Freitag, 19. Mai 2023

"Geht nicht. Ich bin dann schon weg"


    Dieses kleine Porträt schreibe ich von einem seitlichen Blickwinkel aus. Nicht von vorn und auch nicht von oben oder von unten, und auch nicht von ganz nah. Sondern eben von der Seite - aus einer gewissen Distanz. Denn die Person, um die es sich hier handelt, war nicht mit mir, sondern mit meiner besten Freundin, einer Fotografin, befreundet. Ich stiess einfach manchmal und zufällig dazu, wenn sich die beiden im Nachbarhaus trafen. So lernte ich sie kennen. Eine distanzierte Frau, die sich abwendend auf die Wange küssen liess. Sie hätte wohl niemals zugegeben, der Liebe oder Zuneigung zu bedürfen. Im Gegenteil. Doch ihr abweisendes Gehabe schien mir eine andere Geschichte zu erzählen, nämlich die einer verletzlichen Frau, die vermutlich gern einen Partner gehabt hätte. Vielleicht hatte sie ab und zu auch einen. Doch irgendwie schien es auf die Dauer nie ganz zu klappen. Ich fragte mich, ob sich die Partner von ihr wegen ihres reservierten Verhaltens abwendeten, oder ob ihr reserviertes Verhalten das Resultat einiger Enttäuschungen war. Sie trug ihre Verletzlichkeit in der Gestalt eines Harnischs vor sich her. Diese Frau, sie hiess Huguette, Huguette Maier, gab mir stets das Gefühl, es sei schon eine zuvorkommende Geste, von ihr überhaupt wahrgenommen zu werden. Und es war ein unschätzbares Geschenk, nicht nur als Störfaktor zu gelten.

    Sie war eine erfolgreiche Geschäftsfrau und vertrat für Europa und die Schweiz vornehme, internationale Marken der Kosmetikbranche. Vermutlich war sie eine strenge Chefin. Sie hielt sich öfters in New York City und in Tokio auf, flog Business Class und lud manchmal meine beste Freundin ein, sie zu begleiten, um für sie ein paar Aufnahmen von Schaufensterdisplays ihrer Kosmetika zu machen. Ein heikles Unterfangen wegen der Spiegelung von der Strasse her. Ich glaube aber, das Hauptmotiv für Huguette war eher, etwas Gesellschaft zu haben auf ihren Reisen und jemanden, den sie auch ein bisschen herumdirigieren konnte. Meine beste Freundin jedenfalls kam nach jeder Reise erschöpft nach Hause und schwor sich, nie mehr mit Huguette zu reisen - bis zum nächsten Mal. 

    Huguette kaufte sich einen Steinway-Flügel. Ich weiss nicht einmal, ob sie überhaupt Klavier spielen konnte. Ich kannte damals ihr Zuhause nicht.  Doch der Flügel passte zu ihrem angestrebten Status und verlieh ihr einen kulturellen Touch. Ich kannte lediglich ihr Auto. Abweichend von ihrer gesellschaftlichen Stellung als business woman fuhr sie einen Subaru. Sie wechselte erst zu einem Golf GTI, als Skirennfahrer Bernhard Russi begann, in vielen Werbekampagnen den geländegängigen Subaru Bergbauern und kinderreichen Familien schmackhaft zu machen.

    Huguette feierte regelmässig Weihnachten bei der sechsköpfigen Familie meiner besten Freundin, wo noch andere Heimatlose während der Festtage Aufnahme fanden, wie ich zum Beispiel, oder Verena. In all den Jahren kam ich Huguette aber nicht näher. Wir waren stets freundlich distanziert, beschenkten uns nicht, ganz im Gegensatz zu Verena, die für jeden mindestens zwei Gschänkli bereithielt, was jeweils zu einem etwas peinlichen Ungleichgewicht beim Bescherungsakt führte. 

    Und plötzlich liess mich meine beste Freundin wissen, dass Huguette an Brustkrebs erkrankt sei und sich einer schmerzhaften und entbehrungsreichen Behandlung unterziehen müsse. Als ich sie Monate später wieder im Nachbarhaus antraf, sah sie abgemagert aus und trug eine Perücke. Sie sei noch einmal davongekommen, sagte sie. Doch ein zweites Mal würde sie sich einer solchen Tortur nicht mehr unterziehen. Ihr Entschluss war klar, der Rahmen fürs Weiterleben abgesteckt. Würde sie je wieder an diesem Krebs erkranken, fasste sie ihren Entschluss in Worte, so werde sie sich dem Übel beugen und mit Exit aus dem Leben scheiden. 

    Jetzt baute sie sich ein eigenes Geschäft auf, ein kleines, überschaubares. Sie wollte nun ihr eigener Boss sein und nicht mehr abhängig von den Direktiven der Zentralen grosser Konzerne. Sie wollte die verbleibende Zeit so einteilen, dass sich bei ihr nicht zu viel Stress ansammeln konnte. An Erspartem mangelte es ihr nicht. Sie gründete eine Fachzeitschrift namens Inspiration, die sich an Ladenbesitzer und Dekorateure richtete und Themen wie Schaufenstergestaltung und Ladeneinrichtungen behandelte. Damit war eine kleine Öffnung mir gegenüber verbunden. Sie nahm mich jetzt als Fachmann wahr, als Journalist und Zeitschriftenverleger, Tätigkeiten, die ich früher einmal, ganz zu Anfang meiner beruflichen Laufbahn, ausgeübt hatte. Es mutete mich seltsam an, nach so vielen Jahren anderer Beschäftigungen darauf angesprochen zu werden, zumal ich zum Inhalt ihrer Publikation keinen Bezug hatte. Doch ich wertete es als Erfolg, von Huguette ab jetzt nicht nur als geduldeten Nachbar unserer gemeinsamen Freundin, sondern als jemand, mit dem man sich fachlich unterhalten konnte, wahrgenommen zu werden. 

    So flossen die Jahre dahin, bis plötzlich meine beste Freundin selber schwer erkrankte. Huguette hatte sofort eine Meinung dazu und liess alle wissen, dass wohl ein medizinischer Kunstfehler bei einem Eingriff, den sie vornehmen musste, daran schuld sei. Sie verbreitete ihre Ansicht in Sammelemails an ihren grossen Bekanntenkreis. Ich weiss nicht, ob sie damit eine Protestbewegung gegen die fragliche Ärzteschaft in Gang bringen wollte. Doch dann stellte sich heraus, dass meine beste Freundin an einer unheilbaren Krankheit litt und nicht wegen Versäumnisse während einer medizinischen Intervention. Wenige Jahre später starb sie unter Qualen, und ich musste als Freund und Nachbar an der Abdankung ein paar Worte sprechen, was eine bemerkenswerte Wendung meines Verhältnisses zu Huguette zur Folge hatte. Statt uns aus den Augen zu verlieren, schrieben wir uns jetzt ab und zu Emails. Ihr war wichtig, mich das Neueste über die Söhne meiner verstorbenen Freundin wissen zu lassen, ungeachtet dessen, dass ich das Neueste aus direkter Quelle jeweils schon wusste. Aber ich liess ihr den vermeintlichen Wissensvorsprung und amüsierte mich über diese Art von Wettbewerb.

    Als Huguette erfuhr, dass ich als Dozent in China an Kunsthochschulen Workshops gab und Vorträge hielt, das war im Jahre 2009, bat sie mich, für ihre Zeitschrift Aufnahmen von schicken Ladeneinrichtungen und Schaufenstern heimzubringen. Ich unterzog mich diesem Auftrag mit mässigem Interesse und stellte bei meinen Recherchen lediglich fest, dass selbst die elegantesten Läden über hässliche Deckenleuchten verfügten. Klar, der Konsumentenblick richtet sich in erster Linie auf die angeleuchteten Produkte und nicht an die Decke, doch mir schien, dass diesem Teil des Raumes nicht die Bedeutung zukam, die ihm gebühren würde. Einzig BMW schien die Anstrengung wert, Deckenleuchten zu designen, die schnellen Verkehr suggerierten. Oder war es gar nicht BMW, sondern das im selben Raum sich breitmachende Kleidergeschäft mit den dämlichen Schaufensterpuppen, der Saison entsprechend eingekleidet in Winterjacken und wasserfesten Moonboots? - Meine Ausbeute an Bildern war so unbedeutend, so belanglos, dass ich nach meiner Rückkehr Huguette kein einziges Bild ablieferte. Erst kürzlich, beim Anschauen von altem Fotomaterial, habe ich ein paar Aufnahmen von damals wiederentdeckt, die mich jetzt zu diesem Text inspirieren. 

    Meine Geschichte mit Huguette endet so, dass sie einige Zeit später einen Rückfall verzeichnen musste und mich wissen liess, dass ihr jetzt nur noch eine beschränkte Anzahl von Monaten oder Jahren zur Verfügung stünden. Ich schrieb ihr zurück, dass mich diese Nachricht erschüttere. Und gleichzeitig teilte ich ihr mit, dass sie jetzt einen Weg gehe, der mir noch bevorstehen würde. Sie mache jetzt Erfahrungen, die mir noch verborgen blieben. Falls sie je Lust habe, sich mit mir auszutauschen und von ihren Erfahrungen zu berichten, so wäre ich dazu nicht nur bereit, nein, ich wäre sogar neugierig darauf, ihr mein Ohr leihen dürfen.

    So kam es, dass sie in den darauffolgenden Monaten zu verschiedenen Malen bei Sprüngli Chääschüechli bestellte, einen frischen Salat zubereitete, ein Fläschlein Roten auf den Tisch stellte und mich zu sich nach Hause zum Lunch einlud. Zum Dessert brachte ich eine Süssigkeit mit, auch vom Sprüngli. Wir kommentierten bei diesen Treffen die Vorlieben ihrer Katze, das Tun und Lassen der Söhne meiner verstorbenen, besten Freundin, etwas Schweizer Wirtschaftsgeschehen, und sie liess mich wissen, wer was aus dieser Wohnung bekommen wird, wenn sie einmal nicht mehr da sein wird. Ich gehörte nicht zu den Berücksichtigten. Doch über das Sterben als Moment der Wahrheit, als ultimativen Augenblick des Lebens, sprachen wir nie. - Nach dem Essen machte ich jeweils einen kleinen Zwischenhalt auf dem Grab meiner Mutter, das nur wenige hundert Meter von Huguettes Haus auf dem Friedhof Rehalp lag. 

    Aus einer Mischung aus Neugier und Langeweile hielt ich den Kontakt aufrecht und freute mich für sie, dass sie noch zwei grosse Reisen plante. Als Abschiedtour. Die eine führte nach Japan, wo sie in Kyoto ein paar Tempel besuchen wollte, und die andere Reise nach Brasilien. Ich verfolgte ihre Reisen auf Google Earth, fuhr auf dem Bildschirm den Strassen entlang, die sie zu befahren beabsichtigte, und verirrte mich prompt in den Gässchen der Dörfer im Hinterland von Saõ Paulo. 

    Irgendwann schrieb sie mir, jetzt gehe es dem Ende zu. Ihre kleine Reise nach Mallorca (ich wusste gar nicht, dass sie auch noch von dort Abschied nehmen wollte) sei ein Desaster gewesen. - Ich wollte nicht genau wissen, worin es bestand, signalisierte ihr aber, dass ich sie gerne noch einmal sehen möchte. Lange kam keine Antwort. Ich wusste nicht recht, was ich in einer solchen Situation zu tun hatte. Meine Mutter hätte wohl Blumen geschickt, und meine Grossmutter wäre wohl unangemeldet mit den Blumen vorbeigegangen. Ich jedoch erstarrte in lähmenden Überlegungen und wartete auf ein weiteres Zeichen von ihr. Wochen später schrieb sie mir, jetzt sei alles geregelt. Ihre Zeilen wirkten aufgeräumt, ja munter, und ich antwortete gleich mit der Frage, ob ich mich von ihr verabschieden dürfe. Sie schrieb zurück, sie hätte bis zum kommenden Montag noch allerhand zu tun, worauf ich den kommenden Dienstag vorschlug. Darauf antwortete sie: "Geht nicht. Ich bin dann schon weg."

    Ich weiss nicht, ob es bei einer derartigen Sachlage noch einen Kommentar braucht, einen Abgesang, einen letzten Seitenblick. Es war für mich einfach das erste Mal, dass jemand so präzise und so nüchtern seinen Tod anzukündigen vermochte. Huguette erwartete am Montagnachmittag die Leute von Exit. Das war's. Um 15 Uhr dreissig konnte sie ihren Harnisch entsorgen. Ihr gelebtes Leben wurde von niemandem mehr angefochten, auch von ihr selbst nicht.

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©Nikolaus Wyss

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Donnerstag, 11. Mai 2023

Bei laufendem Motor - Ein Selbstgespräch

Kaffee-Ausschank auf einer Durchgangsstrasse. Der Barrista ging schnell Pipi machen und bat mich, so lange auf den Jeep aufzupassen. Kunden kamen während meiner Präsenzzeit keine vorbei, dafür hupten aber viele Autos.

     Von Ferne betrachtet scheinst du hier in Kolumbien glücklich zu sein. Ist das richtig? Ist denn das Land so grossartig?

    Mein Glück zeigt sich im Fehlen von Depressionen und allfälligen, weiteren Sehnsüchten. Es zeigt sich in einer gewissen Zufriedenheit und Gelassenheit. Ist vielleicht auch altersbedingt. Welche Rolle in meinem Gemütszustand das Gastland dabei spielt, ist dadurch nicht abschliessend definiert. Es gibt so vieles, was mich hier aufregt, aufregen könnte. Was mich vor eventuellem Ärger rettet, ist die Distanz, die ich hier zu den Menschen, zum Land, zu den Verhältnissen habe. Ich bin hier nicht integriert, ich picke mir die Dinge heraus, die mir behagen, und davon gibt es viele, und ich versuche Dinge, die mir nicht behagen, zu ignorieren und ihnen, wenn immer möglich auszuweichen. Wobei ich mich manchmal schon äussere, sollte mich etwas über alle Massen stören. Doch ich habe keinen missionarischen Eifer, hier der Umgebung meinen Stempel aufzudrücken, auch wenn es mich manchmal juckt.

    Beispiel?

    Ich war kürzlich beim Arzt. Im Wartezimmer nahm sich eine reifere Frau heraus, ihre Beine samt Schuhen auf den gegenüberliegenden Stuhl zu legen. Sah lässig und relaxed aus. Sie sprach laut in ihr Handy, damit alle ein Ohr davon mitbekommen konnten. Als Gesamtperformance in meinen Augen ein absolutes No-Go. Das kommt in der Schweiz nur noch bei Jugendlichen vor, die der Umgebung beweisen wollen, dass sie auf Normen pfeifen, und dass Hygiene für sie nicht gilt. Hier in Bogotá allerdings muss nicht unbedingt demonstrativer Protest Ursache solchen Verhaltens sein. Es kann sich auch um Ignoranz handeln. Oder um mangelndes Vorstellungsvermögen, wie eigenes Agieren auf andere wirkt.

    Haben denn die anderen im Wartezimmer nicht moniert, dass dies nicht angehe?

    Nein. Alle blieben stumm. Nach ein paar Minuten richtete ich mich an diese Frau und teilte ihr mit, dass mich ihre Schuhe auf dem Stuhl stören würden. Es sei unhygienisch, sagte ich in meinem gebrochenen Spanisch, und im Übrigen würde mich ihre fernmündliche Unterhaltung nicht interessieren, worauf alle Wartenden mir zustimmend zunickten. Die Frau nahm darauf kommentarlos ihre Schuhe vom Stuhl und ging auf die Toilette, wo sie ihr Gespräch fortsetzte. Man konnte es noch durch die geschlossene Türe hören.

    Was folgt daraus?

    Dass offenbar viele nicht wagen, sich zu äussern, wenn sie etwas stört. Wahrscheinlich spielt da auch Angst vor den Konsequenzen einer kritischen Äusserung mit. Wir befinden uns schliesslich in einem Macho-Land. Alle wollen immer Recht behalten, weil sie sonst das Gesicht verlieren könnten. Es ist nicht ungewöhnlich, dass jemand, der sich infrage gestellt und kritisiert sieht, zu drohen beginnt und einen unschönen Streit anzettelt, um den Widersacher in die Schranken zu weisen. Womöglich zückt er sogar seine Waffe. Das hat in Kolumbien Tradition. Derjenige, der wagt, den Mund aufzumachen, wird schnell selbst zur Zielscheibe. Der vermeintlich Stärkere verteidigt sein Territorium und sein angebliches Recht wie Gorilla-Silberrücken ihre Grossfamilien. Selbst aufgebrachter Zwist wird gerne sofort und oft bis zum bitteren Ende ausgehandelt. Argumente spielen in solchen Situationen kaum mehr eine Rolle. Es geht um die physische Dominanz.

    So sind Angst und Schweigen alltägliche Faktoren, um einem Kräftemessen aus dem Weg zu gehen?

    Die Geschichte Kolumbiens basiert nicht auf gegenseitigem Vertrauen, sondern auf Drohungen, Gewalt, Krieg, und, im friedlicheren Falle, auf Aushandlungen, wobei es auch dort meistens eindeutige Profiteure und eindeutige Verlierer gibt.

     Die Überlebensstrategie vieler wird somit geprägt von Kuschen, Hinnehmen, Nichthinterfragen, weil die Konsequenzen einer Kritik tödlich sein können. 

    Wäre das auch eine Erklärung für den chaotischen Strassenverkehr?

    Zum Teil schon. Rücksicht wird hier anders interpretiert als bei uns in Europa und fängt erst dort an, wo unmittelbar Blechschaden am eigenen Auto droht. Doch bis dorthin wird gedrängelt und versucht, dem anderen zu zeigen, wer der Stärkere ist. Diese kleinen ungenierten Versuche der Vorteilsnahme geht nahtlos über in eine schon demonstrative Ignoranz.

    Wie das?

    Mir fällt auf, dass hier im Strassenverkehr Vorkommnisse aufeinandertreffen, die sich, nach meinem Verständnis, ausschliessen müssten. Alle Verkehrsteilnehmer sind doch daran interessiert, dass es vorwärts geht. Jedes Hindernis hemmt den Fluss, weil man dann ausweichen muss. So entsteht Stau, der niemandem dient. Bei Hindernissen wird gehupt, was das Zeug hält. - Doch meine Beobachtung geht dahin, dass es die das Hindernis verursachenden Automobilisten oder Motorradfahrer, die irgendwo anh den anderen im Weg zu stehen. Wenn es hochkommt, schaltet er noch das Warnblinklicht an, was schon als sehr rücksichtsvoll gilt. Ansonsten ignoriert er das Hupen geflissentlich. Das ist dann die Machtdemo des kleinen Mannes. Vielleicht verspürt er sogar Genuss, wenn die anderen Autos sich an ihm vorbeizudrängelschlängeln versuchen. Er richtet seinen Blick stur aufs Handy, als ob er nach etwas suchen würde. Dabei wartet er einfach, bis seine Geliebte, die er abholt, von der Arbeit kommt. Das kann eine halbe Stunde dauern. Bei laufendem Motor.

    Bei laufendem Motor?

    Ja, bei laufendem Motor. Alle jammern, dass die Benzin- und Dieselpreise steigen, doch fehlt wirklich fast allen das Verständnis, dass sie mit umweltfreundlicherem Verhalten viel Treibstoff sparen könnten. 

    Es scheint, dass die Kolumbianer auf den Umweltschutz pfeifen.

    Ich habe den Verdacht, es kommt ihnen erst gar nicht in den Sinn, dass der laufende Motor etwas mit Umweltverschmutzung zu tun haben könnte.  

    Gibt es denn keine Kampagnen für den Umweltschutz?

    Doch, doch. Gibt es. Der öffentliche Verkehr wird Schritt für Schritt auf Elektromobilität umgestellt. Die chinesische Autofabrik BYD mit ihren Elektro-Bussen erlebt hier das Geschäft ihres Lebens. Es gibt auch zweierlei Abfalleimer auf den Strassen. Der eine ist gedacht für Wiederverwertbares, der andere fürs Andere. Aber es gibt eben Unsicherheit darüber, was denn überhaupt wiederverwertbar ist und was nicht. So schmeisst man halt alles in den nächstliegenden Kübel, ob wiederverwertbar oder nicht. Bereits in unserem Haus wirft Danika alles ins Wiederverwertbare. Ob Plastik, Papier, Flaschen oder Dosen, während ich immer noch zwischen Pet und Nicht-Pet unterscheiden möchte und die Aludosen nicht zusammen zum Papier werfen würde. Nur gerade der Kaffeesatz und die Orangenschalen gelangen bei Danika ins Nichtwiederverwertbare, Dinge, die ich als Kompostmaterial bezeichnen würde, wofür aber hier in unserem Stadtteil kein Abfuhrprogramm existiert. Die fleissigsten Abfalltrenner übrigens sind die Menschen mit ihren grossen Schubkarren auf den Strassen, die den Verkehr auch massgeblich behindern. Immerhin legitimieren sie ihre Präsenz mit der akribischen Durchsuchung aller Abfallsäcke und mit der Vornahme einer individuellen Trennung der Inhalte. Den Rest lassen sie weit verstreut auf der Strasse liegen, bis nach Mitternacht der Müllwagen aufkreuzt und das Übriggelassene einsammelt.

    Alles paletti also?

    Für mein Gefühl nicht. Der übrig gebliebene, nicht getrennte Abfall wird ausserhalb der Stadt auf riesigen Müllhalden deponiert, die das dortige Grundwasser verschmutzen. Doch irgendwie lebt der Durchschnittskolumbianer noch in der Vorstellung, das Land sei gross genug, um unseliges Wirken verkraften zu können, worin es auch immer bestehen mag. Klar gibt es in der Presse öfters schockierende Berichte über verschmutzte Flüsse, vergiftete Fische, kontaminierte Luft. Auch das Wort "ambiente", d.h. Umwelt, ist hier kein Fremdwort. Doch so, wie man das Auto mit laufendem Motor inmitten der Strasse laufen lässt und sich nicht um Verkehrsbehinderung und Luftverpestung schert, so scheint auch die Umwelt etwas, das einen letztlich nichts angeht. Gerade in der Umwelt und im Verkehr kann man seinen Widerstand gegen staatliche Verordnungen und seinen Protest gegen Ungerechtigkeiten des Staates manifestieren, indem man Dinge ignoriert, die einer Allgemeinheit nutzen könnte, unterschiebe ich jetzt mal.

    Ignoranz und Protest als toxische Mischung sozusagen...

    ... und Mangel an Empathie, würde ich noch hinzufügen.

    Und das ist auszuhalten?

    Ich trage schon lange den Gedanken mit mir herum, ein Zettelchen zu drucken und dieses wartenden Automobilisten mit laufendem Motor zuzustecken, auf welchem Folgendes stehen würde: 

    - Ich gratuliere Ihnen. Ich hoffe, Sie haben Aktien bei der Ecopetrol. Mit dem Laufenlassen Ihres Motors tragen Sie erfolgreich dazu bei, dass die kolumbianische Oel-Industrie saftige Gewinne einfährt;

    - ich gratuliere Ihnen. Mit dem Laufenlassen Ihres Motors beweisen Sie, dass Ihnen die ständige Erhöhung der Benzinpreise nichts antut. Sie gehören zu den Vermögenden in diesem Lande;

    - ich gratuliere Ihnen. Mit dem Laufenlassen Ihres Motors unterstützen Sie die hiesigen Lungenstationen in den Spitälern, weil immer mehr Menschen wegen der Luftverschmutzung, die hauptsächlich durch Autoabgase verursacht wird, an Atemwegsbeschwerden leiden. Auch Lungenkrebs gehört dazu;

    - ich gratuliere Ihnen. Mit dem Laufenlassen Ihres Motors tragen Sie dazu bei, dass Bogotá in Zukunft weniger kalt sein wird, weil der ausgestossene CO2-Gehalt Ihres Autos die Atmosphäre aufheizt...

    Und so fort. Doch ich realisierte die Aktion  bis jetzt aus zwei Gründen nicht. Erstens läuft Ironie in diesem Land anders, als ich sie von der Schweiz her kenne. Und Ironie birgt immer die Gefahr, dass die anderen es anders verstehen, als man es selbst meint. Und zweitens bin ich des Spanischen zu wenig mächtig, um für dieses Unterfangen die besten Worte zu wählen. Ach ja, und ein drittes kommt mir noch in den Sinn. Ich möchte nicht unbedingt in eine Messerstecherei geraten oder wegen eines beleidigten Chauffeurs abgeknallt werden.  

    Ach, so funktioniert das bei euch?

    Mehr oder weniger und tendenziell schon... 

    Das mit der CO2-Neutralität kann in Kolumbien also noch etwas dauern. 

    Mehr als etwas.

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© Nikolaus Wyss

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