Dienstag, 26. Juni 2018

Rigoletto im Puppenhaus

Bernhard Vogelsanger (1920-1995)
(alle Bilder von Emanuel Ammon, kopiert aus dem Magazin des Tages-Anzeigers)

Mein Text über den Schwamendinger Opernhausdirektor Bernhard Vogelsanger erschien erstmals am 26./27. August 1988 im Magazin des Tages-Anzeigers. Damals lebte Vogelsanger noch und erlebte mit dieser Publikation eine gewisse Berühmtheit, die ihn etwas überforderte. Zu viele Besucherinnen und Besucher wollten jetzt seine Inszenierungen sehen, dabei dachte er altershalber schon darüber nach, seine Aufführungen einzustellen. - Gegenwärtig findet in der Galerie Tenne in Zürich-Schwamendingen eine Ausstellung über Vogelsangers kunstvoll-wunderliche Opernwelt statt. Aus diesem Anlass und in Erinnerung an diesen speziellen Menschen publiziere ich hier nochmals den Text von damals.  

»Zur Sicherung des Familienbesitzstandes soll die Schwester des machthungrigen Lord Henry Ashton, Lucia di Lammermoor, eine Zweckheirat mit dem einflussreichen Lord Arthur eingehen. Doch diese liebt Edgar von Rawenswood, ausgerechnet den ärgsten Feind ihres Bruders, worauf letzterer sich gezwungen sieht, intrigantisch einen Keil zwischen die Liebenden zu treiben, was ihm auch vorzüglich gelingt, denn enttäuscht wendet sich jetzt Edgar ab, worauf es zur vom Bruder geplanten Hochzeit kommt. Diese endet jedoch im Blutbad, denn Lucia bringt in ihrem Schmerz den ungeliebten Bräutigam um und endet selber mit einer herrlichen Arie im Wahnsinn.
In Bernhard Vogelsangers Inszenierung der berühmten Donizetti-Oper in 3 Akten singt Maria Callas in einer Aufnahme aus dem Jahre 1955 die Lucia di Lammermoor. Die Schallplatten haben schon etwas Staub angesetzt, und der Plattenspieler ist ein Grammophon. Doch was will man sagen: Der Eintritt ins wohl kleinste Opernhaus der Welt ist gratis. Es befindet sich im zweiten Stock eines Hauses in Zürich-Schwamendingen. Im Kinderzimmer einer engen Genossenschaftswohnung wird seit 40 Jahren Saison für Saison an Samstagen fast das gesamte Repertoire der klassischen Oper und Operette gespielt. Das Theater weist acht Sitzplätze auf, die Bühne ist so gross wie eine Schuhschachtel, und in den Pausen werden Wein, Mineralwasser und gestrichene Brötchen serviert.
Die grössten Dramen von Liebe, Leidenschaften und Tod finden hier ihren miniaturisierten Ausdruck in sieben Zentimeter grossen, liebevoll bemalten, gelenkigen Pappfiguren, die Vogelsanger, diesmal in der Funktion eines Bühnenmeisters, an feinen Drähten über die Bühne führt. Alle Stürme, Kriege, Ängste, Sehn- und Eifersüchte, alle Mörder, Liebenden, Nebenbuhler, Kammerdiener und Götter sind so weit auf Guckkastenformat reduziert, dass sie für einen einzigen Mann beherrschbar werden. Eigentlich wäre er gern zur richtigen Oper gegangen, in diesen extrem arbeitsteiligen Betrieb, in welchem er zur Schaffung eines Gesamtkunstwerkes sowohl Trompeter, Geiger und Dirigenten als auch Sänger, Statisten und Beleuchter, sowohl Garderobieren als auch Regisseure braucht. Er sah sich darin als Bühnenbildner. Das war für ihn klar, seit er in der 3. Sek mit seiner Oerliker Schulklasse in der Zürcher Oper, Stadttheater damals noch, Giuseppe Verdis Simone Boccanegra sah. Doch als er sich nach Ausbildungsmöglichkeiten erkundigte, gab man ihm, dem mittellosen Handwerkersohn, abschlägigen Bescheid. Eine Kunstakademie wäre das Mindeste gewesen, was er hätte besuchen müssen. So musste er sich eine Künstlerkarriere aus dem Kopf schlagen, doch die Oper liess er sich nicht nehmen.
Bernhard Vogelsanger lernte im Warenhaus Globus Dekorateur und ging fleissig in Opernvorstellungen. Als dann das Stadttheater 1941 Zuzüger für einen Extrachor suchte, meldete er sich als Tenor und wurde aufgenommen. Das sei für ihn die glücklichste Zeit gewesen, gesteht er. Während draussen auf den Strassen Kriegsverdunkelung herrschte und manch einer nachts in einen unbeleuchteten Laternenpfahl rannte - auch Vogelsanger ereilte dieses Missgeschick -, herrschte drinnen auf der Bühne die scheinwerferhelle, glitzernde Welt von Macht und Schicksal. Er sang bei Tannhäuser, bei Carmina Burana und beim Zigeunerbaron mit.
Am meisten interessierten ihn die Ausstattungen. Er begann, angeregt durch seine Mitwirkung im Chor und seine Begegnung mit dem damaligen Bühnenbildner Roland Clemens, bei sich zu Hause alte Schuhschachteln zu sammeln und aus deren Karton Bühnenprospekte und Figuren auszuschneiden. So kam mit der Zeit ein ganzer Fundus von Säulengängen, Sternenhimmeln, Treppen, Kelchen, Drehbühnen und Schleiertänzerinnen zusammen.
Als er dann Ende der 40er Jahre zusammen mit seiner Mutter nach Schwamendingen umzog, bekam sein Hobby einen eigenen Raum. Die Wände legte er mit rotem Kreppapier aus, und in der Mitte zog er einen schwarzen Vorbau. Dahinter richtete er sich eine Bühne ganz nach seinen Bedürfnissen ein, einen Arbeitsplatz, wo er mit einer Hand den Plattenspieler bediente und mit der anderen Taschenlampen und Beleuchtungstableau, mit der dritten den Chor und mit der vierten die Solisten, mit der fünften weitere Auftritte in Stellung bringt, und mit der sechsten den Vorhang zieht.  
Ein gestelltes Bild aus Tosca, 1. Akt, denn Vogelsangers Figurenführung mit feinen Drähten bleibt dem Zuschauer normalerweise verborgen.
Dass dabei während einer langen Aufführung einmal eine Figur hängen bleibt und eine andere mitten im tragischsten Augenblick vielleicht etwas gar auffällig zuckelt, weil der ins Schwitzen geratene Operndirektor in der Hitze des Gefechts an die feinen Drähte stösst, ist nicht weiter verwunderlich. Man kann sagen, es gehöre zum Charme dieser Art von Theatererlebnis, bei welchem die Zuschauer nicht allein vom Verlauf der Handlung und von der Schönheit der Arien gerührt sind, sondern ebenso vom Einsatz dieses Mannes, der sich so ganz seiner Mini-Oper verschrieben und darin eine kaum zu überbietende Sachkenntnis und Meisterschaft erlangt hat.
Das Publikum von Vogelsangers Lucia di Lammermoor zum Beispiel kommt in den Genuss einer Aufführung, wie sie an anderen Häusern kaum mehr geboten wird. Wo noch wird die Turmszene überhaupt gespielt, in welcher sich Ashton und Edgar in einem bravourösen Duett ihre Feindschaft bestätigen? Nicht einmal auf jener Callas-Einspielung ist sie zu finden. Vogelsanger aber reicht sie mittels einer anderen Aufnahme aus seinen 4000 Schallplatten umfassenden Diskothek nach. Dort singen Giuseppe di Stefano und Roland Panorai

Von einigen Opern existieren bis zu sechs Bühnenfassungen. Dabei haben es moderne, nüchtern gehaltene Inszenierungen beim Publikum schwerer als konventionelle, reichhaltige Puppenstubenausstattungen, bei denen es Akt für Akt viel zu entdecken gibt. Für Bühnenbildner Vogelsanger bedeutet dies aber auch Mehrarbeit, denn jede Figur, jedes Möbelstück, jedes Pferd, jeder Kronleuchter und jede Tapete will schliesslich individuell angefertigt werden. Und da in der Wohnung extremer Platzmangel herrscht, müssen überdies zur raumsparenden Lagerung die Bühnenprospekte zusammenfaltbar sein.
Als Vogelsanger mit seiner Opernarbeit begann, existierten erst die 78er Schellack-Schallplatten. Da spielte er nur die Highlights, denn ganze Aufführungen mit zwanzig oder noch mehr Scherben waren einfach nicht zu leisten und zudem viel zu teuer für den Dekorateur. So sang er damals oft dazu, wenn er mit dem Wechseln der Platten nicht mehr nachkam, oder wenn es einzelne Szenen zu überbrücken galt. Seit dem Siegeszug der Langspielplatte jedoch sucht der Intendant die Einhaltung von Werktreue und Vollständigkeit, was für den unterhaltungssüchtigen Zuschauer ein erhebliches Mehr an Aufmerksamkeit und Ausdauer bedeutet. Doch die meisten wissen ja, was sie erwartet, es sind Habitués, die sich das exklusive Vergnügen leisten, auf Vogelsangers Adressliste zu figurieren und angerufen zu werden, wenn das Stück ihrer Wahl wieder einmal auf dem Spielplan steht.

Die Oper über das Schicksal von Bernhard Vogelsanger muss erst noch geschrieben werden. Vielleicht wird sie eine Art Rigoletto mit gutem Ausgang, die Geschichte eines kleinen Narren, der sich der grossen, menschenfressenden Welt entzog, und dessen Tochter, die Oper, entsprechend kleinwüchsig blieb und deshalb vom leichtlebigen Herzog von Mantua auch nicht begehrt wurde, mit allen wunderbaren Konsequenzen, die sich daraus ergeben, denn die Tochter bleibt am Leben, während sie beim tragischen Rigoletto umgebracht wird, versehentlich zwar, aber vom eigenen Vater.
Für den allfälligen Librettisten und Komponisten wichtig zu wissen ist der Umstand, dass auch Vogelsangers tägliches Leben ein erheblicher Inszenierungsgrad durchzieht. Er ist wohl der bunteste Vogel, der in der Migros Schwamendingen einkaufen geht: mit grellfarbenem Pink-Floyd-T-Shirt, mit ACDC-Lederjacke, Stiefeln, oder mit einem Jeans-Outfit, an welchem eine grosse Rolling-Stones-Zunge angenäht ist. Seine Hände schmückt er mit dicken Ringen. Und in seiner Plattensammlung fehlen keineswegs Elvis Presley, Rod Steward, Black Sabbath, überhaupt Heavy-Metal-Lärm.
Und wenn dann zwischen den einzelnen Akten Vogelsanger vor die Bühne tritt und seinen Gästen wort- und kenntnisreich die nächsten Szenen erklärt, so vermischen sich Opernstoff und Wirklichkeit vollends. In der Hauptrolle spielt Vogelsanger sich selbst, und er ist Lucia di Lammermoor und Rigoletto ebenso wie deren billig-kunstvollen Pappversionen, die auf dieser Minibühne herumzuckeln. Welch eine Summe von Rollen, welch eine Welt dort oben im zweiten Stock.« 

© Nikolaus Wyss

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Freitag, 15. Juni 2018

Vater lebt

Rechtsanwalt Dr. Emil Bösch

Heute, am 15. Juni 2018, bekomme ich eine E-Mail mit obiger Fotografie meines Vaters. Absenderin ist A., die Tochter der ehemaligen Lebenspartnerin meines Vaters. Sie wohnt auf der griechischen Insel Hydra, dort, wo mein Vater seinen Lebensabend verbracht hatte und wo wohl auch diese Aufnahme entstanden ist. Ich kannte sie bislang nicht.
Wieso bekomme ich ausgerechnet heute diese Post?, fragte ich mich und erhoffte mir aus den wenigen Einträgen zu meinem Vater auf Wikipedia neue Erkenntnisse. Und wirklich. Da stand, dass heute sein Todestag sei. Jawohl, jetzt erinnere ich mich. Er war am 15. Juni 1992 gestorben.
Umgehend schrieb ich zurück und dankte A. Es sei doch schön, dass sie daran gedacht habe, worauf sie mir zurückschrieb:
Du, ich hatte keine Ahnung, wann Emil gestorben ist.
Habe einfach heute besonders an ihn gedacht.
Das ist kein Zufall! Energien! Unglaublich!
Vater lebt also, macht sich vom Himmel her bemerkbar und hält A. für das richtige Medium, mir an diesem speziellen Tag einen Gruss zukommen zu lassen. Gerne grüsse ich zurück. Es ist der Moment, seiner zu gedenken.
Als er starb, hatte ich weder Anrecht noch Lust, mir aus seinem Nachlass etwas mitzunehmen. Ich war schliesslich ein illegitimes Kind, wie so ein Wesen nach altem Familienrecht genannt wurde, und deshalb nicht erbberechtigt. Ich kam in seinem Testament auch nicht vor. Mich beschäftigte dies in meinen eigenen Verstrickungen nicht weiter. Einzig seinen Ring, den man auf dem Bild deutlich sieht, den hätte ich als Andenken gerne gehabt. Da war aber seine Lebenspartnerin B., die sich in seinen letzten Lebensjahren in aufopfernder und rührender Weise um ihn gekümmert hatte. Tag und Nacht. Und als ich sah, dass sie nach Vaters Tod diesen Ring an ihrer Hand trug, hielt ich dies für durchaus angemessen.
20 Jahre später besuchte ich B., die weiterhin in Griechenland lebte. Sie war mittlerweile 90, und ich dachte insgeheim, es sei wohl das letzte Mal, dass wir uns sehen würden. Wir verbrachten schöne Momente zusammen und tauschten viele Erinnerungen an meinen Vater aus. Sie erzählte Begebenheiten über ihn, die ich nicht wissen konnte, und ich freute mich, zusammen mit ihr ein wohlwollendes, liebenswertes und von Dankbarkeit geprägtes Bild meines Vaters zu zeichnen.
Beim Tee schliesslich beobachtete sie mich, wie ich einem billigen Plastikdöschen aus dem Warenhaus meine Herzpillen entnahm. Da erhob sie sich und ging ins Hinterzimmer, um nach einigen Augenblicken mit einem schönen Silberdöschen zurückzukommen, auf dem die schwungvollen Lettern E. B. eingraviert waren, die Initialen meines Vaters. Sie schenkte es mir, worauf ich in Tränen ausbrach. Als sie sah, wie sehr mich dieses unverhoffte Geschenk berührte, erhob sie sich noch einmal und kam wenig später mit dem Ring zurück, den sie mir ebenfalls übergab. Die Erschütterung, die dies bei mir auslöste, führte mir deutlich vor Augen, welche Bedeutung mein Vater in der ganzen Zeit seiner Abwesenheit, über seinen Tod hinaus, für mich hatte.
Der Ring übrigens zeigt auf dem erhöhten Feld in der Mitte ein Tier mit abgewandtem, erhobenem Kopf, das beobachtend in die Ferne guckt. Es könnte ein Hund sein oder eine Löwin. Dort ist auch der vollständige Name meines Vaters eingraviert: Emil Nikolaus Bösch. Seitwärts, als Band rund herum, kann man einen Satz des Zürcher Reformators Huldrych Zwingli entziffern: Nit fürchten ist der Harnisch.
In der Zwischenzeit ist Vaters Lebenspartnerin B. gestorben. Ich aber trage den Ring mit Stolz und Freude und erinnere mich gerne, gerade am heutigen Tag, an meinen Vater zurück.

© Nikolaus Wyss

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Samstag, 2. Juni 2018

Die Mutter als Leiche

Mit meiner Mutter Laure Wyss 1997
Am Nachmittag des 21. Augusts 2002 hatte ich einen Termin in Bern. Als Veranstalter eines internationalen Kongresses von Kunsthochschulen in Luzern fehlten mir noch 50 000 Franken, und ich erhoffte mir von einem Vorsprechen beim Bundesamt für Kultur (BAK) Unterstützung.
Zu jener Zeit hatte ich die Angewohnheit, mit dem Fahrrad in den Zug zu steigen und vom Bahnhof des Ankunftsortes aus bis zu meinem Ziel weiterzuradeln. So konnte ich, wenn man mich beispielsweise in Basel oder Genf oder Lugano fragte, mit was ich gekommen sei, stolz antworten: Mit dem Fahrrad, was regelmässig ungläubiges Staunen auslöste. Am Mittag des fraglichen Tages stieg ich am Bahnhof von Luzern vom Velo, um mir vor der Abfahrt in der Unterführung beim Bachmann noch ein Sandwich zu erstehen. Da vibrierte mein Handy. Claudia Bissig war am Apparat. Sie teilte mir so schonungsvoll wie möglich mit, dass meine Mutter soeben friedlich eingeschlafen sei. Die Ärztin sollte später einmal sagen, es sei ein schöner Tod gewesen. Claudia jedenfalls hatte sich in den vergangenen Wochen, zusammen mit ein paar weiteren selbstlosen Frauen, in berührender Weise um meine hinfällig gewordene Mutter gekümmert. Seit fünf Tagen lag sie im Koma. Mit ihrem Ableben mussten wir rechnen.
Blitzschnell hatte ich mich zu entscheiden, ob ich den Termin in Bern absagen und stattdessen nach Zürich zur Bettstatt meiner Mutter eilen sollte. Ich entschied mich für Bern und versprach am Telefon, zum Abend hin nach Zürich zu kommen.
Mit aufgesplitterten Gedanken sass ich im Zug. Ich ging noch einmal alle Notizen und Argumente durch, um beim Bundesamt eine gute Figur zu machen, und gleichzeitig beobachtete ich mich während der ganzen Fahrt, ob und in welcher Weise mich die Nachricht vom Hinschied meiner Mutter berühren würde. Doch ich konnte beim besten Willen keine Erschütterung feststellen. Ich wunderte mich, dass mir die professionelle Attitüde so leichtfiel, ja, ich war sogar ein bisschen stolz darauf. Auch bei der Begegnung mit David Streiff, dem damaligen Direktor des BAK, liess ich mir nichts anmerken und staunte, wie sachlich ich diese Begegnung meisterte. Der Aussicht auf den finanziellen Zustupf eines meiner Prestigeprojekte mass ich offenbar grössere Bedeutung bei als dem schon lange erwarteten Tod meiner Mutter, dessen emotionale Verarbeitung sich irgendwann schon noch einstellen würde. Einziges Tribut an den speziellen Tag: Als ich am späten Nachmittag nach Zürich reiste, liess ich mein Fahrrad in Bern stehen.
Die Wohnung an der Winkelwiese 6, wo meine Mutter die letzten 50 Jahre gelebt hatte, strahlte Ruhe und Frieden aus. Claudia und ein paar weitere Frauen warteten auf mich. Sie liessen mich alleine mit meiner Mutter. Sie lag schön gekleidet und hergerichtet da. Mit einem Tuch ums Kinn. Frische Blumen waren aufgestellt, Kerzen brannten, sanfte Musik spielte.
Streichelte ich sie noch? Sagte ich etwas zu ihr? Ich erinnere mich nur, dass sie schon erkaltet war. Beim Verlassen des Sterbezimmers stellte ich mich ernst und besonnen und meinte damit, mich so zu verhalten, wie man sich verhält, wenn einem gerade die Mutter weggestorben ist. An Weiteres vermag ich mich gar nicht mehr zu erinnern. Wahrscheinlich besprach ich mit den Frauen noch, wie es weitergehen soll, und bedankte mich für alles, was sie für meine Mutter und für mich getan hatten. Ich stellte ein Essen in der Kronenhalle in Aussicht, wo sich meine Mutter bei besonderen Gelegenheiten einen Matjeshering an einer Crème fraîche gönnte. Begleitete ich sie, rundeten wir jeweils die Mahlzeit noch mit einer halben Portion Mousse au chocolat ab. Dann orientierte ich mit ein paar Anrufen die nähere Verwandtschaft und den Verlag meiner Mutter, der tags darauf ein Communiqué veröffentlichte, was in der Presse, bei Radio und Fernsehen eine Welle von Nachrufen auslöste.
Am darauffolgenden Tag nahm ich frei und war rechtzeitig zur Stelle, um im Stadthaus vorzusprechen, wo es um die Wahrnehmung behördlicher Vorgaben und um Bestattungsvorbereitungen ging. Dann trafen sich Verwandte und ein paar der pflegenden Freundinnen in Mutters Wohnung. Der Leichenwagen kam, und die schwarz gekleideten Beamten sargten meine Mutter ein. Ich wurde von der erfahrenen Claudia vorgewarnt, der Abtransport der Leiche könne heftige Gefühle auslösen. So war es dann auch. Ich heulte los wie ein Schlosshund. Es war ein untröstlicher Augenblick.
Einen Tag später rief Adolf Muschg an und fragte, wo meine Mutter aufgebahrt sei. Er wolle sich von ihr noch verabschieden. Das rührte mich. Ich selbst beabsichtigte nicht, sie im heruntergekühlten Aufbahrungsraum des Krematoriums noch einmal zu besuchen. Rechnete Muschg damit, für die Abdankung im Grossmünster als Redner angefragt zu werden? Sein Nachruf, den er in der WochenZeitung in der darauffolgenden Woche veröffentlichte, erinnert in der Tonalität jedenfalls an eine Rede, die einer Verabschiedung in einer der drei wichtigsten Kirchen von Zürich gut angestanden wäre.

Später einmal, beim Aufräumen, kamen mir die letzten Verfügungen meiner Mutter in die Hände. Da meinte ich doch, alles korrekt und im Sinne der Verstorbenen an die Hand genommen zu haben – zum Beispiel keine Orgelmusik bei der Abdankung –, und jetzt las ich da: Keine Besuche im Aufbahrungsraum des Krematoriums. Es war ein Moment, in dem ich darüber sinnierte, ob meine Mutter vielleicht doch noch unter uns weilen und sich jetzt grässlich aufregen könnte, weil ich Muschg die Erlaubnis erteilt hatte, sie dort zu besuchen. Ich schämte mich sehr, nicht allen ihren Anweisungen Folge geleistet zu haben.

© Nikolaus Wyss

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