Samstag, 2. Juni 2018

Die Mutter als Leiche

Mit meiner Mutter Laure Wyss 1997
Am Nachmittag des 21. Augusts 2002 hatte ich einen Termin in Bern. Als Veranstalter eines internationalen Kongresses von Kunsthochschulen in Luzern fehlten mir noch 50 000 Franken, und ich erhoffte mir von einem Vorsprechen beim Bundesamt für Kultur (BAK) Unterstützung.
Zu jener Zeit hatte ich die Angewohnheit, mit dem Fahrrad in den Zug zu steigen und vom Bahnhof des Ankunftsortes aus bis zu meinem Ziel weiterzuradeln. So konnte ich, wenn man mich beispielsweise in Basel oder Genf oder Lugano fragte, mit was ich gekommen sei, stolz antworten: Mit dem Fahrrad, was regelmässig ungläubiges Staunen auslöste. Am Mittag des fraglichen Tages stieg ich am Bahnhof von Luzern vom Velo, um mir vor der Abfahrt in der Unterführung beim Bachmann noch ein Sandwich zu erstehen. Da vibrierte mein Handy. Claudia Bissig war am Apparat. Sie teilte mir so schonungsvoll wie möglich mit, dass meine Mutter soeben friedlich eingeschlafen sei. Die Ärztin sollte später einmal sagen, es sei ein schöner Tod gewesen. Claudia jedenfalls hatte sich in den vergangenen Wochen, zusammen mit ein paar weiteren selbstlosen Frauen, in berührender Weise um meine hinfällig gewordene Mutter gekümmert. Seit fünf Tagen lag sie im Koma. Mit ihrem Ableben mussten wir rechnen.
Blitzschnell hatte ich mich zu entscheiden, ob ich den Termin in Bern absagen und stattdessen nach Zürich zur Bettstatt meiner Mutter eilen sollte. Ich entschied mich für Bern und versprach am Telefon, zum Abend hin nach Zürich zu kommen.
Mit aufgesplitterten Gedanken sass ich im Zug. Ich ging noch einmal alle Notizen und Argumente durch, um beim Bundesamt eine gute Figur zu machen, und gleichzeitig beobachtete ich mich während der ganzen Fahrt, ob und in welcher Weise mich die Nachricht vom Hinschied meiner Mutter berühren würde. Doch ich konnte beim besten Willen keine Erschütterung feststellen. Ich wunderte mich, dass mir die professionelle Attitüde so leichtfiel, ja, ich war sogar ein bisschen stolz darauf. Auch bei der Begegnung mit David Streiff, dem damaligen Direktor des BAK, liess ich mir nichts anmerken und staunte, wie sachlich ich diese Begegnung meisterte. Der Aussicht auf den finanziellen Zustupf eines meiner Prestigeprojekte mass ich offenbar grössere Bedeutung bei als dem schon lange erwarteten Tod meiner Mutter, dessen emotionale Verarbeitung sich irgendwann schon noch einstellen würde. Einziges Tribut an den speziellen Tag: Als ich am späten Nachmittag nach Zürich reiste, liess ich mein Fahrrad in Bern stehen.
Die Wohnung an der Winkelwiese 6, wo meine Mutter die letzten 50 Jahre gelebt hatte, strahlte Ruhe und Frieden aus. Claudia und ein paar weitere Frauen warteten auf mich. Sie liessen mich alleine mit meiner Mutter. Sie lag schön gekleidet und hergerichtet da. Mit einem Tuch ums Kinn. Frische Blumen waren aufgestellt, Kerzen brannten, sanfte Musik spielte.
Streichelte ich sie noch? Sagte ich etwas zu ihr? Ich erinnere mich nur, dass sie schon erkaltet war. Beim Verlassen des Sterbezimmers stellte ich mich ernst und besonnen und meinte damit, mich so zu verhalten, wie man sich verhält, wenn einem gerade die Mutter weggestorben ist. An Weiteres vermag ich mich gar nicht mehr zu erinnern. Wahrscheinlich besprach ich mit den Frauen noch, wie es weitergehen soll, und bedankte mich für alles, was sie für meine Mutter und für mich getan hatten. Ich stellte ein Essen in der Kronenhalle in Aussicht, wo sich meine Mutter bei besonderen Gelegenheiten einen Matjeshering an einer Crème fraîche gönnte. Begleitete ich sie, rundeten wir jeweils die Mahlzeit noch mit einer halben Portion Mousse au chocolat ab. Dann orientierte ich mit ein paar Anrufen die nähere Verwandtschaft und den Verlag meiner Mutter, der tags darauf ein Communiqué veröffentlichte, was in der Presse, bei Radio und Fernsehen eine Welle von Nachrufen auslöste.
Am darauffolgenden Tag nahm ich frei und war rechtzeitig zur Stelle, um im Stadthaus vorzusprechen, wo es um die Wahrnehmung behördlicher Vorgaben und um Bestattungsvorbereitungen ging. Dann trafen sich Verwandte und ein paar der pflegenden Freundinnen in Mutters Wohnung. Der Leichenwagen kam, und die schwarz gekleideten Beamten sargten meine Mutter ein. Ich wurde von der erfahrenen Claudia vorgewarnt, der Abtransport der Leiche könne heftige Gefühle auslösen. So war es dann auch. Ich heulte los wie ein Schlosshund. Es war ein untröstlicher Augenblick.
Einen Tag später rief Adolf Muschg an und fragte, wo meine Mutter aufgebahrt sei. Er wolle sich von ihr noch verabschieden. Das rührte mich. Ich selbst beabsichtigte nicht, sie im heruntergekühlten Aufbahrungsraum des Krematoriums noch einmal zu besuchen. Rechnete Muschg damit, für die Abdankung im Grossmünster als Redner angefragt zu werden? Sein Nachruf, den er in der WochenZeitung in der darauffolgenden Woche veröffentlichte, erinnert in der Tonalität jedenfalls an eine Rede, die einer Verabschiedung in einer der drei wichtigsten Kirchen von Zürich gut angestanden wäre.

Später einmal, beim Aufräumen, kamen mir die letzten Verfügungen meiner Mutter in die Hände. Da meinte ich doch, alles korrekt und im Sinne der Verstorbenen an die Hand genommen zu haben – zum Beispiel keine Orgelmusik bei der Abdankung –, und jetzt las ich da: Keine Besuche im Aufbahrungsraum des Krematoriums. Es war ein Moment, in dem ich darüber sinnierte, ob meine Mutter vielleicht doch noch unter uns weilen und sich jetzt grässlich aufregen könnte, weil ich Muschg die Erlaubnis erteilt hatte, sie dort zu besuchen. Ich schämte mich sehr, nicht allen ihren Anweisungen Folge geleistet zu haben.

© Nikolaus Wyss

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1 Kommentar:

Nikolaus Wyss hat gesagt…

Soeben bekam ich ein Feedback auf diesen Text von meiner lieben Cousine Elisabeth Kästli Conrad, welche mich in jenen Tagen hingebungsvoll unterstützte. Sie schrieb: «... Der Abtransport der Leiche war tatsächlich ein harter Moment für dich und in anderer Weise auch für uns, und ich erinnere mich, dass du darauf sagtest: „Jetz bruuche mr e Schnaps“ (oder so ähnlich), und dass wir dann einen tröstlichen Cognac oder eine andere edle Alkoholika tranken, was tatsächlich gut tat. Und die Bestattungsvorbereitung im Stadthaus, zu der ich dich begleitete, war Vetter-Nikolaus-gemäss nicht einfach traurig oder formell kühl, sondern auch von einer gewissen, gewollten Komik, wie du zum Beispiel darauf hingewiesen hast, dass Laure im edlen Christa-de-Carouge-Kleid eingeäschert werde.»