Mischung von Göttlichem, das sich in dieser geheimnisvollen Komposition von Gustav Mahler mit dem irdischen Leid in Verbindung zu setzen versucht, und es gelang an diesem Nachmittag, wonach sich Mahler unter Verwendung seiner kompositorischen Mittel wohl ein Leben lang sehnte. «[...] Die Welt ist tief / Und tiefer, als der Tag gedacht. / Tief ist ihr Weh –, / Lust – tiefer noch als Herzeleid: / Weh spricht: Vergeh! / Doch alle Lust will Ewigkeit –, / – will tiefe, tiefe Ewigkeit.» – Und der Kinderchor bittet später Jesus um Erbarmen, weil er die zehn Gebote gebrochen hat, worauf Jesus ihm empfiehlt, Reue zu üben und zu Gott zu beten. Ja, Mahlers Biograf Paul Stefan bemerkte dazu, dass bei Mahler das «Erlebnis des Weltalls auf der Strasse beginnt und im Unendlichen endet».
Als ich später ins Taxi einstieg, wusste ich einen Augenblick lang meine Adresse nicht mehr.




©Nikolaus Wyss









© Nikolaus Wyss

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